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"Die Unschuld" und weitere Kinoempfehlungen | 12. KW 2024

Mit "DIE UNSCHULD" aus Japan und dem litauischen Oscar-Beitrag "SLOW" sowie "DREAM SCENARIO" aus den USA, besprechen wir in dieser Woche drei Arthouse-Titel.



"DIE UNSCHULD" - (a.k.a. 'Monster') Drama von Hirokazu Kore-eda (Japan, 2023; 127 Min.) Mit Sakura Andô, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata, Akihiro Kakuta, Shidô Nakamura, Yûko Tanaka ab 21. März 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik

Immer wieder behandelt der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda komplexe Familienbeziehungen. Wobei "komplex" sicherlich mit "schwierig" Hand in Hand geht. In seinem letzten Film, "Broker", eine südkoreanische Produktion, den er ebenso wie jetzt "Die Unschuld" in Cannes vorstellen durfte, ging es um die Adoption und den Kinderwunsch.

Noch bekannter war 2018 sein Film "Shoplifters - Familienbande" über eine prekäre Wahl-Familie in Tokio, die sich mit Ladendiebstählen über Wasser hält. Oder "Nobody Knows" von 2004, auch dieser Film wurde in Cannes vorgestellt. Hier wird nach einem wahren Fall die Geschichte von Geschwistern erzählt, die von der Nachbarschaft unbemerkt, allein in einer Wohnung ausharren und auf die Mutter warten. In "Like Father, Like Son" von 2013 erzählt der Regisseur von zwei Familien, die sich begegnen, als sie erfahren, dass ihre Kinder bei der Geburt vertauscht worden sind.

"Die Unschuld" hat zumindest im deutschsprachigen Raum eine Bedeutungsverschiebung erfahren. "Kaibutsu", so heißt der Originaltitel auf Japanisch, bedeutet, so wie der internationale Titel es auch korrekt übersetzt: "Monster". Die scheinbar konträren Titel liegen aber gar nicht so weit auseinander.

Hirokazu Kore-eda erzählt von einem Jungen, der sich selbst immer wieder als Monster sieht. Woher er diese fixe Idee hat, die er kindlich mit einer Horrorvorstellung untermalt, das wird natürlich auch angesprochen, aber der Reihe nach. Minato (gespielt von Soya Kurokawa) bereitet seiner alleinerziehenden, verwitweten Mutter Sorgen. Er wirkt zurückgezogen und unnahbar. Saori, die Mutter wird von Sakura Andô gespielt, wähnt die Ursache in der Schule zu finden. Ein besonders junger Lehrer habe ihren Sohn ungerecht behandelt und auch geschlagen. Hori (Eita Nagayama) wird zwar immer wieder zu einer Begegnung mit der Mutter ins Direktorat dazu geholt, schweigt sich aber aus. Die Direktorin (Yūko Tanaka) setzt auf Schadensbegrenzung und agiert aalglatt höflich und unverbindlich, so dass jede Aussprache und damit Klärung unmöglich scheint.

Hirokazu Kore-eda legt mehrere Fährten aus. Man ahnt, dass die Sicht auf die Figuren und ihre Handlungen trügerisch ist. Man ahnt, dass die Wahrheit eine andere ist. Aber werden die Figuren die Wahrheit finden? Dabei ist eine der frühen Fährten eine, die man kaum wahrnimmt. Der Junge kommt einmal nicht rechtzeitig nach Hause und die Mutter sucht verzweifelt nach ihm. Was geht nur in dem Jungen vor? Das Buch, das übrigens nicht vom Regisseur selbst, sondern von Yûji Sakamoto stammt, der sich bisher hauptsächlich im Serien-Bereich hervorgetan hat, öffnet hier eine Welt als Gegenentwurf für die der Erwachsenen und stellt diese parallel. Doch zuerst bleibt diese Welt für das Publikum verborgen.

