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Sechs Filmkritiken zur 44 + 45 KW 2023

Besprechungen zu "Dumb Money", "Vermeer", "Tótem", "Für Immer", "Joyland" und "Ein ganzes Leben".



"DUMB MONEY - Schnelles Geld" Biopic Komödie von Craig Gillespie (USA, 2023; 105 Min.) Mit Paul Dano, Vincent D'Onofrio, Pete Davidson u.a. bereits seit 2. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Die Zeitspanne zwischen realen Ereignissen und ihrer fiktionalen Verfilmung wird gefühlt immer kürzer. Ein gewisser Abstand ermöglicht Reflektion. Die Nachrichten über den Hype rund um die GameStop-Aktien überschlugen sich 2021 und haben sich kaum gelegt, da bringt der australische Regisseur Craig Gillespie ("I, Tonya") eine biographisch-historische Aufarbeitung ins Kino. Vorlage war ein Sachbuch mit dem griffigen Titel "The Antisocial Network: The GameStop Short Squeeze and the Ragtag Group of Amateur Traders That Brought Wall Street to Its Knees" von Ben Mezrich.

Mezrich hatte übrigens auch ein Sachbuch über Facebook verfasst, das ebenfalls verfilmt worden ist. David Fincher machte daraus "The Social Network". Zurück zu Gillespie, der hatte einen der jungen Kleinanleger, die von Finanzhaien ob ihrer vermeintlichen Naivität schlicht als "Dumb Money" bezeichnet wurden, sprich einen Sohn, während der Pandemie-Zeit im Haus und kriegte die Entwicklung hautnah und in Echtzeit mit.

Muss man denn über die Finanzwelt Bescheid wissen? All die Fachbegriffe wie Leerverkäufe kennen? Nein. "Dumb Money" erklärt, was man braucht, und ist dabei auch nicht ganz so stilistisch überbordend wie dem sehr ähnlichen "The Big Short" (Regie Adam McKay, 2015), der die Gier der US-Finanzwelt exaltierter vorführte, damit noch pointierter den Finger in die Wunde legte, aber keine Identifikationsfigur hatte.

Gillespie und die Drehbuchautorinnen Lauren Schuker Blum und Rebecca Angelo machen keinen Hehl daraus, welcher Seite der Geschichte sie die Daumen drücken. Ja, "Dumb Money" ist eine David gegen Goliath-Story. Während die reichen Finanzjongleure mit gerade noch legalen Tricks noch reicher werden, aus Geld, Geld machen, gehen alle anderen finanziell baden. Gerade die Covid-Pandemie zeigte eindrücklich, wer an Krisen gewinnt und wer nicht. "Dumb Money" ist somit nicht nur ein Film über das Gebaren an der Börse, sondern ein erstaunlich präzises Bild über die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen bzw. das Fehlen der Auswirkungen in den zwei diametral entgegengesetzten Akteursgruppen.

Im Mittelpunkt steht Keith Gill, wunderbar gespielt von Paul Dano, der im Keller seines Hauses als Finanz-Influencer sich für die Aktien von Gamestop begeistert. Dabei ist die Ladenkette für Computerspiele ziemlich am Ende. So auf dem letzten Meter wollen die großen Akteure, zum Beispiel gespielt von Seth Rogen und Nick Offerman, mit deren Pleite Geld machen. Ihnen kommt gar nicht zupass, dass der Wert der Aktien plötzlich steigt, weil irgendein Nerd mit Stirnband und Katzen-T-Shirt sein Erspartes da reinsteckt und dafür überzeugend brennt. Und der Aktienwert steigt und steigt. Was wie ein kurzfristiger Trend wirkt, wie ein Spiel, wird richtig ernst, als all die kleinen Anleger, die über eine Schnittstelle wie der Robinhood-App, die einen leichten und kostengünstigen Zugang gewährte, und einer Plattform wie Reddit, wo diese sich vernetzen konnten, erkennen, welche Macht sie im Verbund haben. Sie können die mit dem großen Geld mal so richtig bluten lassen.

