Bericht und Gewinner der Filmfestspiele Cannes
Der Goldene Palme erhielt an Michael Haneke für "Das weiße Band". Der große Preis der Jury (silber) ging an "Un Prophete" von Jacques Audiard.
Das Film Festival de Cannes an der Cí´te d'Azur steht an der Spitze der wichtigsten drei A-Filmfestivals in aller Welt, zu den denen auch Berlin und Venedig gehören. Deshalb richten sich auch diesem Jahr wieder alle Augen auf das zum 62. Mal stattfindende Filmfestival, das trotz weltweiter Wirtschaftskrise mit großen Namen aufwarten kann.
Dennoch ist einiges anders gewesen. Die Empfänge sind kleiner ausgefallen und das Kino zeigt mehr Autorenfilme und weniger Hollywoodschinken. Mit Spannung wurde der Quentin Tarantinos Nazi-Groteske "Inglorious Basterds", erwartet, der im letzen Jahr in unserer Region Berlin-Brandenburg gedreht wurde. (Siehe Vorbericht zum Festival vom 12. Mai 09 im BAF-Blog.) Doch der Film überzeugte nicht, war die einhellige Meinung nach der Vorführung. Zwar sei der Film ein typischer Tarantino, der vor Gewaltszenen nicht zurückschreckt; die Story war jedoch für manche Kritiker relativ unbedeutend und belanglos, sodass der Film mit seinem Opus Magnum "Pulp Fiction" nicht mithalten kann. Dennoch belohnte die Jury aus dem Darsteller Ensemble Christoph Waltz mit der Auszeichnung "Bester Darsteller", da er einen fiesen, bösen aber charismatischen SS-Offizier äußerst überzeugend darstellt. Selbst für Tarantino war Christoph Waltz die Schlüsselfigur, ohne den er den Film nicht hätte drehen können.
Ganz im Gegensatz dazu Lars von Triers Beitrag „Antichrist“. Der Dogma-Mitbegründer versucht sich am Horrorgenre und lässt Satan die Welt erschaffen. So brutal soll bisher kein anderer Film gewesen sein, dass der Fernsehsender Arte sich weigerte irgendwelche Ausschnitte zu zeigen. Das klingt ein wenig nach Zensur. Der Psychothriller wurde im Wettbewerb präsentiert und zeigt eine Ehe am Abgrund - mit expliziten Sex- und grausamen Gewaltszenen. Ein Ehepaar, dargestellt von den renommierten Schauspielern Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe, trauert um das gemeinsame Kind. Beide geraten dabei in einen Machtkampf der besonders brutalen Art. Dennoch zeichnete die Jury Charlotte Gainsbourg für die schauspielerische Leistrung des Antichristen als "Beste Darstellerin" aus.
Auf der Pressekonferenz wollte der dänische Regisseur zu Vorwürfen über die Gewaltdarstellung nicht Stellung nehmen und verwies darauf, dass er sich nicht zu rechtfertigen braucht. Das lässt natürlich Spekulationen und Interpretationen zu. Doch dafür ist Film gemacht, um ein Spiegelbild der Welt unserer Gesellschaft vor Augen führen zu können. Lars von Triers Film verfolgt die Theorie, dass nicht Gott, sondern Satan die Welt erschaffen hat. Ob die Wahl der Mittel geeignet ist, muss jeder selbst entscheiden. Schon Geißelung Jesu in dem umstrittenen Mel Gibson Film "Die Passion Christi" aus dem Jahre 2004 war von unerträglicher Brutalität und wurde dennoch im Fernsehen ausgestrahlt und nicht verboten. Obwohl die Kirchen den Film nicht guthießen, hätte ein Verbot unsere christlichen Wurzeln infrage gestellt. Diesmal könnte es anders aussehen. Politiker preschen mit Verboten in letzter Zeit schnell vor, obwohl der Markt es oft selbst regulieren könnte, wenn der Film erfolglos bliebe. Doch je mehr Gerede um ein Werk entfacht wird, desto interessanter wird es. Für den Filmemacher war der Film eine Therapie nach Depressionen, sagte der 53-Jährige, der mit "Dancer in The Dark" im Jahr 2000 die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnte. "Die Gewalt nicht zu zeigen, wäre eine Lüge gewesen", so der Filmemacher.
