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Neues Meisterwerk mit Joaquin Phoenix jetzt im Kino

Unsere Filmkritiken über zwei aktuelle Filmstarts in der 19. Kalenderwoche 2023



Einen Tag vor Beginn der Filmfestspiele von Cannes wollen wir nicht versäumen über einen gewagten, aber dennoch visionären Film, sowie über eine skurrile Anekdote aus Finnland zu berichten.

Insgesamt sind am letzten Donnerstag, den 12. Mai 2013 wieder 15 Spiel- und Dokumentarfilme im Kino gestartet. Wirklich überzeugt hat uns aber nur ein Werk mit Joaquin Phoenix von US-Regisseur Ari Aster, der sich nach sechs Kurzfilmen erst ab dem Jahre 2018 mit zwei Mystery-Thrillern in die Kategorie der Langfilme gewagt hat. Auch "Beau is afraid", wie sein neuestes Werk über einen Angsthasen heißt, bleibt mystisch und ist nur schwer zu entschlüsseln. Visuell aber ist der Film einer der stärksten seit längerem und erinnert zum Teil an das überbordende Sozialdrama "Everything Everywhere All at Once", das letztes Jahr ebenfalls von dem relativ jungen Filmstudio A24 ins Kino gebracht wurde und im März dieses Jahres den Oscar als bester Film gewann.

Für Ausnahmeregisseur Ari Aster ist die fast drei Stunden lange absurde, ödipale Alptraumkomödie über den paranoiden Beau mit Hauptdarsteller Joaquin Phoenix, der bereits in Joker sein ganzes Können zeigte, sein Herzensprojekt, das auf einem Drehbuch basiert, welches er schon als Filmstudent begonnen hatte und seitdem kontinuierlich weiterentwickelte.

"BEAU IS AFRAID" Dramödie von Ari Aster (Kanada / Finnland / USA, 2022; 179 Min.) Mit Joaquin Phoenix, Nathan Lane, Amy Ryan u.a. seit 12. Mai 2013 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Seine Verwandlung in dem Psychologischen Thriller „Joker“ brachte Joaquin Phoenix einen Oscar als bester Darsteller ein. Eine gepeinigte Seele als krimineller Clown, der sich gegen Ende des Dramas endlich gegen die Quälereien wehrt.

In „Beau is Afraid“ vom modernen Horrormeister Ari Aster („Hereditary“, „Midsommar“) spielt er eine von Neurosen gequälte Kreatur, die mehrere Psychosen hat, zum Therapeuten rennt und jede Menge Pillen schluckt, mit der Anweisung, sie ja mit viel Wasser einzunehmen.

Sein Zuhause besteht aus einer heruntergekommenen Sozialwohnung in einem verkommenen Viertel, bevölkert von Obdachlosen, Drogenabhängigen, Psychopathen, es herrscht Anarchie und Chaos und schon der kürzeste Gang außerhalb des Hauses, kann zu Gewalt führen. Beau verlässt die Wohnung nur, wenn er zum Therapeuten muss, um ein neues Rezept zuholen, wobei man das Gefühl hat, die Pillen helfen ihm nicht, sondern treiben ihn noch mehr in quälende Wahnvorstellungen, die ihn daran hindern, dem Leben mit seinen Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Schon seine Geburt verlief eher traumatisch als erfreulich. Ari Aster treibt diesen verängstigten und leidenden Menschen von einem Albtraum in den nächsten. Nur diesmal kann er sich nicht wehren.

Obwohl er ein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter (Patti LuPone) hat, will er sie am Todestag seines Vaters, der im Moment der Zeugung starb, besuchen. Doch die Gestörten der Straße haben es auf ihn abgesehen und sein Schlüsselbund und Koffer geklaut. Er will seine Reise deshalb aufschieben, die aber bald zu einem Desaster wird, als er erfährt, dass seine Mutter von ihrem herabfallenden Kronleuchter erschlagen wurde. Worauf er sich entschließt, nun auf jeden Fall zu ihrer Beerdigung anzureisen. Allerdings stürmt der Mob seine Wohnung in der Horrorgegend, die er versehentlich offengelassen hat, greift ihn an, worauf er in voller Panik splitterfasernackt aus der Wohnung auf die Straße rennt und nach einer Messerattacke auch noch von einem Lastwagen erfasst wird.

Ein seltsames, aber freundliches Paar (Amy Ryan, Nathan Lane), in dessen Garten ein traumatisierter Kriegsveteran lebt, nimmt Beau, als Ersatz für ihren verlorenen Sohn, bei sich auf und verarztet ihn. Der Mann ist Mediziner. Beau will und muss aber unbedingt zur Beerdigung. Was nach Fürsorge und Aufmerksamkeit aussieht, wird zu einem klaustrophobischen Albtraum. Beau läuft erneut panisch davon und trifft weiterhin auf lauter Wahnsinnige. Im Wald begegnet er einer seltsamen Theatersekte, die sich die Waisen des Waldes nennt.