"Dumb Money" stellt uns ein paar dieser Kleinanleger exemplarisch vor. Studentinnen, die ihre Studiengebühren bezahlen müssen, eine Krankenpflegerin, die in Pandemie-Zeiten ihr Letztes gibt und ob ihrer horrenden Schulden sich nicht einmal eine Verschnaufpause leisten kann. Kleine Leute, für die jeder noch so kleine Gewinn viel bedeutet und die ihre Aktien trotzdem hielten. Gillespie weiß auch die Lockdown-Zeit visuell und emotional einzufangen. Das war eine Zeit, in der Bewegung höchstens auf Computerbildschirmen stattfand. Eine Zeit, in der erwachsene Kinder in ihre Elternhäuser zurückkehren mussten, weil sie ihre Jobs verloren haben. Eine Zeit, in der die Diskrepanz zwischen der Enge eines Kellers und Gärten mit Swimming-Pools die Ungerechtigkeiten noch deutlicher sichtbar machte.

Jetzt wäre die Geschichte, die sich erst 2021 zugetragen hat, fast nur noch eine Fußnote. "Dumb Money" überdramatisiert die Ereignisse nicht und bleibt wohl ziemlich nahe dran an den wahren Abläufen. Der Film, der zum Großteil von einem hervorragenden Darstellenden-Ensemble lebt, nimmt die Wendungen mit auf. Mit fiesen Moves wollte man die Kraft der Kleinanleger brechen. Gillespie lässt den durchaus auch humorigen Film zum emotionalen Drama werden, bei dem das Publikum sicherlich zwischen Genugtuung und Frustration, Schadenfreude und Wut hin und her schwanken wird.

Elisabeth Nagy


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"VERMEER - Reise ins Licht" Dokumentation von Suzanne Raes (Niederlande, 2023; 79 Min.) Ab 9. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Wer Museumsfilme mag, sollte sich "Vermeer - Reise in Licht" nicht entgehen lassen. Wer es nicht in diese ultimative Vermeer-Ausstellung in Amsterdam dieses Jahr geschafft hat, sollte sich mit dieser Dokumentation trösten. Danach möchte man die einzelnen Häuser, die Bilder von Vermeer ihr Eigen nennen, zu gerne abklappern. Die Kuratoren der Ausstellung haben genau das gemacht. Die Planung war, einen möglichst umfassenden Katalog an Werken des Künstlers zusammenzubringen. Dafür musste das Team bei den anderen Museen anklopfen und dann verhandeln. Diplomatisches Geschick war gefragt, aber nicht immer gegeben. Suzanne Raes' Dokumentation ist quasi ein "Making-of" dieser Ausstellung.

Sie ermöglicht es dem Publikum einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Durchaus mit einem humorvollen Blick. Durchweg neugierig und mitunter richtig spannend. Mit ihrer Hilfe lernen wir die Arbeit der Kuratoren kennen. Wie wählt man Werke aus? Unter welchen Aspekten soll die Auswahl behandelt werden? Was macht man, wenn man einzelne Gemälde nicht bekommt? Bereits dieser Aspekt der Ausstellungsvorbereitung ist faszinierend. Bei Jan Vermeer van Delft (1632 - 1675) kommt nun erschwerend hinzu, dass man, obwohl nur etwa 37 Bilder bekannt sind, ihm nicht alle mit endgültiger Sicherheit zuschreibbar sind.

