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Spiegel feindete Ulrich Seidl wegen »SPARTA« an - Unsere Filmkritiken 20. KW

Schon vor dem Pranger-Journalismus gegen Til Schweiger, wetterte »DER SPIEGEL« gegen Ulrich Seidl wegen seines Films "SPARTA".



In unserem Artikel vom 18. Mai 2023, zur Medienberichterstattung über Til Schweiger, haben wir vorgestern einen Nachtrag von Regisseur und Schauspieler Detlev Buck veröffentlicht, der die derzeitige Hysterie-Welle als zu viel stark übertrieben empfindet, zumal es auch schon im letzten Jahr Anfeindungen gegen den österreichischen Regisseur Ulrich Seidl gab, die vom Magazin "Der Spiegel" lanciert worden waren.

„Der Spiegel“ hatte 2022 berichtet, dass bei den Dreharbeiten zum Film „Sparta“ vom österreichischen Regisseur Seidl, Kinder in Rumänien mit Szenen rund um Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit konfrontiert worden seien.

Daraufhin übte der österreichische Verband Filmregie sofort Kritik am Umgang von Medien und Institutionen mit den Missbrauchsvorwürfen gegen Regisseur Ulrich Seidl und schrieb:

Nach dieser und anderen Veröffentlichungen sei es zu „zahlreichen übereilten und unsachlichen öffentlichen Reaktionen“ gekommen. Man habe somit einer Vorverurteilung Vorschub geleistet.


Auch Ulrich Seidl wehrte sich und veröffentlichte auf der Homepage seiner Ulrich Seidl Filmproduktion GmbH eine Gegendarstellung zum Artikel im Spiegel, die ebenso seit dem 02.09.2022 über das ots Mail-Abonnement des dpa Presseportals verbreitet wurde und hier nachzulesen ist.

Das deutsche Wochenmagazin DER SPIEGEL hat schwere Vorwürfe gegen mich, meine Arbeitsweise und meinen Spielfilm "SPARTA" veröffentlicht. In dem am 2. September 2022 publizierten Text werden unzutreffende Darstellungen, Gerüchte oder aus dem Kontext gerissene Vorkommnisse am Set von SPARTA zu einem in keiner Weise den Tatsachen entsprechenden Zerrbild montiert; grundsätzlich werden, ohne dass die Reporter*innen näher auf den Film selbst eingehen, meine Arbeitsweise diffamiert und mir Intentionen unterstellt, die weiter weg von der Wirklichkeit gar nicht sein könnten. Das kann ich nicht unwidersprochen stehen lassen.

Basierend auf wahren Begebenheiten erzählt der Film von dem Österreicher Ewald, der vor einigen Jahren nach Rumänien gezogen ist. In seinen Vierzigern sucht er einen Neuanfang, verlässt seine Freundin und zieht ins Hinterland. Mit den Kindern und Jugendlichen aus der Gegend gestaltet er eine verlassene Schule in eine Festung um. Die Buben genießen eine unbeschwerte Existenz mit Sport und Spiel. Allerdings muss Ewald sich einer Wahrheit stellen, die er lange verdrängt hat. Weder die Kinder noch die Außenwelt, die ihn umgibt, weiß etwas davon. Denn innerlich und insgeheim kämpft er gegen seine pädophile Neigung an.

Immer schon versuche ich in meiner Arbeit, das Widersprüchliche in unserem Handeln und Denken als Essenz des Menschseins zu ergründen. Mir ist bewusst, dass meine künstlerische Weltsicht, und wie ich sie in meinen Filmen ausdrücke, nicht zuletzt in krassem Gegensatz steht zu einem gegenwärtigen Zeitgeist, der ein verkürztes, vielfach kontextloses „Entweder – Oder“ verlangt, wo ein „Sowohl – Als auch“ die menschliche Erfahrung deutlich besser beschreibt.