Der Tod der Mutter hat sich leider bewahrheitet. Er findet sie aufgebahrt ohne Kopf vor. In schmerzhaften Rückblenden, die als Flashbacks aufflammen, wird Beau von schrecklichen Erinnerungen am Ort seiner Kindheit gepeinigt. Im Haus trifft er auf Elaine, sein früherer Schwarm, deren Foto er noch immer bei sich trägt, aber dennoch keinen Sex mit ihr haben konnte, weil seine Mutter ihn mit einer schauerlichen Geschichte davor warnte.

Die absurde Albtraumkomödie, mehr Leidensgeschichte als Komödie, beruht auf einem Drehbuch, welches Aster nach und nach weiterentwickelt hat. Dass dieses Drama nun ein dreistündiges Projekt geworden ist, verlangt vom Zuschauer*in einiges an Geduld, denn die mythische Höllenfahrt ist voller schräger Obsessionen, jedoch meisterhaft gefilmt. Aster scheut sich nicht, Beaus Wohnumfeld eines albtraumhaften Amerikas als städtischen Kriegsschauplatz zu zeigen, mittendrin ein Mann, gefangen in sich selbst. Ein Wahnsinnstrip, der etwas zu viel will, aber mit einem Joaquin Phoenix, der schauspielerisch vor nichts zurückschreckt und an dem man sich kaum satt sehen kann.

Ulrike Schirm ( ulriketratschtkino.wordpress.com )


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Von der nachfolgenden, skurrilen Geschichte, an deren Produktion gleich vier Länder beteiligt waren, liegen uns zwei Filmkritiken vor. Wir haben uns für die umfangreichere entschieden. Witzig ist nur, dass beim Schreiben des Filmtitels sogleich die neue, intelligente KI des Browsers Einspruch erhob, und darauf beharrte, dass es grammatikalisch korrekterweise "Die Geschichte des Holzfällers" heißen müsste. Eine uneingeschränkte Empfehlung für das finnische Debüt können wir jedoch nicht geben, da der Spannungsbogen noch nicht ganz die Qualität der Kaurismäki Filme erreicht.

"DIE GESCHICHTE VOM HOLZFÄLLER" Tragikomödie von Mikko Myllylahti (Finnland / Niederlande/ Dänemark / Deutschland, 2022; 99 Min.) Mit Jarkko Lahti, Hannu-Pekka Björkman, Iivo Tuuri u.a. seit 12. Mai 2013 im Kino. Hier der Trailer:



Reginas Filmkritik:

Stellen sie sich einen Menschen vor, der nur an das Gute glaubt, dessen Glas immer halbvoll und nie halbleer ist, der fest entschlossen ist, an den positiven Seiten des Lebens festzuhalten.

So ein Mensch ist Pepe der Holzfäller. Er lebt mit seiner Familie in einem abgelegenen Dorf im Norden Finnlands, umgeben von Schnee und Eis und viel Dunkelheit. Pepe ist ein Optimist, ein Mensch, der seine Kraft aus der Existenz seines Daseins schöpft.

Um ihn herum herrscht Streit und Chaos, doch das scheint ihn kaum zu berühren. Aber auch Pepe ist vor Schicksalsschlägen nicht gefeit. Er verliert seine Arbeit in einem Sägewerk, weil neue Investoren sein Dorf bevölkern und die Bodenschätze der Gegend in einer Mine ausbeuten werden. Dann stirbt seine Mutter plötzlich und viel zu früh, seine Frau betrügt und verlässt ihn, schließlich brennt auch noch sein Haus ab. Und damit nicht genug wird sein bester Freund zum mörderischen Psychopathen. Seltsamerweise nimmt Pepe das alles mit einem seltsamen Gleichmut wahr, ein Hiob der Gegenwart?

Der finnische Regisseur Mikko Myllylahti ließ sich in seinem Filmdebüt von einer realen Begegnung inspirieren, einem Holzfäller, der ihn in faszinierte und nicht mehr losließ.

„Er erzählte mir von seinem Leben, wie er das Dorf und seine Familie verlassen musste, wie er alles verloren hat. Es war eine traurige Geschichte, aber er schien damit überraschend gut zurecht zu kommen. Er akzeptierte diese Schicksalsschläge mit einem Lächeln im Gesicht. Ich war verblüfft über die Haltung dieses in sich ruhenden Mannes. Als ob er darin einen tieferen Sinn erkennt, der nur ihm verständlich ist, einen Sinn, der ihn in seinem Dasein wurzelt. Je mehr ich über diesen Mann und seine Einstellung zum Leben nachdachte, umso mehr erkannte ich das Potenzial einer Geschichte: über die Möglichkeit der Hoffnung in unserer modernen Welt, die voller Unsicherheit und Angst ist“ Miko Myllylahti


"DIE GESCHICHTE VOM HOLZFÄLLER" ist ein surrealer Film über die Sinnfrage des Lebens in einem gottesfernen Kosmos. Die Menschen scheinen desillusioniert und enttäuscht. Abends spielt man stoisch Karten, der Alltag ist das Dorf, hier lebt man, kennt sich, arbeitet miteinander, hier in dieser kargen Schneelandschaft ist man geboren, hier wird man auch sterben. Und inmitten dieser Welt gibt es den Hoffnungsträger Pepe.