Darum machte man sich daran, die Werke auf ihre Echtheit hin auf den Prüfstand zu stellen. Die Fragestellung ist, unter anderem: was macht einen Vermeer zu einem Vermeer? Der Film will sich dem Künstler also über seine Kunst annähern. An biografischen Informationen gibt es ja nicht viel. Erkenntnisse über Faltenwürfe der Gewänder sind einfacher zu gewinnen. Dabei ist all das nur eine Perspektive, denn die Ausstellung soll nicht nur den Künstler erklären, sondern neue Aspekte finden und vermitteln. Denn letzten Endes ist eine gute Ausstellung eine, die das Publikum dazu bringt, mit neuen Augen zu sehen.

Elisabeth Nagy
(vom 30. April 2023, anlässlich des DOK.fest München)


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"TÓTEM" mexikanisches Drama von Lila Avilés aus der Sicht eines 7-jährigen Mädchen, das im Wettbewerb der 73. Berlinale lief. (Mexiko / Dänemark / Frankreich, 2023; 95 Min.) Mit Naíma Sentíes, Montserrat Marañon, Marisol Gasé u.a. ab 9. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Eine mexikanische Großfamilie bereitet den 27. Geburtstag des todkranken Malers Tona vor. Die siebenjährige Sol (Naíma Sentís) und ihre Mutter Lucia (Iazua Larios) machen sich langsam auf den Weg zum Elternhaus von Sols Vater Tona (Mateo Garcia). Da Lucia noch arbeiten muss, bleibt Sol ohne sie im Haus, in dem es sehr geschäftig zugeht. Die kleine Sol beobachtet das hektische Treiben.

Jeder der Familienangehörigen verrichtet eine spezielle Aufgabe. Essen wird gekocht, Kuchen wird gebacken, Tische werden gedeckt und böse Geister werden ausgetrieben. Es wird wahrscheinlich sein letzter Geburtstag sein. Alle geben sich große Mühe, den Tag so gut wie möglich zu gestalten. Es ist auch das Haus, in dem ihr krebskranker Vater gepflegt wird. Immer wieder fragt das Mädchen, wann es seinen Vater endlich sehen darf. Die Antwort ist immer dieselbe: „Später, er muss sich noch ausruhen, bevor die Feier beginnt“.

In "Tótem" von Lila Avilés dreht sich alles um den Todgeweihten, erzählt aus der Perspektive der kleinen Tochter. Während gewerkelt, erzählt und die Gemälde des kranken Malers abgehängt werden, auf einige hat die kleine Sol noch ein paar Schnecken gesetzt, quält sich ihr Vater in der oberen Etage, mit Hilfe seiner Pflegekraft, um einigermaßen passabel zur Feier erscheinen zu können, obwohl er kaum noch Kraft hat.

Obwohl ein Riesentrubel im Haus herrscht, ist die kleine Sol allein mit ihren Gedanken. Ihre Beschäftigung gilt den Tieren, den Schnecken, dem Papagei und einem Goldfisch den sie von ihrem Onkel geschenkt bekommen hat.

Zwischendrin spielen sich auch kleine, unvorhergesehene Dramen ab, sowie in ganz normalen Familien. Schon Im Vorfeld war allen klar, die Feier, die draußen stattfindet, so fröhlich wie irgend möglich zu gestalten.

Sol beobachtet das Partyspektakel von oben. Alle warten gespannt auf Tona, der seiner Tochter, als sie endlich in sein Zimmer durfte, unter Schmerzen noch ein Bild gemalt hat. Sol stellt traurig fest, dass er ganz dünn geworden ist. Da die Familie nicht viel Geld besitzt und die Medikamente für Tona sehr teuer sind, veranstalten sie eine Spendenaktion. Sol hat eine Show für ihren Vater einstudiert. Von seinem Vater bekommt Tona einen sehr lang gepflegten Bonsai-Baum geschenkt. Pflanzen und Tiere spielen in der mexikanischen Tradition eine große Rolle. Obwohl es ein trauriger Tag ist, ist er laut, es wird gelacht und gefeiert und dem Leben gehuldigt. Der Tod scheint selbstverständlich zu sein. Auch vor besonderen Ritualen und spirituellen Gegebenheiten, die das Leben stärken sollen, wird nicht Halt gemacht. "Tótem" ist ein Film, der uns zeigt, dass man auch ganz anders mit dem Tod umgehen kann, als wir es hier gewohnt sind. Schließlich gehört er zu unserem letzten Abenteuer.

