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Zwei Filmkritiken zu aktuellen Kinostarts der 41. KW 2023 und ein Nachtrag aus der Vorwoche

Rund 70 Werke des berühmten deutschen Malers und Bildhauers Anselm Karl Albert Kiefer sind derzeit im niederländischen Museum Voorlinden bei Den Haag zu sehen. Jetzt hat auch Wim Wenders dem Künstler mit seinem Film ANSELM ein Denkmal gesetzt.



Anselm Kiefer, der mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet ist, zählt zu den bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Künstlern nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Werke wurden auf den bedeutendsten internationalen Kunstausstellungen und in vielen Museen Europas, Japans und der Vereinigten Staaten von Amerika ausgestellt.

Die jetzt im niederländischen Museum Voorlinden bei Den Haag ausgestellten Werke sind zum Teil noch nie zuvor öffentlich gezeigt worden. Einen tiefen Einblick in die Arbeit und Schaffensperiode des 78-jährigen Künstlers verschafft auch Regisseur Wim Wenders mit seiner jetzt ins Kino gekommenen Dokumentation.

"ANSELM" - das Rauschen der Zeit" ein in 6K hochauflösend gedrehter 3D-Dokumentarfilm von Wim Wenders (Deutschland, 2023; 94 Min.) über den Künstler Anselm Kiefer, der sich in seinen Installationen vor allem mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust beschäftigt, feierte seine Weltpremiere auf den Filmfestspielen von Cannes und ist seit 12. Oktober 2023 in den deutschen Kinos zu sehen. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

"Anselm - Das Rauschen der Zeit" heißt Wim Wenders' Hommage an den Universalkünstler und persönlichen Freund Anselm Kiefer. Wenders und Kiefer kennen einander seit gut 30 Jahren. Beide sind 1945 geboren und haben ähnliche Nachkriegserfahrungen machen können. Das Schweigen über die Vergangenheit war Kiefers Sache nie. Seine Kunst sollte der Gesellschaft durchaus auch einen Spiegel vorhalten. Wim Wenders führt sein Publikum allerdings nicht in eine Biographie ein, sondern ermöglicht ihm, zumal in 3D, so wie er es bereits bei seinem Film über die Tänzerin und Choreographin Pina Bausch gemacht hatte, das monumentale Werk des Künstlers sinnlich zu erfahren.

"Anselm" mag als Dokumentarfilm gehandelt werden, aber vielmehr ist es ein Essay, ein Experimentalfilm. Gleichzeitig ist es aber auch in Teilen ein Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Anselm Kiefers Themen des Verfalls und des Krieges, des Todes und der Zerstörung werden hier mit der gesichtslosen Figur der idealisierten Frau, herunter gebrochen auf ein Brautkleid, eingeführt. Es sind flüsternde Stimmen, die das Publikum sowohl verwirren als auch hypnotisieren. Erst dann geht es in einer der Fabrikhallen, die Kiefer gemietet hat, um sie als Atelier zu nutzen. Riesige Räume, die nur die Kamera aus der Höhe fassen kann, sonst hätte man das Gefühl, man gehe zwischen den wuchtigen Werken, die nicht nur aus Farbe, sondern aus organischen Materialien wie Sand und Stroh und Stoff bestehen, verloren.

Der Meister selbst radelt durch diese Hallen und radelt quasi auch durch das, was man eine biographische Einordnung nennen könnte. Doch Wenders fordert sein Publikum subtil. Er erklärt den Künstler nicht, er erklärt auch die Werke nicht. Er ermöglicht jedoch eine Interpretation. Man schaut Kiefer beim Denken zu und manchmal bedeutet das auch, dass man ihn auf einer Wiese mit einer Sonnenblume sieht. Wenders führt kein Interview. Kiefer erklärt sich auch nicht selbst. Um trotzdem auch auf die Vergangenheit zu kommen, springt sein Sohn Daniel Kiefer ein und spielt ihn als jungen Mann zu einer Zeit, als dieser sich durchaus skandalträchtig gegen das Vergessen stemmte. Wenders geht sogar noch einen Schritt zurück und lässt ein Kind (seinen Großneffen Anton Wenders) den nachdenklichen und staunenden Anselm der Nachkriegszeit spielen, als die Spuren des Krieges und seiner Verwüstung noch alles beherrschten.