Völlig anders geht der österreichische Filmmacher Michael Haneke mit Gewalt um. Es ist der einzige deutschsprachige Wettbewerbsfilm im Festival. In hypnotisch ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern zeigt „Das weiße Band“, das autoritäre Familien- und Gesellschaftsstrukturen Ursache für Faschismus und Terror sind und nach Ansicht des Regisseurs nicht nur ein deutsches Problem. Die Geschichte spielt 1913/1914, also kurz vor und während des Ersten Weltkrieges. Haneke inszeniert in der deutschen Kindergeschichte den moralischen Absolutheitsanspruch des Barons (Ulrich Tukur), des Dorfarztes (Rainer Bock) und des evangelischen Pfarrers (Burkhart Klaussner). In einer feindlichen Atmosphäre von Schuld, Bestrafung und Heuchelei wachsen hier die Kinder heran - und verabsolutieren die falschen, übersteigerten Werte ihrer Väter. Kein Wunder, wenn 20 Jahre später - 1933 - die dann erwachsenen Kinder des Dorfes möglicherweise vom Faschismus begeistert sind.
Vielleicht soll der Film auch als Warnung an die Väter heute gelten, die immer noch ihre Söhne in vielen Staaten Welt mit der falschen Überzeugung erziehen, dass Männer Macht und Stärke benötigen und die in manchen Fällen nur durch Waffenbesitz möglich ist. In der zivilisierten Welt hat sich glücklicherweise durchgesetzt, dass der Klügere nachgibt und Intelligenz sich letztendlich auszahlt und allein auf Dauer zum Sieg führt. Der Film überzeugte viele Kritiker, die besonders die sehr gute Kamera lobten. Mit Recht erhielt der Film die "Golden Palme" und außerdem den "International Critics' Prize" des Filmkritikerverbandes FIPRESCI.
In der Auslese des diesjährigen, 62. Cannes-Festivals überzeugten einige Filme ganz altmodisch mit Geschichte und Figuren: Der neue Film von Jane Campion (Goldene Palme für „Das Piano“) „Bright Star“ ist ein Kostümfilm der ruhig und intensiv von der kurzen, letzten Liebe des englischen Poeten John Keats mit einer jungen Nachbarin im Jahre 1818 erzählt. Dabei gelingt es Campion und der Kostümdesignerin Fanny Brawne ohne das übliche Drama, zwei Stunden lang zu fesseln. Allein, dass der junge Poet im Alter von 25 sterben muss, reicht, um die Herzen zu rühren. Dass der Koreaner Park Chan-Wook (Gold für „Old Boy“) etwas Aufsehenerregendes zeigen wird, war klar. Sein blutdurstiger Vampir-Priester in „Thirst“ überraschte und begeisterte gleichermaßen auch die Jury. Allerdings musste er sich den "Preis der Jury" (Bronze) mit „Fish Tank“ von Andrea Arnold über die Probleme einer 15jährigen teilen. Ang Lee („Das Hochzeitsbankett“) kam ganz rückwärtsgewandt daher und zeigte in der humorvollen Geschichte „Taking Woodstock“ ein Rock-Festival Revival mit 500.000 Menschen, die drei Tage lang feierten wie noch nie gesehen. Ein großartiges Erlebnis, ein herrlicher Kino-Trip, der an alte Zeiten erinnert aber keinen Preis gewann.
Überraschendes kam vom chinesischen Zensur-Opfer Lou Ye („Summer Palace“). In „Spring Fever“ führt Lou Ye einen schwulen Beziehungsreigen vor, der so stark (und letztendlich tragisch) von individueller Glückssuche bestimmt ist, wie man es in der Volksrepublik China nicht erwartet. Um die Zensur zu umgehen, drehte der Regisseur mit unauffälliger Digitalkamera und wurde von der Jury mit dem "Drehbuchpreis" belohnt.
Ebenso heimlich Drehen musste der internationale gefeierte iranische Regisseur Bahman Ghobadi („Zeit der trunkenen Pferde“, „Turtle can fly“). Zwei Jahre war er mit den Vorbereitungen für einen Kurzfilm beschäftigt, dann untersagten ihm die Behörden den Dreh. Eigentlich ein Berufsverbot, denn der Staat kontrolliert alle 35mm-Kameras. Doch dann besorgte sich Ghobadi eine digitale Kamera und begleitete damit unauffällig seine Protagonisten in Teheran. „No one knows about Persian cats“ zeigte jetzt in der Nebensektion «Un Certain Regard» von Cannes junge Musiker, die ohne Genehmigung eine Band aufmachen wollen.
