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Erste Filmkritiken zu ersten Kinoeröffnungen nach der Pandemie

UCI zieht Kinoöffnung vor, zeigt aber kein Arthouse-Kino wie "Aznavour by Charles", sondern nur Blockbuster wie "Godzilla vs King Kong" von Warner Bros.



Nach langen Diskussionen mit dem Verband der Kinobetreiber, dem HDF Kino e.V. und dem VdF – Verband der Filmverleiher e.V. (ag-verleih.de) , hatten sich die Filmtheater auf eine einheitliche Öffnungsstrategie zum 1. Juli 2021 geeinigt, unter anderem, um rechtzeitig wieder genügend Personal für einen geordneten Betrieb vorhalten zu können. Derzeit wäre dies wegen der Homeoffice-Strategien der Bundesregierung nur schwer möglich zu organisieren.

Im Juli sollen dann insgesamt 79 deutsche Erstaufführungen gestartet werden. 21 Filme starten allein am ersten Tag der offiziellen Kino-Wiederöffnungen nach der Zwangspause wegen der Corona-Krise, wie wir schon am 4. Juni 2021 geschrieben hatten.

Aber bereits am 27. Mai 2021 war das CINECITTA in Nürnberg als erstes deutsches Multiplex am wieder an den Start gegangen, allerdings ohne nennenswerte Neuvorstellungen, wie wir am 1. Juni 2021 schrieben.

Inzwischen haben einig andere Kinos im Bundesgebiet nachgezogen und auch die Verleiher wollen sich nach etlichen Verschiebungen nicht mehr an die abgesprochenen Regeln halten, sondern starten mit einigen Filmen schon am heutigen 17. Juni 2021, darunter das von uns nachfolgend besprochene, wunderbare Biopic über Charles Aznavour, das allerdings nicht in der UCI-Kinowelt laufen wird.

In Berlin hatte sich nur letzte Woche das Kino Central am Hackeschen Markt vorgewagt, und präsentiert auch nächste Woche noch als bisher einziges geöffnetes Arthouse-Indoor-Kino Berlins das Guantanamo Drama "The Mandalorien" nach dessen Premiere beim Berlinale Open-Air-Special.

Welche weiteren Arthouse-Kinos nach der Ankündigung der UCI-Kette ebenfalls am 17. Juni 2021 wieder den Seitensprung zum Öffnen zu wagen, bleibt ungewiss. Die Yorck Kinos Berlin mit ihrem Arthouse Programm sind jedenfalls erst im Juli am Start und das früher von UCI auch mit Arthouse-Programm betriebene Colosseum in Prenzlauer Berg an der Schönhauser Allee wurde verkauft und ist kein Kino mehr.

Da die Rahmenbedingungen für den Neustart der Kinos am 1. Juli 2021 noch nicht endgültig geklärt sind, halten sich auch andere Indiekinos wie z.B. das Berliner Filmkunst 66 in der Bleibtreustraße mit einer Öffnungsstrategie zurück.

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Die nachfolgend von Ulrike Schirm besprochene Doku "AZNAVOUR by Charles" ist in Berlin noch nicht am Start, sondern ist derzeit nur in Hamburg, Essen, Düsseldorf, Köln und München zu sehen.

"AZNAVOUR by CHARLES" - Orig. Titel: "Le regard de charles" Dokumentarfilm unter der Regie von Marc Di Domenico mit Charles Aznavour. Bundesweiter Kinostart nur in einigen bereits geöffneten Kinos ab 17. Juni 2021, oder auf französischem DVD-Import bei AMAZON. Hier der Trailer:



Fast 1000 Lieder hat Charles Aznavour geschrieben und in über 60 Filmen gespielt. Er wirkte mit in Filmen wie François Truffauts „Schießen Sie auf den Pianisten“ (1960), Claude Chabrols „Die verrückten Reichen“ (1976) oder Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“ (1979). Als Filmemacher kannte man ihn bisher indes nicht.

Erst mit 94 Jahren, kurz vor seinem Tod 2018, begann Charles Aznavour, das Material mit dem Filmemacher Marc di Domenico zu sichten - und der entschied, daraus einen Film zu machen. Kommentiert werden diese einzigartigen privaten Filmaufnahmen mit Zitaten aus den Memoiren Aznavours.