Es ist nicht nur allein die 3D-Technik, die Kiefers Kunst auf eine Weise erfahrbar macht, sondern auch die Perspektive, die die Kamera von Wenders treuen Weggefährten an selbiger, Franz Lustig, und dem Stereografen Sebastian Cramer, einnimmt, wenn sich Bildelemente überlagern oder den Künstler winzig neben seine Bilder werden lässt. Darüber hinaus wendet Wim Wenders eine Tonspur mit Geräuschen, Flüstern, Originalstimmen mit Zitaten von Inspiratoren wie Paul Celan und Ingeborg Bachmann und einer suggestiven Musik an, die Kiefers Sinne für Mythos und Geschichte spiegeln.

"Anselm - Das Rauschen der Zeit" ist im Wesen eine poetische Annäherung an Anselm Kiefer. Eine Museumsausstellung könnte Anselm Kiefer nur in Teilen gerecht werden. Wim Wenders hat dafür die Leinwand und er weiß sie zu nutzen.

Elisabeth Nagy


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"DOGMAN" Thriller von Luc Besson (Frankreich / USA, 2023; 114 Min.) Mit Caleb Landry Jones, Jojo T. Gibbs, Christopher Denham, Clemens Schick u.a. seit 12. Oktober 2023 in den deutschen Kinos. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Luc Bessons neues Drama "DogMan", das auch dem Genre Thriller zugeordnet werden kann, wird das Publikum spalten. Einige werden darin eine kalkulierte, oft alberne Comic-Schmonzette sehen, die an den nicht unähnlichen "Joker" (2019 mit Joaquin Phoenix) nicht ganz herankommt, andere werden über dramaturgische Schwächen hinwegsehen und zu Herzen gerührt sein.

Premiere feierte "DogMan" in Venedig, wo sogleich, und das soll nicht unter den Teppich gekehrt werden, kritisiert wurde, dass das Festival Besson, einer unter den problematischen Regie-Männern, eine Bühne geben würde. Darüber ging wohl verloren, dass die Teilnahme an einem der großen A-Festivals, für einen für Gewalt- und Action-Filmen bekannten Regisseur sehr wohl eine Überraschung war.

Seine frühen Regiearbeiten wie "Im Rausch der Tiefe" (1988), "Nikita" (1990) und "Léon - Der Profi" (1994) sind Klassiker geworden. Mit "Das fünfte Element" (1997) wechselte er erfolgreich ins Science-Fiction-Genre, um dann aber mit "Angel-A" zu enttäuschen. Jahrelang arbeitete Besson als Produzent, sein letzter, etwas überdimensionierter Film war wohl "Valerian - Die Stadt der tausend Planeten" (2017).

"DogMan", der von einer engen Verbindung von Mann und Hund handelt, und der bitte nicht mit "Dogman" von Matteo Garrone von 2018 verwechselt werden sollte, knüpft in der Tat an die alte Handschrift von Besson an. Besson wirft hier alles in die Waagschale. Sein Film ist episch, tragisch, komisch und skurril. Er schreckt vor religiösem Pathos und zahlreichen Klischees nicht zurück. Und doch rührt seine Hauptfigur, die lautmalerisch Doug heißt, zu Herzen, während die unzähligen Hunde jede Szene für sich erobern. Kann man so treuherzigen Kampftieren böse sein?

Mit Doug, für dessen Rolle Besson den amerikanischen Schauspieler Caleb Landry Jones ("Three Billboards Outside Ebbing, Missouri") gewinnen konnte, hat "DogMan" einen tragischen Antihelden, eine von der Gesellschaft ausgeschlossene Figur, die sich gar nicht darum bemüht, wieder ein Teil dessen zu werden. Doug ist von außen betrachtet ein Einzelgänger, aber er hat seine Familie. Seine Familie sind seine Hunde, die ihn bedingungslos lieben und unterstützen und für ihn neckische Raubzüge vollbringen. Neben der Hundeschar, für die es einen Stab an 15 Hundetrainer*Innen gab, braucht es Präsenz, um zu bestehen. Caleb Landry Jones' Spiel wird in Erinnerung bleiben, soviel steht fest.