In allen meinen Filmen, in meinem gesamten künstlerischen Werk verlange ich nach Empathie für die Angeschlagenen und Abgestürzten, für die Abgedrängten und Geächteten: Ich stelle sie nicht an den (moralischen) Pranger, sondern fordere dazu auf, sie als komplexe und auch widersprüchliche Menschen wahrzunehmen.

Die daraus sich ergebenden Ambivalenzen zwischen Fürsorge und Missbrauch zu erkennen und zu beschreiben, hinzuschauen, anstatt weg zu sehen und sie damit auszublenden – darin sehe ich eine wesentliche Verantwortung – als Künstler und als Mensch. Meine Filme entstehen nicht, indem ich – wie der Artikel im SPIEGEL nahelegt – Darsteller*innen manipuliere, falsch informiere oder gar missbrauche. Im Gegenteil: Ohne das Vertrauensverhältnis, das wir über Wochen und Monate aufbauen, wären die langen Drehzeiträume meiner Filme gar nicht denkbar. Ich habe größten Respekt vor allen Darsteller*innen und niemals würde ich Entscheidungen treffen, die ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden in irgendeiner Art und Weise gefährden.

Im Fall von SPARTA erstreckten sich die Dreharbeiten über mehr als ein Jahr. Hätten die Eltern, wie der SPIEGEL behauptet, Einwände gegen die Drehabläufe oder die Art, wie wir mit ihren Kindern umgegangen sind, gehabt, oder hätten sich die Kinder mit uns nicht wohl gefühlt, wären sie wohl nicht über diesen langen Zeitraum in den Etappen eines Winter- und Sommerdrehs dabei geblieben. Wie alle anderen Darsteller wurden selbstverständlich auch die Kinder und Jugendliche von mir niemals gedrängt, vor der Kamera Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten.

Die jugendlichen Darsteller*innen waren durchgehend betreut. Neben dem Set gab es Ruhe- und Spielräume, wie wir das auch schon bei früheren Filmen ähnlich organisiert haben. Dort verbrachten sie die Zeit zwischen den Drehs, begleitet von pädagogisch geschultem Personal.

Anders als im SPIEGEL behauptet, habe ich auch in vielen Einzelgesprächen gemeinsam mit einer Übersetzerin die Eltern vor den Dreharbeiten über alle wesentlichen Inhalte des Films unterrichtet. Dazu gehört auch die Ambivalenz der österreichischen Hauptfigur Ewald und sein Verhältnis zu Kindern. Auch frage ich mich welchen Inhalt von SPARTA die SPIEGEL-Reporter*innen zu kennen meinen und den Eltern erzählt haben? Sie haben bei uns nicht um das von mir und Veronika Franz verfasste Drehbuch angefragt, welches sich ohnehin in der Zusammenarbeit mit den Darstellern während des Drehs stetig verändert und als Leitfaden zur Improvisation zu verstehen ist. Sie haben auch nicht um eine Sichtung des Films gebeten.

Es kann sich also nur um Teilinformationen handeln, mit denen die rumänischen Eltern vom SPIEGEL konfrontiert wurden. Wurde ihnen Angst gemacht, der Film könnte pädophile Sexszenen beinhalten? Das tut er nicht. Es ist kein Kind nackt oder in einer sexualisierten Situationen, Pose oder Kontext gedreht worden. Solche Szenen waren niemals meine Intention und wurden auch nicht gedreht. Nie haben wir beim Dreh die Grenzen des ethisch und moralisch Gebotenen überschritten.

Einige Tage nach Drehschluss im Sommer 2019 habe ich alle Kinder und deren Eltern zuhause besucht, um mich für ihre Beteiligung am Film zu bedanken. Niemand hat eine Beschwerde, ein Unbehagen oder einen Vorwurf geäußert. Ich wünsche mir, dass SPARTA, wenn der Film erst einmal im Kino ist, diese von Außen und erst im Zuge der Berichterstattung entstandenen Vorbehalte ausräumen kann.