Entstanden ist ein poetischer Blick auf das Leben des legendären Chansonniers - der Film "Aznavour by Charles".

Ulrikes Filmkritik:

Dieser emotionale Film wäre vielleicht nie entstanden, wenn nicht Edith Piaf Aznavour 1948 eine Paillard-Bolex-Handkamera, die er sein Leben lang behielt, geschenkt hätte. Und weil sich der 1924 in Paris geborene Charles Aznavour hässlich fühlte, schenkte sie ihm auch noch eine Schönheitsoperation.

2017 besuchte der Regisseur Marc di Domenico den Chansonier Charles Aznavour in seinem Haus in der Provence. Er zeigte ihm seine Schätze unter anderem auch eine Kiste voller Filmrollen, die er in seinem Haus verwahrte.

„Ich habe gefilmt, ständig. Meine Filme habe ich im Gegensatz zu meinen Liedern, nie an die Öffentlichkeit gebracht. Ich filme, um mich den Menschen anzunähern“. 40 Stunden gedrehtes Leben kam zum Vorschein. Bei allen entscheidenden Erlebnissen und Begegnungen seines Lebens war die Kamera dabei. Er filmte seine Reisen, denn er war neugierig, die Welt zu sehen. Er filmte seine Freunde, seine Liebesbeziehungen und sogar seine Langeweile, denn bisher kannte man ihn nur als Sänger und Schauspieler.

Di Domenico war begeistert und berührt. Beim Sichten des Materials fiel ihm auf, dass er vor allem Menschen filmte, die Lasten tragen, Karren ziehen, die Welt der Handwerker, der sogenannten kleinen Leute. Unbewusst verfolgten ihn die Bilder seiner Kindheit, von seinem Vater, der seinen Händlerkarren hinter sich her ziehen musste. Alles was er in seinen Büchern, in Interviews oder in Gesprächen erzählte, hat er tatsächlich auch gefilmt. Seine Bilder waren regelrecht komponiert. Sie zeigen sein vergangenes Leben. Er bereist das Land seines Vaters, Georgien und das Land seiner Mutter, die aus der Türkei stammt. Er spricht darüber, wie es gewesen wäre, wenn er auch dort geboren wäre. Seine Reflektionen zu seinen Bildern sind einfühlsam, tiefgründig und auch amüsant. Er gibt ganz viel von sich preis und genießt die Sorglosigkeit seiner Reisen. Die traurigen Momente seines Lebens lässt er nicht aus und findet herzergreifende poetische Worte dafür. Man spürt, dass sein Mitgefühl den Menschen gilt, denen es nicht so gut geht.

Der besondere Reiz dieses Films besteht darin, dass die Bilder mit persönlichen Erinnerungen des 2018 verstorbenen Künstlers unterlegt wurden. Als Basis für den Text dienten die fünf Biografien Aznavours. Der Schauspieler Romain Duris spricht den Voiceover-Text und ist die „Stimme“ Aznavours, abgesegnet von Aznavours Sohn Mischa, der keinen Unterschied zu der Stimme seines Vaters feststellt. Als er den fertigen Film sah, war er sehr bewegt. Natürlich hat Di Domenico auch Chansons des kleinen Franko-Armeniers mit der besonderen Stimme, der es 1963 geschafft hat in der Carnegie Hall aufzutreten, in der berührenden Reise seines Lebens, nicht weggelassen. Nur mein Lieblingslied „Tomber la neige“ ist nicht dabei.

Ulrike Schirm


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Bei der zweiten Filmbesprechung geht es eigentlich um eine digitale Vorabpremiere zur aktuellen Queerfilmnacht online, denn im Kino startet der Film erst am 1. Juli 2021 und das physische Queerfilmfestival musste wegen der Corona-Pandemie ausfallen.



"BEYTO" Schwules Liebesdrama aus der Schweiz von Gitta Gsell über eine jungen Schwimmer türkischer Abstammung. Mit Burak Ates, Dimitri Stapfer, Ecem Aydin u.a. ab 1 Juli 2021 im Kino und ab sofort online im VoD-Stream auf Vimeo für 9,90 €.