Wie Doug zu seinen Hunden kam, und sie spirituell und emotionell als seine Retter annahm, erzählt Doug im Gespräch in seiner Gefängniszelle. Denn nachdem er bzw. seine Hunde eine ganze Gang an Latino-Schurken trickreich ausgelöscht haben, kann sein Weg nur noch in die eigene Auslöschung bzw. in eine spirituelle Erlösung führen. So wählt denn Besson dramaturgisch die Erzählung durch Rückblenden und verknüpft diese mit den Gewalterfahrungen, die sein Gegenüber, die Polizeipsychologin Evelyn (Jojo T. Gibbs), selbst gemacht hat. Die Welt nach Luc Besson ist eine gewalttätige. Die Hunde dagegen lieben einen Menschen bedingungslos und konsequent. Die Wahlfamilie ist hier die wahre Familie.

Subtil ist Luc Besson nicht. Mit breitem Pinselstrich malt er seine Figuren und setzt der Dramaturgie immer noch einen drauf, auch wenn das bedeutet, das Genre zu wechseln. Doch Besson schafft es, Mitgefühl zu wecken. Doug wählt die Distanz zu seinen Mitmenschen und auch zu seinem Publikum.

Geschunden und mit Behinderung lebt er seine Lebensfreude aus, indem er singt. Für kurze Zeit löst er sich von den physischen Fesseln seines Rollstuhles und performt französische Chansons in Gestalt einer Drag-Queen. Zu kritisieren gäbe es daran so einiges und doch schafft es Besson seiner Figur eine Seele einzuhauchen, die das Publikum erkennt, wenn es nicht sogar eine Träne vergießt. Hier besinnt sich Luc Besson an seine alten Filme und damit hebt er sich auch von den kalten Thrillern nach dem Millenium ab. Wie gesagt, nicht jedem wird "DogMan" gefallen, aber das Wagnis sollte man unbedingt eingehen.

Elisabeth Nagy


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Das britische Drama "Blue Jean" ist selbst für den Salzgeber Verleih außergewöhnlich und dennoch so überzeugend gelungen, dass wir es zu unseren zahlreichen Besprechungen der Vorwoche (6. Oktober 2023) noch wichtige Ergänzung hinzufügen möchten.


"BLUE JEAN" Drama von Georgia Oakley über eine taffe Sportlehrerin an einer Mädchenschule, die an ihre Grenzen stößt, als sie sich als lesbisch outen soll. (Großbritannien, 2022; 97 Min.) Mit Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday u.a. seit 5. Oktober 2023 in den deutschen Kinos. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Jean Newman (Rosy McEwen) ist Sportlehrerin. Sie ist beliebt an ihrer Schule. Sowohl im Lehrkörper als auch bei den Jugendlichen. Was keiner an der Schule weiß, ist, dass sie lesbisch ist. "Blue Jean", das Langspieldebüt der Britin Georgia Oakley ("Little Bird"), spielt in der restriktiven Thatcher-Zeit.

1988 wurde unter Margaret Thatcher die sogenannte "Section 28"-Gesetzeserweiterung parlamentarisch verabschiedet. Fortan durfte die ohnehin schon konservative britische Gesellschaft mit "Homosexualität" nicht mehr belästigt werden. Jede Förderung derselbigen war ein Verstoß.

Für Jean bedeutet dies, dass sie, sollte herauskommen, dass sie lesbisch sei, sie mit sofortiger Wirkung vom Schuldienst ausgeschlossen werden würde. Somit wird sie nicht nur in ein Doppelleben gezwungen, sie kann aus reinem Selbstschutz sich auch nicht den Gegenbewegungen anschließen, so wie es ihre Lebensgefährtin Viv (Kerrie Hayes) tut.