In der weiteren Nebensektion «Quinzaine des réalisateurs» gingen gleich drei Auszeichnungen an den Debütfilm des jungen 20jährigen kanadischen Regisseurs Xaviers Dolan "I killed my Mother" über die schwierige Beziehung eines 16-jährigen Jungen zu seiner Mutter. Er erhielt den Art Cinema Award der Jury der Programmmacher des Independent-Kinos, den Preis der SACD (Société des auteurs et compositeurs dramatiques) und den zum siebenten Mal vergebenen Preis "Regards Jeunes 2009". Nachdem einige Kritiker der ersten Vorstellung am frühen Morgen ganz begeistert waren, setzte am Abend ein unheimlicher run auf die weiteren Vorstellungen am Abend ein. Interessant ist, dass sein Film dem fast tot geglaubten Autorenfilm zugerechnet wird, denn der Filmemacher war nicht nur Autor, sondern auch Kameramann, Regisseur und Produzent in Personalunion. Bei uns wäre so etwas mit Fördergeldern leider nicht mehr möglich. Unsere unsäglichen Bestimmungen schreiben vor, dass Regie und Produktion getrennt sein müssen und nur die Produzenten Anträge auf Förderungen stellen können.
Den mit 5.000 Euro dotierten Großen Preis der «Semaine internationale de la critique», der ältesten Parallelschiene in Cannes, die Erstlings- und Zweitfilmen gewidmet ist, erhielt bereits am Freitag "Adieu Gary", der erste Langfilm des Franzosen Nassim Amaouche.
Der aufregendste Film von allen lief jedoch im Wettbewerb. Nach Meinung der Schweizer Seite OutNow ist "Enter the Void" von Gaspar Noés ein "psychodelisches Melodrama", das den Zuschauer förmlich mit Eindrücken erschlägt und in seiner Machart einzigartig ist. Das Besondere an dem Streifen ist der Kunstgriff, dass der Zuschauer den computeranimierten Drogenrausch vom Dealer Oscar in Tokio den gesamten Film durch die Augen des Protagonisten erlebt und auch dessen Gedanken hört. Die folgende Imagination des zwei Stunden langen Sterbens erfolgt überwiegend in der Ego-Perspektive bis Oscar auf äußerst kuriose Weise die Wiedergeburt erlebt. Nach dem Ende der Vorstellung ist man glücklich endlich wieder an die frische Luft zu gelangen, in eine Welt, die einem im Vergleich zur eben erlebten apokalyptischen Kinovision friedlich und idyllisch scheint.
Viele der beschriebenen Filme galten als Außenseiter und wurden meist in extra überlanger Version, speziell für das Festival konzipiert. Diese Director-Cuts werden leider nicht noch einmal dem Publikum gezeigt. Sie kommen erst viel später geschnitten und entschärft ins Kino. Doch neben den Skandalfilmen gab es noch eine Menge wunderbarer, publikumswirksamer Filme, die wir hier gar nicht alle aufzählen können und wollen. Erwähnt sei noch Ken Loachs Komödie "Looking for Eric" in der Fußball-Altstar Eric Cantona als sympatischer Mentaltrainer sich selbt spielt und den "Hauptpreis der ökumenischen Jury" erhielt.
Zur Halbzeit fiel Jacques Audiards Gefängnisfilm "Un Prophí¨te" bereits positiv auf. Der Film handelt von einem kleinen Gauner, der im Gefängnis lesen und schreiben lernt und daraus zum charmanten Organisationstalent avanciert. Das wurde von der Jury mit dem "Großen Preis" (in Silber) belohnt. Dagegen enttäuschte der mit Spannung erwartete Film von Johnnie Tos "Vengeance" mit Superstar Johnny Hallyday schwer und wurde von einigen Kritikern wegen der vielen Ballerszenen mit herumfliegenden Leichenteilen sogar als äußerst grottenschlecht bezeichnet.
Für die Jury gab es diesmal also allerhand zu sehen, das wohl überlegt ausgewählt werden musste. Die vielen überlangen Filme waren überdies keine leichte Kost, aber das sind Filmfestspiele selten.