Erzählt wird keine Geschichte, sondern eine Momentaufnahme.

Ulrike Schirm


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"FÜR IMMER - Die Geschichte einer Liebe" Dokumentation von Pia Lenz (Deutschland, 2023; 87 Min.) Mit Nina Hoss. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Der Dokumentarfilm "Für Immer" hat ein sehr schlichtes Plakat. Zwei Menschen sind darauf in Nahaufnahme zu sehen. Sie und er. Es zeigt sowohl, dass die Beiden sich stützen, als auch dass sich Beide eine Unabhängigkeit bewahrt haben. Vertrautheit liest man aus der Pose heraus, doch gleichzeitig wirkt es, als hätten beide etwas Eigenes dazu zu sagen. Vielleicht ist das auch nur eine Interpretation. Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Pia Lenz, für "Alles gut – Ankommen in Deutschland" bekam sie 2018 den Grimme-Preis, hat die Beiden, Eva und Dieter, eine ganze Wegstrecke lang begleitet.

Kennen gelernt hatte die Regisseurin die Beiden über eine Zeitungsanzeige. Die Idee zu einer filmischen Betrachtung einer Beziehung im Alter, die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Fürsorge und der Beschäftigung mit dem Abschied und dem Loslassen besteht, hatte sie aber schon, als sie ihre Großeltern betrachten konnte. Bei Eva und Dieter war eine gesunde Distanz vorhanden und gleichzeitig konnte sie sich, da sie mit nur minimaler Ausstattung zu arbeiten pflegt und folglich die Kamera weitgehend selbst führt und auch auf gesetztes Licht verzichtet, auf die kleinen Momente, auf Gesten, auf Zwischentöne konzentrieren.

Eva Simon, geborene Rose und Lehrerin von Beruf, führte seit früher Jugend Tagebuch, das zum Teil auch veröffentlicht worden ist. Den späteren Architekten Dieter Simon lernte sie 1952 kennen. Er war damals 18, sie war 16. Die Beiden wurden ein Paar. Sie heirateten ein paar Jahre später, sie bekamen Kinder. Es wurde nicht alles gut. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass eine Beziehung nur von der Liebe gehalten wird. Dabei mag man Schicksalsschläge und Umorientierungen kaum auf die Waage legen. Dass die Beiden zusammengeblieben sind, mag sogar erstaunen. Ihre Tagebücher gab Eva der Regisseurin erst im Laufe der Begegnung. Wahrscheinlich sahen Eva und Dieter auch die Chance sich vor einer Kamera zu öffnen, auf dass etwas von ihnen bleiben möge. Gerne wären sie den Weg bis zum Schluss gemeinsam gegangen. Leider hatte das Schicksal andere Pläne. Pia Lenz wählte sorgfältig aus, was und wie sie die Beiden je für sich und gemeinsam mit der Kamera aufnimmt. Ihr Ansatz ist dezent und gleichzeitig neugierig. Das Ehepaar begegnete ihr offen und ohne die unschönen Flecken in der Vergangenheit zu verdecken.

Das geschriebene Wort fiel Eva Simon wohl nicht schwer. Ein paar Jahre lang verfasste sie sogar Drehbücher für den deutschen Ableger der "Sesamstraße", wie man auf ihrer Webseite, der unter ihrem Mädchennamen immer noch aufrufbar ist, erfährt. Manchmal fehlen jedoch die Worte. Dann greift Lenz auf die Tagebücher zurück, aus denen Nina Hoss aus dem Off Auszüge einspricht. Pia Lenz' Kamera zeigt derweil die Vertrautheit im Zusammenleben. Da braucht es auch keine Erzählung, sondern nur ihren aufmerksamen Blick.