Ulrich Seidl


Der Film "SPARTA" ist seit dem 18. Mai 2023 bundesweit in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen, sodass sich jeder sein eigenes Urteil bilden kann. Hier folgt unsere Filmkritik:

"SPARTA" in Rumänien gedrehtes Drama von Ulrich Seidl (Österreich / Deutschland / Frankreich, 2022; 99 Min.) Mit Georg Friedrich, Florentina Elena Pop, Hans-Michael Rehberg u.a. seit 18. Mai 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Der Film beginnt mit den Bewohnern eines Altenheims, die nebeneinander in einer Reihe sitzen und mehr oder weniger laut singen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der dürfte nie vergehn“. So beginnt auch Ulrich Seidls Film „Rimini“ (2022) über den Schlagersänger Richi Bravo, bei seinem Überlebenskampf in einem tristen Urlaubsort. „Rimini“ und „Sparta“ sollten ursprünglich unter dem Titel „Böse Spiele“ ein Film über zwei Brüder werden, ein sogenanntes filmisches Diptychon.

Ewald (Georg Friedrich) und sein Vater Ekkehart (Hans-Michael Rehberg, in seiner letzten Rolle), der auch im Drama Rimini dabei war, lebt in einem Altenheim, ist ziemlich verwirrt, sein Zustand ist erbärmlich. Das zeigen schon die Zettel an der Wand in seinem Zimmer, wie „Ekkehart du bist im Haus Waldesruh in Rumänien“ oder „Ekkehart vergiss das Trinken nicht“. Sein Sohn Ewald kümmert sich liebevoll um ihn aber kann ihm auch nicht helfen. Er ist einfach nur da. Beruflich kontrolliert er Kraftwerke in Rumänien. Der Mitvierziger kommt jedoch mit sich selbst nicht ganz klar. Er verlässt seine Freundin, weil der Sex mit ihr nicht mehr klappt und er seine pädophilen Neigungen immer stärker spürt. Als er unterwegs ist und eine Horde Jungen bei einer Schneeballschlacht sieht, steigt er aus dem Auto und macht mit. Die Jungen sind nicht verwundert.

Berührend ist der Moment, als Ewald zurück zum Auto geht und in Tränen ausbricht. Man spürt, was für Ängste dieses Verlangen bei ihm auslöst und den Kampf mit sich austrägt, ja nicht übergriffig zu werden. Er kommt auf die Idee im rumänischen Hinterland eine verlassene, heruntergekommene Schule zu kaufen, um den Dorfjungen kostenlosen Judo-Unterricht zu geben. Doch vorher helfen alle die Räumlichkeiten einigermaßen in Stand zu setzen. Den Kindern macht es Spaß, denn sie kommen aus ziemlich ärmlichen Verhältnissen. Unbeschwert genießen sie die sportlichen Balgereien und Kämpfe mit Holzschwertern und freuen sich, dass sich jemand um sie kümmert. Ewald macht aus dem Gebäude eine Art Festung mit der Kennzeichnung SPARTA. Er montiert eine Klingel und schärft den Kindern ein, ein Codewort zu benutzen. Seinen Trieb beherrscht er, indem er sich vergrößerte Fotos von den Kindern anschaut und ihre Körper auf dem Foto zart berührt.

Seidl hat über ein Jahr an diesem Film gearbeitet, er beginnt im regnerischen Herbst, es folgt der Winter mit Schnee und dann der Sommer, wo die Jungen alle in Badehosen herumtollen.

SPARTA wird von einem argen Wehrmutstropfen begleitet.

„Der Spiegel“ erhob gegen Seidl im Herbst 2022 erhebliche Vorwürfe, was die Dreharbeiten betraf und den Umgang der Kinder und ihren Eltern, die von ihm angeblich nicht über das Thema Pädophilie aufgeklärt und somit ausgenutzt wurden. Das hatte zur Folge, dass Toronto die Premiere von SPARTA absagte. Auf dem Filmfest in Hamburg und San Sebastian lief er ohne Hindernisse. Seidl und die gesamte Crew bestritten diese Vorwürfe. Wer Seidls Filme kennt, weiß, dass er gerne ein Beobachter ist und seine Themen oft die Grenze des Erträglichen erreichen.