In der erweiterten Ansicht unter nachfolgendem Link sind alle Preise nochmals einzeln aufgelistet. "Bericht und Gewinner der Filmfestspiele Cannes" vollständig lesen
Das Film Festival de Cannes an der Cí´te d'Azur steht an der Spitze der wichtigsten drei A-Filmfestivals in aller Welt, zu den denen auch Berlin und Venedig gehören. Deshalb richten sich auch diesem Jahr wieder alle Augen auf das zum 62. Mal stattfindende Filmfestival, das trotz weltweiter Wirtschaftskrise mit großen Namen aufwarten kann.
Dennoch ist einiges anders gewesen. Die Empfänge sind kleiner ausgefallen und das Kino zeigt mehr Autorenfilme und weniger Hollywoodschinken. Mit Spannung wurde der Quentin Tarantinos Nazi-Groteske "Inglorious Basterds", erwartet, der im letzen Jahr in unserer Region Berlin-Brandenburg gedreht wurde. (Siehe Vorbericht zum Festival vom 12. Mai 09 im BAF-Blog.) Doch der Film überzeugte nicht, war die einhellige Meinung nach der Vorführung. Zwar sei der Film ein typischer Tarantino, der vor Gewaltszenen nicht zurückschreckt; die Story war jedoch für manche Kritiker relativ unbedeutend und belanglos, sodass der Film mit seinem Opus Magnum "Pulp Fiction" nicht mithalten kann. Dennoch belohnte die Jury aus dem Darsteller Ensemble Christoph Waltz mit der Auszeichnung "Bester Darsteller", da er einen fiesen, bösen aber charismatischen SS-Offizier äußerst überzeugend darstellt. Selbst für Tarantino war Christoph Waltz die Schlüsselfigur, ohne den er den Film nicht hätte drehen können.
Ganz im Gegensatz dazu Lars von Triers Beitrag „Antichrist“. Der Dogma-Mitbegründer versucht sich am Horrorgenre und lässt Satan die Welt erschaffen. So brutal soll bisher kein anderer Film gewesen sein, dass der Fernsehsender Arte sich weigerte irgendwelche Ausschnitte zu zeigen. Das klingt ein wenig nach Zensur. Der Psychothriller wurde im Wettbewerb präsentiert und zeigt eine Ehe am Abgrund - mit expliziten Sex- und grausamen Gewaltszenen. Ein Ehepaar, dargestellt von den renommierten Schauspielern Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe, trauert um das gemeinsame Kind. Beide geraten dabei in einen Machtkampf der besonders brutalen Art. Dennoch zeichnete die Jury Charlotte Gainsbourg für die schauspielerische Leistrung des Antichristen als "Beste Darstellerin" aus.
Auf der Pressekonferenz wollte der dänische Regisseur zu Vorwürfen über die Gewaltdarstellung nicht Stellung nehmen und verwies darauf, dass er sich nicht zu rechtfertigen braucht. Das lässt natürlich Spekulationen und Interpretationen zu. Doch dafür ist Film gemacht, um ein Spiegelbild der Welt unserer Gesellschaft vor Augen führen zu können. Lars von Triers Film verfolgt die Theorie, dass nicht Gott, sondern Satan die Welt erschaffen hat. Ob die Wahl der Mittel geeignet ist, muss jeder selbst entscheiden. Schon Geißelung Jesu in dem umstrittenen Mel Gibson Film "Die Passion Christi" aus dem Jahre 2004 war von unerträglicher Brutalität und wurde dennoch im Fernsehen ausgestrahlt und nicht verboten. Obwohl die Kirchen den Film nicht guthießen, hätte ein Verbot unsere christlichen Wurzeln infrage gestellt. Diesmal könnte es anders aussehen. Politiker preschen mit Verboten in letzter Zeit schnell vor, obwohl der Markt es oft selbst regulieren könnte, wenn der Film erfolglos bliebe. Doch je mehr Gerede um ein Werk entfacht wird, desto interessanter wird es. Für den Filmemacher war der Film eine Therapie nach Depressionen, sagte der 53-Jährige, der mit "Dancer in The Dark" im Jahr 2000 die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnte. "Die Gewalt nicht zu zeigen, wäre eine Lüge gewesen", so der Filmemacher.