Hier Trailer und Link zum VoD-Stream:



Ulrikes VoD-Kritik:

Beyto (Burak Ates) ist als sechs-jähriger mit seiner türkischen Familie in die Schweiz gekommen.

Schnell hat er die Sprache gelernt, in der Schule gehört er zu den Besten, arbeitet in einem Informatikbüro, hilft seinen Eltern in deren Imbissbude und ist ein begeisterter Schwimmer. Mit seinem jungen Trainer Mike, trainiert er eifrig für die Schwimmmeisterschaften. Er ist das einzige Kind seiner Eltern, auf dem ihre ganze Hoffnung ruht. Was sie nicht wissen ist, dass Beyto schwul ist und sich heimlich mit seinem Trainer (Mike Dimitri Stapfer) trifft. Aus der Sicht von Mike stellt sich alles ganz einfach dar. Er soll es seinen Eltern sagen und gut ist es. So einfach ist es aber nicht.

„Bei uns in der Türkei heißt es: Schwule werden vom Teufel verführt.“

Verwandte erzählen seiner Mutter (Beren Tuna) dass sie Beyto auf einer schwulen Demo gesehen haben, wie er einen Jungen küsste. Seine Eltern sind entsetzt. Sie schmieden einen Plan, in dem sie bestimmen, dass er mit ihnen in die Türkei fährt, um seine Großmutter noch einmal zu sehen, da sie vielleicht nicht mehr lange lebt und Seher, das Mädchen, dass er schon seit seiner Kindheit kennt.

In der Türkei angekommen, wird alles für die Hochzeit mit Seher (Ecem Aydin) vorbereitet. Das ganze Dorf weiß davon. Beyto fühlt sich hereingelegt. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen.

Daraufhin ohrfeigt ihn sein Vater (Serkan Tastemur). Es ist das erste Mal, dass er ihn schlägt. Es geht nur noch darum, was Beyto seinen Eltern antut. Tradition und Ehre müssen gewahrt bleiben.

Seine Mutter macht ihm klar, dass auch sie damals verheiratet wurde. Er soll erst einmal Seher heiraten, sie sei sehr verständnisvoll und er könne dann machen, was er will. Es zähle nichts so sehr wie die Familie. Schaue uns an. Du bist stark wie ein Löwe.

Die Hochzeitsvorbereitungen sind im vollen Gange. Das Paar unterschreibt die Heiratsurkunde. Das ganze Dorf tanzt und feiert. Alle strahlen, nur Beyto nicht. Das Brautgemach ist gerichtet.

Auf einem Spaziergang am nächsten Tag, gesteht er Seher, dass er jemanden anderes liebt.

„Eine Frau aus dem Westen? Was hat sie, was ich nicht habe?“ fragt sie. Er zeigt ihr ein Foto von sich und Mike. Den Tränen nahe, erklärt sie ihm, dass sie zum Gespött der Leute werde, wenn er sie hier zurücklässt. Beyto ergreift die Flucht. Auf dem Flugplatz lässt er seine Maschine sausen.

Seine Verantwortung für Seher hat gesiegt. Die Familie, mit Schwiegertochter Seher, kehrt zurück in die Schweiz.

Mike ist außer sich. Er fühlt sich betrogen. Sein Traum, Beyto bei den Schwimmmeisterschaften in Leipzig zu trainieren, scheint ausgeträumt. Auch Seher fühlt sich unglücklich in diesem fremden Land.

In diesem Liebesdrama der Schweizerin Gitta Gsell wird anschaulich gezeigt, wie Beyto zwischen Gegenwart und Tradition hin-und hergerissen ist und alle Beteiligten in ein immenses Gefühlschaos geraten.

Sie thematisiert dieses enorme Spannungsfeld ohne Schuldzuweisungen. Verwirrung und Enttäuschung überschatten das Leben von Beyto, seinen Eltern, Mike und Seher.

Am Ende entscheidet sich Gsell für eine Lösung, die Hoffnung macht. Vielleicht wird sie eines Tages zur Normalität. Erzählt nach dem Roman „Hochzeitsflug“ von Yusuf Yesilös.

Ulrike Schirm


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