Wenn man sich auch diesen Film jetzt genau anschaut, und das tut man nach diesen Vorwürfen, entdeckt man absolut nichts Anzügliches. Kein sexuelles angrapschen oder verbale sexualisierte Äußerungen. Sein Lieblingsjunge ist der schmächtige Octavius, dessen Vater eifersüchtig auf Ewald ist, zur Gewalt neigt, die Leute im Dorf aufhetzt und zusammentrommelt und Ewald aus dem Ort jagt. Deswegen auch das Verbarrikadieren mit einem Codewort und der Klingel.

Seidl hat in SPARTA ein sensibles Portrait eines verzweifelten Mannes gezeichnet, der täglich darum kämpft seinen Trieb in Schach zu halten und einen Kampf mit sich selbst führt. Was nicht unbedingt sein musste und vielleicht einigen Zuschauern aufstoßen könnte, ist die Szene in der Ewald mit den Kindern zusammen duscht, sie haben alle Unterhosen an, nur er ist ganz nackt.

Ulrich Seidl: „Ich kann verstehen, wenn Leute nicht zu jeder Zeit in Stimmung sind, sich einen Film von mir anzuschauen. Ich versuche immer gesellschaftliche Prozesse und zwischenmenschliche Beziehungen in ihrer ganzen Komplexität darzustellen und darüber auch vereinfachende Zuschreibungen, angelernte Gemeinplätze und klischeebeladene Abbildungen und Charakterisierungen herauszufordern und zu hinterfragen. Das ist für das Publikum manchmal auch schmerzhaft. Jedenfalls sehe ich meine Aufgabe als Filmautor nicht darin, Erwartungshaltungen zu erfüllen und Unterhaltung anzubieten, sondern möchte von der menschlichen Erfahrung ihrer ganzen Widersprüchlichkeit erzählen.“


Quelle: Programmheft des Filmkunst 66 / Berlin. So zurückgenommen und nachdenklich habe ich Georg Friedrich noch nie eine Rolle spielen sehen. Eine tolle Leistung.

Ulrike Schirm


Übrigens wurde das gleiche Thema kürzlich schon einmal mit Max Riemelt in dem Drama "KOPFPLATZEN" abgehandelt.

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"DIE LINIE" emotionales Drama von Ursula Meier über eine Frau zwischen Zerbrechlichkeit und schmerzhafter Wut, das 2022 im Wettbewerb der 72. Berlinale lief. (Frankreich / Belgien / Schweiz, 103 Min.) Mit Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo u.a. seit 18. Mai 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Das Verhältnis zwischen der 35-jährigen Musikerin Margaret (Stéphanie Blanchoud) und ihrer Mutter Christina, einer selbstverliebten Pianistin (Valeria Bruni Tedeschi) ist seit Jahren zutiefst gestört. Eine unbedachte, verletzende Bemerkung, ist der Auslöser für Margarets Wutanfall zu Beginn des Films.

Schallplatten, CDs, Notenblätter fliegen in Zeitlupe zu den Tönen von Bach und Schubert gegen die Wand. Eine schallende Ohrfeige führt dazu, dass die Mutter gegen ihr Piano knallt und einen Hörschaden davonträgt. Für eine Solopianistin eine Katastrophe.

Margaret ist in der Vergangenheit schon häufiger durch Gewalttätigkeit aufgefallen, ein Grund, warum die Liebesbeziehung zu ihrem Freund gestört ist.

Die Polizei rückt an. Da sie sich nicht beruhigt, wirft man sie gewaltsam aus dem Haus, in den Schnee. Sie wird verhaftet. Das Urteil lautet: Sie darf sich nicht mehr näher als 100 Meter zu dem Haus ihrer Familie bewegen und das drei Monate lang. Sie darf noch ein paar Sachen von sich einpacken und kommt zum Glück bei ihrem Freund unter, mit dem Versprechen, nicht mehr auszurasten und sich zu prügeln.