Völlig anders geht der österreichische Filmmacher Michael Haneke mit Gewalt um. Es ist der einzige deutschsprachige Wettbewerbsfilm im Festival. In hypnotisch ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern zeigt „Das weiße Band“, das autoritäre Familien- und Gesellschaftsstrukturen Ursache für Faschismus und Terror sind und nach Ansicht des Regisseurs nicht nur ein deutsches Problem. Die Geschichte spielt 1913/1914, also kurz vor und während des Ersten Weltkrieges. Haneke inszeniert in der deutschen Kindergeschichte den moralischen Absolutheitsanspruch des Barons (Ulrich Tukur), des Dorfarztes (Rainer Bock) und des evangelischen Pfarrers (Burkhart Klaussner). In einer feindlichen Atmosphäre von Schuld, Bestrafung und Heuchelei wachsen hier die Kinder heran - und verabsolutieren die falschen, übersteigerten Werte ihrer Väter. Kein Wunder, wenn 20 Jahre später - 1933 - die dann erwachsenen Kinder des Dorfes möglicherweise vom Faschismus begeistert sind.
Vielleicht soll der Film auch als Warnung an die Väter heute gelten, die immer noch ihre Söhne in vielen Staaten Welt mit der falschen Überzeugung erziehen, dass Männer Macht und Stärke benötigen und die in manchen Fällen nur durch Waffenbesitz möglich ist. In der zivilisierten Welt hat sich glücklicherweise durchgesetzt, dass der Klügere nachgibt und Intelligenz sich letztendlich auszahlt und allein auf Dauer zum Sieg führt. Der Film überzeugte viele Kritiker, die besonders die sehr gute Kamera lobten. Mit Recht erhielt der Film die "Golden Palme" und außerdem den "International Critics' Prize" des Filmkritikerverbandes FIPRESCI.
In der Auslese des diesjährigen, 62. Cannes-Festivals überzeugten einige Filme ganz altmodisch mit Geschichte und Figuren: Der neue Film von Jane Campion (Goldene Palme für „Das Piano“) „Bright Star“ ist ein Kostümfilm der ruhig und intensiv von der kurzen, letzten Liebe des englischen Poeten John Keats mit einer jungen Nachbarin im Jahre 1818 erzählt. Dabei gelingt es Campion und der Kostümdesignerin Fanny Brawne ohne das übliche Drama, zwei Stunden lang zu fesseln. Allein, dass der junge Poet im Alter von 25 sterben muss, reicht, um die Herzen zu rühren. Dass der Koreaner Park Chan-Wook (Gold für „Old Boy“) etwas Aufsehenerregendes zeigen wird, war klar. Sein blutdurstiger Vampir-Priester in „Thirst“ überraschte und begeisterte gleichermaßen auch die Jury. Allerdings musste er sich den "Preis der Jury" (Bronze) mit „Fish Tank“ von Andrea Arnold über die Probleme einer 15jährigen teilen. Ang Lee („Das Hochzeitsbankett“) kam ganz rückwärtsgewandt daher und zeigte in der humorvollen Geschichte „Taking Woodstock“ ein Rock-Festival Revival mit 500.000 Menschen, die drei Tage lang feierten wie noch nie gesehen. Ein großartiges Erlebnis, ein herrlicher Kino-Trip, der an alte Zeiten erinnert aber keinen Preis gewann.
Überraschendes kam vom chinesischen Zensur-Opfer Lou Ye („Summer Palace“). In „Spring Fever“ führt Lou Ye einen schwulen Beziehungsreigen vor, der so stark (und letztendlich tragisch) von individueller Glückssuche bestimmt ist, wie man es in der Volksrepublik China nicht erwartet. Um die Zensur zu umgehen, drehte der Regisseur mit unauffälliger Digitalkamera und wurde von der Jury mit dem "Drehbuchpreis" belohnt.
Ebenso heimlich Drehen musste der internationale gefeierte iranische Regisseur Bahman Ghobadi („Zeit der trunkenen Pferde“, „Turtle can fly“). Zwei Jahre war er mit den Vorbereitungen für einen Kurzfilm beschäftigt, dann untersagten ihm die Behörden den Dreh. Eigentlich ein Berufsverbot, denn der Staat kontrolliert alle 35mm-Kameras. Doch dann besorgte sich Ghobadi eine digitale Kamera und begleitete damit unauffällig seine Protagonisten in Teheran. „No one knows about Persian cats“ zeigte jetzt in der Nebensektion «Un Certain Regard» von Cannes junge Musiker, die ohne Genehmigung eine Band aufmachen wollen.