Der Film ist eine Art des Abschiednehmens. Eva, die solange sie nur konnte, weiter Tagebuch führte, wurde schwächer. Die Besuche der Regisseurin wohl seltener. Auf das Drumherum, was das Altern mit sich bringt, insbesondere Pflegekräfte, verzichtet der Dokumentarfilm. Dass sie den fertigen Film nie zu dritt gemeinsam würden anschauen können, wussten alle drei, Eva und Dieter und Pia. Der Tod wird hier nicht ausgeklammert. Die Beschäftigung mit dem Leben, mit dem, was bleibt und dem was dann ist, nimmt die Regisseurin ernst und doch vermittelt sie es auf eine sehr berührende Weise.

Elisabeth Nagy


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"JOYLAND" LGBTQ-Drama von Saim Sadiq (Pakistan / USA, 2022; 126 Min.) Mit Ali Junejo, Rasti Farooq, Alina Khan u.a. ab 9. November 2023 in ausgesuchten Kinos. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

"Joyland" erzählt von einer pakistanischen Großfamilie. Da gibt es den alten Patriarchen, der allerdings im Rollstuhl sitzt und auf Hilfe angewiesen ist. Dieser hat zwei Söhne. Der eine, Kaleem (Sohail Sameer), wird, als die Handlung einsetzt, zum vierten Mal Vater. Seine Frau Nucchi (Sarwat Gilani) bringt ein Mädchen zur Welt. Schon wieder ein Mädchen. Dabei braucht es doch einen männlichen Erben. Der jüngere Sohn, Haider (Ali Junejo), ist zwar mit Mumtaz (Rasti Farooq) verheiratet, aber er hat noch keine Kinder. Haider steht als Identifikationsfigur im Mittelpunkt der Handlung. Denn er ist verheiratet und doch verliebt er sich in eine andere. Als sich seine gesellschaftliche Rolle ändert, ändert sich ein ganzes Gefüge.

Der pakistanische Regisseur Saim Sadiq hat in seinem Langspielfilmdebüt, welches im letzten Jahr in Cannes Weltpremiere hatte, ein ganzes Ensemble vielschichtiger Figuren zusammengebracht. Indem er die Beziehung zwischen den Einzelnen aufschlüsselt und ihre Interaktionen behandelt, gibt er Einblick, wie groß die Bürde des Patriarchats auf den Akteuren lastet. Die tradierten Werte, die überkommenen Strukturen, machen hier allen zu schaffen. Sadiq zeichnet die Charaktere so authentisch und unmittelbar, dass selbst wenn uns in Mitteleuropa der Alltag in Lahore, wo der Film spielt, fremd ist, wir instinktiv die Nöte der Familienmitglieder begreifen, wir mit ihnen mitfühlen und von ihnen berührt werden.

Haider gilt sowohl in seiner Familie als auch in der Gemeinschaft als verweichlichter Mann. Er ist seit langem arbeitslos, während seine Frau erfolgreich als Make-Up-Artist den Unterhalt verdient. Haushaltspflichten liegen Mumtaz nicht, ihre Arbeit gibt ihr bisher Freiheiten. Doch Haider wird gedrängt, endlich einen Job anzunehmen. Als er tatsächlich Arbeit findet, spricht der Patriarch der Famile, Vater Aman (Salmaan Peerzada), ein Machtwort. Haider, der bis dahin den Haushalt geführt und sich um die Nichten und den Vater gekümmert hatte, gehe nun arbeiten. Mumtaz solle darum fortan im Haushalt ihre Erfüllung finden. Was keiner in der Familie weiß, ist, welche Art Arbeit Haider gefunden hat. Es ist jetzt kein Spoiler zu verraten, dass er in einem queeren Tanzclub im Background tanzen wird. Die Transfrau Biba (Alina Khan), in deren Ensemble er tanzen soll, unterstützt ihn, soweit ihr das möglich ist. Haider fühlt sich zu ihr, und das ist für ihn ein moralisches Dilemma, hingezogen.

