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Unsere wöchentliche Filmkritik, September 2020, Teil 3

Die Besprechung des Dokumentarfilms "CHICHINETTE" hatten wir letzte Woche vorgezogen, heute folgt eine Fantasy Satire.



Anlässlich der 20. Filmkunstmesse Leipzig hat Christian Bräuer, Vorsitzender der AG Kino-Gilde, noch einmal explizit an die Politik appelliert, die Abstandsregeln bundesweit auf einen Sitzplatz zwischen Besuchergruppen zu reduzieren, und zwar ohne Maskenpflicht am Platz während der gesamten Vorführung.

Bräuer ist aber auch Chef der Yorck Kinokette in Berlin, die im Gegensatz zu Hans-Joachim Flebbes Zoo Palast, den auf einen Meter reduzierten Abstand in Berlin nicht eingeführt hat, sondern bei 1,5 Meter Sitzabstand mit deutlich geringerer Auslastung bisher geblieben ist.

Jasper Jacobs, Theaterleiter des Filmkunst 66 in Berlin bringt es deutlich auf einen Punkt: "Die Kinobetreiber sind in der Zwickmühle." Niemand möchte in einem langen Film permanent die Atemschutzmaske tragen müssen. Dies empfinden viele als eine Zumutung, sodass kaum einer ins Kino käme. Andererseits ist bei der alten Regelung mit größerem Sitzabstand nur eine Auslastung von 20% möglich, was sich finanziell nicht trägt und auf Dauer zum Ruin führt.


Aufgrund der wieder gestiegenen Corona-Fallzahlen zum Herbstbeginn und demnach auch zur Schnupfenzeit, sind die Wünsche der Kinobetreiber, die Maskenpflicht am Platz bei höherer Auslastung generell fallen zu lassen, ein ziemliches Wagnis, das bei einem Corona-Nachweis unweigerlich zu erneuter Komplettschließung von Kinos führen würde.

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"ÜBER DIE UNENDLICHKEIT" Fantasy Drama von Roy Andersson (Schweden, Deutschland, Norwegen). Mit Martin Serner, Tatiana Delaunay, Anders Hellström u.a. seit 17. September 2020 im Kino. Hier der Trailer der Satire:



Ulrikes Filmkritik:

„Über die Unendlichkeit" ist, sagt Roy Andersson, von der Rahmenhandlung von „Tausendundeine Nacht“ inspiriert, eine Sammlung von Erzählungen, die die jungfräuliche Braut Scheherazade ihrem Mann, dem König, Nacht für Nacht erzählt.

Sanft erklingt die Stimme einer Erzählerin aus dem Off. Sie leitet die Szenen ein, die der Zuschauer gleich auf der Leinwand sieht.

Ich sah eine Frau mit einem Kinderwagen. Ihre Schuhe machen ihr Probleme. Die Absätze sind angebrochen. Barfuß geht sie weiter. Ein Mann schaut ihr wortlos hinterher.

Ein Mann sitzt im Bahnhof und spielt auf seinem Instrument „It's now or never“. Er hat beide Beine im Krieg verloren. Die Leute gehen achtlos an ihm vorbei.

Ein Mann weint in einem Bus. Die Fahrgäste diskutieren, ob man in der Öffentlichkeit weinen darf.

Weiter erzählt die sanfte Stimme. Ich sah einen Mann, der die Welt erobern wollte und begriff, dass er gescheitert ist. Drei Nazis hängen besoffen im Führerbunker herum. Als Hitler den Raum betritt, stammeln sie ein klägliches „Sieg Heil“.

In einer Markthalle. Ein Mann schlägt seine Frau. Kunden greifen ein. Er: „Du weißt doch, ich liebe Dich“. Sie: "Ich weiß Liebling, ich weiß".

Ich sah einen Mann, der die Ehre seiner Familie retten wollte und es später bereute Schluchzend hält er eine Frau im Arm. Sie ist tot. Er hat sie erstochen.

Nur einige Beispiele von etwa zwei Dutzend minimalistisch komponierten Szenen, Andersson nennt sie Stand-Alone-Sequenzen, in denen er auf die menschliche Existenz blickt. Er hat eine Erzählweise kreiert, die fast frei von klassischer Narration ist. Einige seiner Themen kennt man schon aus vorherigen Filmen, wie „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“, 2014 beim Festival in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet oder „Das jüngste Gewitter“, 2007. Hoffnung, aber auch Krieg und Verzweiflung und die Abwesenheit von Gott, sind Dinge die ihn beschäftigen.

Als Werbefilmer hat Andersson sehr viel Geld verdient, was ihm ermöglicht hat, ein eigenes Studio zu bauen, indem er seine beindruckenden, eigenwillig komponierte Sets aufbaut, in die er seine blass geschminkten Figuren setzt. Hier kann er seinen individuellen Stil konsequent umsetzen, der ihn weltberühmt gemacht hat. Jedes seiner melancholischen Bilder wird in der Totalen mit einer statischen Kamera aufgenommen.

Am liebsten würde man den Film anhalten und ein Foto nach dem anderen schießen und sie in einer Fotogalerie verewigen.

Sein Hauptthema ist die Verletzlichkeit des Menschen. Wenn man sich derer bewusst ist, geht man sorgfältiger mit dem um, was man hat. Er ist davon überzeugt, wenn man die Schönheit des Lebens betont, muss man die schlechten und grausamen Seiten des Lebens zeigen, in dem man den Gegensatz zeigt. Diesen Gegensatz sieht man in seiner Szene mit dem fliegenden Paar. Wir sehen das Modell der zerbombten Stadt Köln, die einmal schön gewesen ist. Darüber schwebt ein Liebespaar. Ein Zeichen, dass das Leben weitergeht. Liebe, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit gehen nicht verloren.

Drei Mädchen tanzen auf der Straße vor einem Café. Drei Studenten klatschen Beifall.

Anderssons ausgewählte Alltagsszenen sind nicht nur absurd, sondern auch poetisch, melancholisch und traurig wie auch amüsant, geprägt von der Weisheit des Alters. Der Mann ist 77.

Es ist sein sechster Langfilm, für den er im letzten Jahr in Venedig den Regiepreis bekommen hat. Mit Spannung warte ich auf sein nächstes Werk.

(Spielfilm, 78 Minuten) Kamera: Gergely Pálos.

Ulrike Schirm


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