Derweil setzt Hirokazu Kore-eda ein zweites Mal an, uns die Geschichte, die scheinbar in der Schule beginnt, zu erzählen. Dabei ist die Schule nur der Mikrokosmos einer Gesellschaft, in der eine Tradition der Höflichkeit Missstände überdeckt. In dem zweiten Drittel des Filmes erfahren wir, wie sich die Handlung aus der Sicht des Lehrers abspielt. Er ist jung, er ist engagiert, er hat Ambitionen und Ideale. Reicht es denn, ohne Fehl zu sein, um einer Anschuldigung gewachsen zu sein? Dabei ist Minato für ihn ein Schüler, von dem er annimmt, dass dieser einen anderen, schwächeren Klassenkameraden, Yori (Hinata Hiiragi), mobbt. Erst das letzte Drittel erzählt sich aus der Perspektive dieser zwei Kinder, gerade mal um die 10 Jahre alt. Kinder, die besonders Erwachsenen ihr Innerstes nicht preisgeben. Kinder, die schweigen, wenn die Erwachsenen sie mit Fragen bedrängen.

Das Monster, das im Titel beschworen wird, ist dabei sowohl Metapher als auch Charakterzug. Das vermeintliche Richtige, dass die Figuren tun, kann das Falsche sein und einem anderen das Leben zur Hölle machen. Das System an sich ist jedoch auch eines, was dieses Monströse begünstigt. Von Unschuld kann kaum die Rede sein. Nur Kinder besitzen noch eine Unschuld, wobei sie noch nicht einordnen können, wie weit Schuld und Unschuld auseinander liegen. Das Monströse der Gesellschaft ist es auch, dass diese Kinder und ihre Unschuld unter Druck setzen.

Hirokazu Kore-eda setzt darauf, dass das Publikum sich seiner Vorurteile bewusstwird und schubst es sanft an, Ereignisse und Beurteilungen zu hinterfragen. "Die Unschuld" führt die Zuschauenden dabei auf eine ähnliche Reise, wie die Figuren. Dabei hangelt sich die Erkenntnis durch den Ablauf der Naturgewalten, die sowohl monströs geschehen und dabei keinerlei Schuldwert haben. Zwischen einem katastrophalen Feuer und einem alles verschlingendem Wassersturz werden die Figuren Kräften ausgesetzt, denen sie sich stellen müssen.

In Cannes gewann "Die Unschuld" den Preis für das beste Drehbuch. Darüber hinaus gab man ihm auch den "Queer-Palm"-Preis. Dazu sein erwähnt, dass der Regisseur die Kinder in einem noch bewusst "unschuldig" gehaltenen Alter angesetzt hat. In Deutschland wurde der Film zuerst auf dem Filmfest München vorgestellt. Übrigens handelt es sich bei "Die Unschuld", dessen Filmmusik die Handlung überzeugend unterstützt, um die letzte Arbeit des Komponisten Ryūichi Sakamoto.

Elisabeth Nagy


Anmerkung:
In Hirokazu Kore-edas Film kann man darüber hinaus an einigen Stellen gewisse Parallelen mit İlker Çataks deutschem Spielfilm "Das Lehrerzimmer" sehen als auch Ähnlichkeiten wie bei dem belgischen Jugenddrama "Close" von Lukas Dhont finden. Beide Filme waren im letzten Jahr mehrfach ausgezeichnet worden.

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"SLOW" Drama der litauischen Regisseurin Marija Kavtaradze über die ergreifende Liebesgeschichte zwischen einer Tanzlehrerin und einem Gebärdendolmetscher. (Litauen / Schweden / Spanien, 2023; 108 Min.) Mit Greta Grineviciute, Kestutis Cicenas, Pijus Ganusauskas u.a. ab 21. März 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Elena (Greta Grineviciute) leitet einen Tanzkurs für zeitgenössischen Tanz. Ihr Anliegen ist, den jungen, gehörlosen Teilnehmenden mehr Selbstbewusstsein und ein besseres Körpergefühl beizubringen. Der junge Gebärdendolmetscher Dovydas (Kestutis Cicenas) steht an ihrer Seite und sorgt für das nötige Verständnis. Es ist nicht zu übersehen, dass es zwischen Elena und ihm heftig knistert.

Als Dovydas ihr gesteht, dass er asexuell ist und sich zu niemandem sexuell hingezogen fühlt, weiß Elena nicht, was sie dazu sagen soll. Sie ist verunsichert und lässt sein Geständnis erst einmal ruhen. Ihre gegenseitigen Gefühle füreinander lassen sich jedoch nicht so einfach abstellen. Beide beschließen eine romantische Beziehung einzugehen. Obwohl Elena gerne flirtet, hat sie den versteckten Wunsch nach einer „normalen“ Partnerschaft. Auch Dovydas gesteht ihr den Wunsch nach einer festen Beziehung.