In der weiteren Nebensektion «Quinzaine des réalisateurs» gingen gleich drei Auszeichnungen an den Debütfilm des jungen 20jährigen kanadischen Regisseurs Xaviers Dolan "I killed my Mother" über die schwierige Beziehung eines 16-jährigen Jungen zu seiner Mutter. Er erhielt den Art Cinema Award der Jury der Programmmacher des Independent-Kinos, den Preis der SACD (Société des auteurs et compositeurs dramatiques) und den zum siebenten Mal vergebenen Preis "Regards Jeunes 2009". Nachdem einige Kritiker der ersten Vorstellung am frühen Morgen ganz begeistert waren, setzte am Abend ein unheimlicher run auf die weiteren Vorstellungen am Abend ein. Interessant ist, dass sein Film dem fast tot geglaubten Autorenfilm zugerechnet wird, denn der Filmemacher war nicht nur Autor, sondern auch Kameramann, Regisseur und Produzent in Personalunion. Bei uns wäre so etwas mit Fördergeldern leider nicht mehr möglich. Unsere unsäglichen Bestimmungen schreiben vor, dass Regie und Produktion getrennt sein müssen und nur die Produzenten Anträge auf Förderungen stellen können.
Den mit 5.000 Euro dotierten Großen Preis der «Semaine internationale de la critique», der ältesten Parallelschiene in Cannes, die Erstlings- und Zweitfilmen gewidmet ist, erhielt bereits am Freitag "Adieu Gary", der erste Langfilm des Franzosen Nassim Amaouche.
Der aufregendste Film von allen lief jedoch im Wettbewerb. Nach Meinung der Schweizer Seite OutNow ist "Enter the Void" von Gaspar Noés ein "psychodelisches Melodrama", das den Zuschauer förmlich mit Eindrücken erschlägt und in seiner Machart einzigartig ist. Das Besondere an dem Streifen ist der Kunstgriff, dass der Zuschauer den computeranimierten Drogenrausch vom Dealer Oscar in Tokio den gesamten Film durch die Augen des Protagonisten erlebt und auch dessen Gedanken hört. Die folgende Imagination des zwei Stunden langen Sterbens erfolgt überwiegend in der Ego-Perspektive bis Oscar auf äußerst kuriose Weise die Wiedergeburt erlebt. Nach dem Ende der Vorstellung ist man glücklich endlich wieder an die frische Luft zu gelangen, in eine Welt, die einem im Vergleich zur eben erlebten apokalyptischen Kinovision friedlich und idyllisch scheint.
Viele der beschriebenen Filme galten als Außenseiter und wurden meist in extra überlanger Version, speziell für das Festival konzipiert. Diese Director-Cuts werden leider nicht noch einmal dem Publikum gezeigt. Sie kommen erst viel später geschnitten und entschärft ins Kino. Doch neben den Skandalfilmen gab es noch eine Menge wunderbarer, publikumswirksamer Filme, die wir hier gar nicht alle aufzählen können und wollen. Erwähnt sei noch Ken Loachs Komödie "Looking for Eric" in der Fußball-Altstar Eric Cantona als sympatischer Mentaltrainer sich selbt spielt und den "Hauptpreis der ökumenischen Jury" erhielt.
Zur Halbzeit fiel Jacques Audiards Gefängnisfilm "Un Prophí¨te" bereits positiv auf. Der Film handelt von einem kleinen Gauner, der im Gefängnis lesen und schreiben lernt und daraus zum charmanten Organisationstalent avanciert. Das wurde von der Jury mit dem "Großen Preis" (in Silber) belohnt. Dagegen enttäuschte der mit Spannung erwartete Film von Johnnie Tos "Vengeance" mit Superstar Johnny Hallyday schwer und wurde von einigen Kritikern wegen der vielen Ballerszenen mit herumfliegenden Leichenteilen sogar als äußerst grottenschlecht bezeichnet.
Für die Jury gab es diesmal also allerhand zu sehen, das wohl überlegt ausgewählt werden musste. Die vielen überlangen Filme waren überdies keine leichte Kost, aber das sind Filmfestspiele selten.
In der erweiterten Ansicht unter nachfolgendem Link sind alle Preise nochmals einzeln aufgelistet. "Bericht und Gewinner der Filmfestspiele Cannes" vollständig lesen