Das Verbot stärkt nur das Verlangen und die Sehnsucht, bei ihrer Familie zu sein. Sie will sich entschuldigen und sehnt sich nach einer Aussöhnung.

„Die Linie“ seziert das gestörte Verhältnis einer egomanischen Mutter zu ihren drei Töchtern, wobei Margaret besonders leiden musste, weil sie unerwünscht war.

Da Margaret sich verbotenerweise immer wieder dem Haus nähert, zieht ihre kleine Schwester, die 12-jährige Marion (Elli Spagnolo) eine breite blaue Linie um das Haus der dysfunktionalen Familie, die Margaret nicht überschreiten darf. Es vergeht allerdings kein Tag, an dem Margaret nicht an der Linie auftaucht. Tief in ihrem Inneren wünscht sie sich die Akzeptanz ihrer egoistischen Mutter. Die Linie wird zu einem Symbol für die Barriere zwischen Mutter und Tochter.

Margaret trifft sich mit der kleinen Marion, um mit ihr das Singen für ihren Auftritt beim Cäcilienfest zu üben. Margaret bringt ihre Gitarre mit und das Mädchen singt draußen im Freien, denn sie muss das Singen üben, weil sie unter Asthma leidet. Marion leidet ebenso unter den Verhältnissen zu Hause und bittet Gott im Gebet, dass ihre Mutter endlich die Liebe ihres Lebens findet.

Die Mutter hat einen bedeutend jüngeren neuen Freund, Hervé. Die kleine Marion weiß nicht so recht, wie sie mit ihm umgehen soll. Margaret ist entsetzt, dass ihre Mutter Marion einfach 3 Tage lang allein zu Hause gelassen hat. Es gibt zwar noch eine dritte Schwester, Louise (India Hair), die ist schwanger und Zwillingsmädchen zur Welt bringt, aber nicht mehr daheim wohnt.

Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier ("HOME", "WINTERDIEB") hat mit Hauptdarstellerin Stéphanie Blanchoud das Drehbuch zu diesem Drama geschrieben, in dem es um Musik und psychische wie körperliche Gewalt geht.

Wie egozentrisch die Mutter tatsächlich ist, zeigt sich im Laufe der Handlung, wenn man genau hinhört und hinsieht, wobei der Höhepunkt ihres toxischen Verhaltens der Weihnachtsabend ist. Margaret steht wie immer draußen in der Kälte mit ihren Geschenken, aber die Mutter denkt nicht daran sie zu beachten oder mit Margaret wenigstens draußen ein paar Worte zu wechseln, obwohl die beiden Schwestern auf sie einreden. Christina geht endlich raus. Beide Frauen starren sich nur an, bis Christina sich umdreht und wieder reingeht.

Erst jetzt erfährt Margaret, dass sie Schuld daran ist, dass ihre Mutter ihr Gehör auf einem Ohr verloren hat und deshalb den Flügel verkauft hat. Sie tobt vor dem Fenster und bittet flehentlich um Verzeihung. Man lässt sie nicht herein. Marion betet wieder um Frieden. Sie hat unter den familiären Spannungen am meisten zu leiden.

Regisseurin Meier hat ein wunderbares Talent, Verhaltensweisen anzudeuten und subtil darauf hinzuweisen. Emotional „laute Szenen“ sieht und hört man nur am Anfang des Dramas. Gegen Ende erleben wir eine Margaret voller Zerbrechlichkeit und Zärtlichkeit, mit Emotionen, die im Gegensatz zu ihren Gewaltausbrüchen stehen. Sie singt am Heiligen Abend ein wunderschönes Lied, dass ihre Nähe zu ihrem Freund wieder herstellt, Zeilen, die vielleicht ein Trost für sie sind, wenn das überhaupt bei dem Schmerz, den die Mutter bei ihr ausgelöst hat, möglich ist. Die drei Monate sind vorbei. Marion schrubbt die Linie wieder weg.