Regisseur Myllylahti hat nicht vor, Antworten zu geben auf die Sinnfrage des Lebens. Er stellt Fragen, lässt seine Figuren und seine Bilder sprechen. Es gibt keine gradlinige Geschichte, die erzählt wird, vielmehr sind es poetische, zum Teil märchenhafte und absurde Episoden mit schrägen, kauzigen Figuren, die man schon aus dem Kino von Aki Kaurismäki kennt und die auch hier die schwarzhumorige Atmosphäre ausmachen. In die Inszenierung schmuggeln sich immer wieder rätselhafte Vorkommnisse.

Es gibt brennende Autos, die ohne Fahrer durch das Bild rasen, ein sprechender Hecht orakelt Hoffnung und eine seltsame Gestalt, irgendetwas zwischen Prediger und Sänger, steht mit den Toten in Kontakt. Dann taucht noch eine geheimnisvolle Lichtkugel auf, die im Raum schwebt und durch die Bilder huschen merkwürdige Tiere.

Dass das alles ein fesselndes Ganzes ergibt und die Metaphorik funktioniert, liegt auch an dem überzeugenden Hauptdarsteller Jarkko Lahti, sein Pepe hat diesen verwunderten, manchmal fast kindlichen Blick auf das Geschehen, als wüsste er von einem Geheimnis, das sonst niemand kennt. Aus seinen Augen betrachten wir diese eigenartige Welt. Ein Filmwerk, das verwundert, erschreckt und verzaubert.

Myllylahti begann seine Laufbahn als Poet, er ist ein gefragter Dichter in Finnland. Dann machte er mehrere erfolgreiche Kurzfilme und schrieb, gemeinsam mit Juho Kuosmanen, das Drehbuch zu dessen Debütfilm "DER GLÜCKLICHSTE TAG IM LEBEN DES OLIV MÄKI". 2016 gewann der Film bei den Filmfestspielen in Cannes den Hauptpreis in der renommierten Nebenreihe »En Certain Regard«. Sechs Jahre später, 2022, durfte Myllylahti seinen eigenen Debütfilm "DIE GESCHICHTE VOM HOLZFÄLLER" in Cannes als Weltpremiere vorstellen, in der Reihe »Semaine de la Critique«.

„Im Allgemeinen habe ich, vielleicht weil ich auch Dichter bin, schon immer eine Form des Kinos bevorzugt, die in der Lage ist, nach Transzendenz zu greifen, über Geschichtenerzählen und Worte hinauszugehen und das Geheimnis der Existenz auf eine Weise zu enthüllen, wie sie eher in der Poesie oder in abstrakter, bildender Kunst üblich ist. Das gesamte Werk von Robert Bresson ist ein großartiges Beispiel… Auch Pasolinis "TEOREMA" wegen seiner starken Allegorie… oder Bunuels Absurdität und Surrealismus. Ich bin ein großer Fan von Aki Kaurismäki, er ist wirklich ein Meister und einer der einflussreichsten Filmemacher der Geschichte des finnischen Kinos. Aber ich habe auch das Gefühl, dass uns einiges unterscheidet, vielleicht stehe ich mehr auf Surrealismus und Absurdität und meine Dialoge sind losgelöster von der Szene, in sich geschlossener und somit auf eine ganz andere Weise poetisch.“ Miko Myllylahti


Die spärlichen, abgehobenen Dialoge unterstützen die surreale Stimmung in Film. Die Protagonisten sprechen oft im Subtext, das heißt, sie tauschen sich kaum in geläufiger Umgangssprache aus, stattdessen formulieren sie ihre Bedürfnisse, Wünsche und Gedanken. Es sind keine Äußerungen, sondern eher poetische Statements, die Kinder und Erwachsene von sich geben – man fühlt sich an die Filmsprache von Wim Wenders "HIMMEL ÜBER BERLIN" erinnert, an die Szene, in der die Gedanken der Menschen in der Bibliothek hörbar werden.

"DIE GESCHICHTE VOM HOLZFÄLLER" ist ein überraschender Film, der voller schräger, skurriler Ideen steckt – man muss sich einlassen, auf diese seltsame Welt und ihre Gestalten, tragen lassen von den opulenten, traumähnlichen Bildern des Kameramanns Arsen Sarkisiants, auf 35 mm gedreht. Gemeinsam mit der Filmmusik von Jonas Struck verleihen sie dem Film den Nimbus des Märchenhaften.

Wenn es eine Conclusio gibt, dann diese: die Suche nach dem Sinn ergibt keinen Sinn, lass dich darauf ein, und schau verwundert und lächelnd auf das Leben – so wie Pepe, der unerschütterliche Optimist, der trotz schwerer Prüfungen an seiner positiven Lebensphilosophie festhält.

Regina Roland ( filmkritik-regina-roland.de )


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