Das Drehbuch von Sadig und Maggie Briggs gibt den Figuren einen kurzen Blick auf die Freiheiten, nach denen sich jede und jeder sehnt, und zeigt dann doch auf, wie sehr diese außer Reichweite liegen. "Joyland" ist somit eine kritische Parabel auf die Gesellschaft Pakistans. Darüber hinaus brennen sich, vor allem durch die wunderbare Kameraführung von Joe Saade und der Montage von Sadiq und Jasmin Tenucci, zahlreiche kleine Szenen in die Erinnerung ein. Der Film wirkt nach.

In Cannes wurde "Joyland" hoch gelobt. Das Debüt gewann in der Sektion »Un certain regard« den Jurypreis und darüber hinaus die "Queer Palm". Nach der Premiere wanderte der Film von Festival zu Festival. Das US-Branchenmagazin Variety erkor seinen jungen Regisseur, Saim Sadiq, der sein Filmstudium an der Columbia University, NYC, abgeschlossen hat, zu einem der "10 Directors to Watch" für 2023. Pakistan wählte "Joyland", nachdem man den Film zuerst als Angriff auf nationale Werte verboten hatte, sogar als seinen Beitrag für den internationalen Oscar, wo er es bis auf die Shortlist schaffte. In der pakistanischen Provinz Punjab, dessen historische Hauptstadt Lahore ist, darf der Film allerdings weiterhin nicht gezeigt werden.

Für Sadiq spricht, dass er es bereits in den ersten Szenen schafft, das Publikum in ein kompliziertes Familiengefüge hineinzuversetzen. Er wertet seine Figuren nicht, er überlässt es den Zuschauenden, die Fallstricke zu erkennen. Er arbeitet subtil die Restriktionen der pakistanischen Gesellschaft heraus und die ablehnende Rezeption seines Heimatlandes zeigt nur, wie sehr diese nottut. Man erkennt tatsächlich, welche Werte die Figuren einengen, welche Freiheiten sie sich erkämpfen müssen und wie schwer das mitunter ist.

Elisabeth Nagy


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"EIN GANZES LEBEN" Historiendrama von Hans Steinbichler, als Adaption des gleichnamigen Romans von Robert Seethaler. (Deutschland / Österreich, 2023; 116 Min.) Mit Stefan Gorski, August Zirner, Ivan Gustafik, Rober Stadlober u.a. ab 9. November 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Ein Waisenjunge, Andreas Egger, etwa 5-7 Jahre alt (Ivan Gustafik), so genau weiß das niemand, wird mit einer Pferdekutsche in ein österreichisches Alpental, zu der Familie des Bauern Kranzstocker (Andreas Lust) gebracht. Während alle nach dem Beten anfangen zu essen, muss sich der verstörte Junge abseits hinsetzen. Dann wird ihm ein Bett zugewiesen, damit er am nächsten Tag er in der Küche helfen kann. Weil er nicht spricht, traktiert der Bauer den Jungen mit Peitschenhieben und benutzt den Bankert als billigen Hilfsknecht.

Andreas ist erwachsen, als die alte Ahnl (Marianne Sägebricht) stirbt. Sie war die Einzige, die ihn fürsorglich behandelt hat, weshalb er traurig ist. Er fasst seinen ganzen Mut zusammen und droht dem Bauern an, ihn umzubringen, wenn er ihn noch einmal schlägt.

Endlich haut er ab und schließt sich einem Arbeitstrupp an, der eine der ersten mit Strom betriebenen Seilbahnen baut, mit der eine neue Zeit anbrechen soll. Mit dem Strom kommt auch Licht ins Tal. Um Platz zu machen für den Seilbahnbau, müssen ganz viele Bäume gefällt werden. Es ist keine leichte Arbeit, die Andreas als Tagelöhner verrichten muss, besonders weil er hinkt, denn der Bauer hatte ihm seinerzeit durch zu harte Prügel den Oberschenkel gebrochen.