Schon allein wegen der großartigen Schauspielerinnen, besonders Stéphanie Blanchoud (Beste Schauspielerin) und die hinreißende Elli Spagnolo (Beste Nebendarstellerin) Schweizer Filmpreis 2023, Bestes Drehbuch, Nominierung: Bester Film, lohnt es sich den emotionalen Film anzuschauen.

Das einzige Verbindende der Figuren ist die Liebe zur Musik. Christina liebte das Klavier, Margaret ihre Gitarre und die kleine Marion, die eigentlich schon eine ganz „Große“ ist, ist es das Singen.

Ulrike Schirm


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"LIVING – Einmal wirklich leben" Tragikomödie von Oliver Hermanus, nach einem Remake von Akira Kurosawas „IKIRU“. (Großbritannien, 2022; 103 Min.) Mit Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp (II) u.a. seit 18. Mai 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

1953. Jeden Morgen steigt Mr. Williams (Bill Nighy) perfekt gekleidet, Hut, Krawatte, Anzug, in den Morgenzug und fährt zu seinem Arbeitsplatz ins Bauamt, in London. Dort geht alles seinen behördlichen, ziemlich verkrusteten Gang. Ein junger, neuer Kollege (Alex Sharp) staunt nicht schlecht über die altmodischen Verfahrensweisen. Mr. Williams ist so etwas wie ein Bilderbuchbürokrat, der ein strenges Leben führt.

Als er von seinem Arzt erfährt, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist, spürt dieser perfekt funktionierende Mann instinktiv, dass er jetzt oder nie, etwas in seinem Leben ändern muss. Nicht umsonst nennt ihn eine junge Mitarbeiterin (Aimee Lou Wood), die die Stelle wechselt, „Mr. Zombie“. Mr. Williams weiß aber nicht, wie er sich ändern kann.

Das Erste, was er macht, er erscheint nicht mehr zur Arbeit und er verschenkt seine Schlaftabletten.

Statt ins Büro, geht er auf den Rummel. Dort lädt er spontan seine Ex-Kollegin ein. Es ist gar nicht so einfach, dem Leben plötzlich Freude und ein wenig Spaß abzuringen.

„LIVING – Einmal wirklich leben“ ist ein Remake von Akira Kurosawas Filmklassiker “IKIRU“ aus dem Jahre 1952. Kurosawa bezog sich damals auf ein Werk des Russen Leo Tolstoi „Der Tod des Iwan Iljitsch“, von 1856.

Regisseur Oliver Hermanus, schnappte sich den Drehbuchautor und Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, der mit viel Feingefühl das Drehbuch zu diesem Film schrieb. Ihm ist es gelungen, dem großartigen Hauptdarsteller Bill Nighy eine Rolle, wie einen perfekten Maßanzug, auf den Leib zu schreiben.

Nighy, der viel in Nebenrollen zu sehen ist, erhielt für die Rolle vom eingefleischten Bürohengst, der fortschrittliche Projekte eher verhinderte als sie zu fördern, umdenkt und begreift, dass es seine letzte Chance ist, etwas von Dauer zu errichten, seine erste Oscarnominierung. Er erinnert sich an ein Gesuch mehrerer Mütter, die um den Bau eines Spielplatzes auf ihrem trostlosen Hinterhof baten. Mit aller ihm noch zur Verfügung stehender Kraft, setzt er sich nun dafür ein. Es ist ein Genuss, diesem begnadeten Schauspieler bei seinem schlichten und zurückgenommenen Spiel zuzusehen, wie es ihm gelingt sich doch noch von seinem versteinerten Leben zu lösen. Nicht nur der Film, der so einiges über das Leben aussagt, ist ein Grund ins Kino zu gehen, sondern der Schauspieler Bill Nighy.

Ulrike Schirm


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