Die litauische Regisseurin Marija Kavtaradze erzählt in ihrem Film „Slow“ wie sich die beiden langsam einander annähern, mit viel Zärtlichkeit, Humor und Empathie und dem Wunsch, sich gegenseitig zu verstehen, ohne sich einzuengen. Um ihrer Liebe eine Cance zu geben, versuchen sie herauszufinden, welche Rolle Sexualität in ihrem Leben spielen kann, ohne sich gegenseitig zu kränken.

„Slow“ ist eine ergreifende Liebesgeschichte, erzählt mit viel Empathie und Sensibilität, unterschiedlich empfunden, aber dennoch wahrhaftig. Die beiden wunderbar besetzten Hauptdarsteller haben das Talent dazu, die Herzen der Zuschauer zu gewinnen. Mitreißend, wenn Dovydas sehr gefühlvoll ein Liebeslied in Gebärdensprache übersetzt.

"SLOW" im Verleih von Salzgeber war der litauische Beitrag für die Oscars 2024. Zudem wurde Kavtaradzes bahnbrechende filmische Erkundung von Asexualität in Sundance mit dem Regiepreis ausgezeichnet.

Ulrike Schirm


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"DREAM SCENARIO" eine irrwitzige Gesellschaftssatire von Kristoffer Borgli. (USA, 2023; 102 Min.) Mit Nicolas Cage, Julianne Nicholson, Jessica Clement u.a. ab 21. März 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Auf satirische Weise zeigt der norwegische Regisseur Kristoffer Borgli mit traumatischen Fantasy- und Horror-Elementen wie schnell in einer kapitalistischen Social-Media-Blase ein Gefeierter zu einem Geächteten werden kann.

So ergeht es Paul Matthews, gespielt von Nicolas Cage, der mit mutiger Halbglatze und Vollbart, ohne sein Dazutun zu einer viralen Sensation wird.

Paul weiß nicht, wie ihm geschieht. Es beginnt damit, dass seine Tochter ihm erzählt einen surrealen Traum von ihm gehabt zu haben.

Doch dann entsteht eine regelrechte Traum-Epidemie. Immer mehr Menschen haben nachts Visionen von ihm. Bekannte und wildfremde. Bisher hat der blasse Familienvater und nicht besonders geistreicher College-Professor noch nie im Mittelpunkt gestanden. Schon seit langer Zeit will er ein Buch schreiben, aber irgendwie wird daraus nichts. Stattdessen wird er plötzlich von seinen Studenten im Hörsaal beklatscht, da auch sie ihre Träume von ihm beschreiben. Jeder erzählt eine andere Version. Tausende berichten von dem Phänomen. Nur seine Frau kann ihn nicht im Traum sehen.

In den meisten Träumen verhält sich Paul total passiv. Dennoch wird er auf einmal zu einem der interessantesten Menschen. Eine Agentur versucht ihn für Werbung zu casten. Die Medien reißen sich um den neuen Internet-Star, von dem die ganze Welt zu träumen scheint.

Nach und nach entwickeln sich die kollektiven Träume in brutale Überfälle. Nach und nach bleiben seine Studenten fern. Der Hörsaal wird immer leerer. Die Schulkameraden seiner Tochter Sophie nennen ihn schon „Freddy Krüger“. Nur noch in Frankreich hat er eine Fangemeinde.

Überall wo er sonst auftaucht, wird er beschimpft und angegriffen. Zum ersten Mal hat er selbst einen Albtraum in dem eine Person, die er selbst ist, mit einer Armbrust Jagd auf ihn macht. Auf einen Schlag will niemand mehr mit Paul etwas zu tun haben. Sein Werbedeal ist futsch, seine Studentinnen und Studenten flüchten panisch vor ihm davon und seinen Job ist er auch los. Er wird von einem unglaublichen Shitstorm überrollt. Kann er sich davon erholen?

Für meine Begriffe ist es Cage's beste Rolle.

Ulrike Shirm


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