So fern ist diese Zeit gar nicht. Immer noch werden LGBTQ-Menschen unterdrückt oder gar mit dem Tod bedroht. Auch heute gibt es entsprechende Gesetze, die Darstellungen von Homosexualität verbieten. Auch innerhalb der EU. Was machen Gesetze dieser Art mit den Menschen, die von diesen ausgegrenzt werden? Georgia Oakley, geboren 1988, berichtet, dass sie selbst gar nicht wusste, dass es die "Sektion 28" gab. Sie selbst war damals im schulpflichtigen Alter und wunderte sich, dass sie so gar keine Vorbilder für ihr Empfinden fand. Erst die Beschäftigung mit den Auswirkungen dieses Gesetzes öffnete ihr die Augen.

Georgia Oakleys Figuren sind Menschen, wie du und ich. Oakley stellt die Verordnungen und die Nachrichten der Zeit in den Hintergrund, der allerdings allumfassend die davor handelnden Figuren einengt. Aus eben jenen Nachrichten erfahren wir von der Stimmung im Land. Auch wenn die Hauptfigur, Jean, diese Nachrichten wegschalten möchte.

Um diese bedrückende Atmosphäre geht es Oakley hauptsächlich. Sie unterstreicht die Stimmungen mit einer spezifischen Farbgebung, die man bewusst oder unbewusst mit aufnimmt. Pastelltöne kennzeichnen die heteronormativen Lebenswelten. Kräftigere Farben werden in jenen Bereichen eingesetzt, in denen Jean in ihrer Freizeit verkehrt.

"Blue Jean" ist ein wirklich wichtiger Zeitepochenfilm über die damaligen Repressionen. Dabei sind die Figuren der Jean, einer Lehrerin, ihrer Freundin und Aktivistin Viv und einer Schülerin an Jeans Schule Stellvertreterinnen für einen konkreten Konflikt, für den es hier keine einfache Lösung gibt.

Lois (Lucy Halliday) ist eine der Schülerinnen von Jean. In der Schule wird sie gemobbt. Lois, die neu in die Klasse gekommen ist, positioniert sich in der Folge abwehrend gegen das It-Girl der Klasse. Jean trifft Lois in ihrer Freizeit zufällig in einer Lesbenbar. Das Erkennen des jeweils anderen bringt beide in eine Abhängigkeitssituation. Wenn Lois Jeans Identität aufdeckt, ist sie ihren Job los. Wenn Jean Lois verleugnet, zerstört sie ein Leben, das ihr als Lehrerin doch anvertraut worden ist.

"Sektion 28" bedeutet nicht nur die Stigmatisierung von Homosexualität. Es sollte im Schulbereich ausschließlich negativ darstellt werden, zugunsten traditioneller Familienbilder. Ein Spagat den Jean nicht packt. Sie trifft eine falsche Entscheidung.

"Sektion 28" wurde erst, man mag es kaum glauben, im November 2003 abgeschafft. Georgia Oakleys Debüt ist ein überzeugender Film, der seine Figuren mit allen Schattenseiten vermittelt. Mit leisen Tönen wird eine Hauptfigur mit ihren Schwächen darstellt. Jean ist alles andere als eine Aktivistin. Ihr Zögern, ihr Nichthandeln setzen sie in einen Konflikt mit ihrer Freundin, die Haltung fordert, und es bricht einem das Herz, wie sehr ein noch junger Mensch wie Lois ein Platz in der Gesellschaft verwehrt wird.

"Blue Jean" lief letztes Jahr auf dem Filmfestival in Venedig und wurde dort mit dem Publikumspreis der Sektion »Giornate degli Autori« ausgezeichnet. Die British Independent Film Awards zeichneten darüber hinaus die Darstellungen der beiden Hauptfiguren, Rosy McEwan und Kerrie Hayes (als Nebendarstellerin) aus. Georgia Oakley gewann den Preis als beste Drehbuchdebütantin.

In Deutschland wurde "Blue Jean" im Rahmen des Queerfilmfestes vom Verleih Salzgeber vorgestellt und seit letzter Woche läuft der Film regulär im Kino. "Blue Jean" ist sowohl vom Setting, vom Schauspiel und der Umsetzung ein eindrucksvolles Debüt und absolut empfehlenswert.

Elisabeth Nagy


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