Andreas lernt Marie (Julia Franz Richter) kennen, die die Liebe seines Lebens wird. Sie arbeitet in einem Gasthaus. Der Wirt (Robert Stadlober): „Marie ist nicht für die Liebe hier, sondern für die Arbeit“. Marie und Andreas lassen sich davon nicht beirren. Die beiden heiraten. Er legt einen Gemüsegarten an und erklärt ihr, dass er das Holzhaus, das auf einem Berg gelegen ist, wegen der Feuchtigkeit noch streichen will. Außerdem muss die Küche noch richtig eingerichtet werden.

Einen Stall wird er nicht bauen. Auf keinen Fall will er Bauer werden. Er verspricht, sie zu beschützen und zu versorgen. Zum ersten Mal verspürt Andreas so etwas wie Glück. Beide genießen die herrliche Natur mit dem weitläufigen Blick. Um aber etwas mehr Geld zu verdienen, muss er sich für jeden Groschen, den Hintern aufreißen. Und weil die Arbeit sehr gefährlich ist, gibt es einige, die ihr Leben bei dieser Arbeit verloren haben. 17 Seilbahnen wurden gebaut, aber es ist noch immer nicht Schluss. Und wieder verunglückt jemand.

Egal, es wird trotzdem die Eröffnung ausgelassen gefeiert und dem Herrgott gedankt. Auch Andreas und Marie freuen sich über die Holzkabinen, die demnächst hier fahren werden, denn Marie ist schwanger. Wieviel Leid kann ein Mensch aushalten, ohne durchzudrehen? Auch Marie wird er verlieren.

Wegen des Zweiten Weltkrieges wird nicht weiter gebaut. Auch Andreas Egger wird eingezogen. Er soll den Osten befreien, Sprenglöcher vorbereiten, bis die Ablösung kommt - doch landet bei Eiseskälte in russischer Gefangenschaft.

Es hat etwas Berührendes, wenn Andreas der verstorbenen Marie Briefe schreibt, die er daheim in ihr Grab legt. Am Ende findet er seinen verwundeten Peiniger wieder, der ihn bittet, ihn zu erlösen.

Andreas Egger arbeitet jetzt eine Zeit lang als Bauer, was er nie wollte. Im hohen Alter gespielt von August Zirner, hätte noch so etwas wie Glück gefunden. Er bleibt aber allein und zieht sich zurück in die Berge, wo er an das denkt, was war und an das, was hätte sein können. Er lässt noch einmal sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen, es wird Frühling und er hinkt in eine unbekannte Zukunft. Er weiß nicht, wo er hergekommen ist und wo er hingehen wird. Der Tod macht ihm keine Angst. Ihm fällt der alte Mann ein, den er vor langer Zeit mal Huckepack aus einer Hütte getragen hat, mit dem er gestürzt ist und der plötzlich verschwunden war und der damals in einem Alter war, indem Egger jetzt ist. Er sprach vom Tod, der eine kalte Frau sei. Den wunderschönen Blick auf die Berge, kann ihm jetzt keiner mehr nehmen. Vieles um ihn herum, ist ihm fremd geworden.

Dieses traurige Schicksal hat Regisseur Hans Steinbichler („Das Tagebuch der Anne Frank“) offensichtlich so stark bewegt, dass er Robert Seethalers archaischen Jahrhundertroman „Ein ganzes Leben“, der 2014 eine literarische Sensation war, unter demselben Titel verfilmt hat. Eine berührende Adaption, die das glücklose Leben eines Mannes in einem österreichischen Alpendorf im 20. Jahrhundert schildert.

Ulrike Schirm


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