Tim Ellrich überzeugte beim 54. Filmfestival in Rotterdam mit „Im Haus meiner Eltern“.
Unsere Kollegin Katharina Dockhorn berichtet nachfolgend von der 54. Ausgabe des International Filmfestivals Rotterdam (IFFR), das vom 30. Januar bis zum 9. Februar 2025 in der zweitgrößten Stadt der Niederlande stattfand und zu den wichtigsten Festivals in Europa zählt.
Tim Ellrich kann es auch am Tag nach der Preisvergabe beim 54. Filmfestival von Rotterdam nicht ganz glauben. Sein Film „Im Haus meiner Eltern“ wurde mit dem Tiger Special Jury Award ausgezeichnet. Die Hauptpreise gingen nach Kroatien (Tiger Film Competition) und nach Schweden (Big Screen Competition).
Die Gewinner der Tiger Awards setzen sich künstlerisch ganz unterschiedlich mit Ideologien auseinander, die in den vergangenen Jahrzehnten das demokratische Zusammenleben und den Frieden in Europa gefährdeten.
In seinem Dokudrama „Fiume o morte!“/“Rijeka or death!“ begibt sich der kroatische Regisseur Igor Bezinović mit einer Mischung aus Archivmaterial, Interviews und nachgestellten Szenen auf eine Spurensuche zur Invasion Rijekas durch den italienischen Ultranationalisten und Offizier Gabriele D'Annunzio im Sommer 1919. Der Film überzeugte auch die FIPRESCI-Jury.
Der Schwede Jon Blåhed führt in „Rörelser“/“Raptures“ nach Tornedalen im hohen Norden seiner Heimat in den 30-er Jahren. Im Zentrum seines starken Dramas steht eine Lehrerin, die nicht schwanger wird, weshalb sie selbst von den eigenen Eltern schräg angesehen wird. Mit einer Mischung aus Skepsis, Faszination, Gehorsam und Bewunderung folgt sie ihrem Mann, der sich zum autokratischen, selbstherrlichen Anführer einer Sekte mausert, deren glühende Anhänger den Weltuntergang erwarte.
Tim Ellrichs „Im Haus meiner Eltern“ gehört zu mehreren Filmen in den beiden Wettbewerben, die von den Biografien der Filmemacher inspiriert wurden. Er erzählt emotional berührend die Geschichte von Holle, die sich aufopferungsvoll um ihre Eltern kümmert, die das nur widerwillig akzeptieren. In deren Haushalt lebt auch Bruder Sven, der seit mehr als 20 Jahren an Schizophrenie leidet und jegliche ärztliche Behandlung verweigert.
„Die Geschichte ist sehr nah an meiner eigenen Biografie. Mein schizophrener Onkel lebte auch bei meinen Großeltern. Meine Mutter inspirierte Holle,“ erzählt der in Wien und Ludwigsburg ausgebildete Filmemacher. „Gleichzeitig weiß ich, dass solch Pflege kein Einzelfall ist. Sonst hätte ich die Geschichte nicht erzählt wollen. Bei seinem ersten Film will man keine Nabelschau betreiben.“
Nachbeben des Prager Frühlings
„Perla“, der zweite Film der Österreicherin Alexandra Makarová, führt ins Jahr 1981 in Wien. Ihre Titelheldin entscheidet sich nach langem Ringen für einen Besuch bei ihrem Ex-Freund und Vater ihrer Tochter, der auf der Flucht der beiden aus der Tschechoslowakei im Jahre 1968 geschnappt wurde und im Gefängnis landete. Perla geht ein hohes Risiko ein, ihr droht dort die Verhaftung. Die Filmemacherin wurde selbst in der Slowakei geboren, ihre Großmutter erlebte in Kosice den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts.
„Sie standen quasi über Nacht in der Stadt. Meine Großmutter versteckte damals die Fotos einer Kollegin aus ihrer Zeitungsredaktion, die am kommenden Tag erhängt aufgefunden wurde. Diese Erzählung hat mich sehr erschüttert,“ erzählt die Regisseurin zu den Anfängen des Projekts. Das Thema sei aber in ihrer Jugend Tabu gewesen.
Die niederländische Regisseurin Mercedes Stalenhoef wurde für „Ik zal zien“/„I shall see“ vom Schicksal eines Freundes inspiriert, der bei einem Autounfall erblindete und dem es schwerfiel, sich mit der Krankheit zu arrangieren. In ihrem Drama verschweigt sie daher nicht, wie schwer es für eine Teenagerin ist zu akzeptieren, dass sie nach einer Spielerei mit Silvesterfeuerwerk kaum noch sehen kann.
„Ich rede die Schwierigkeiten nicht klein, das steht mir nicht zu. Ich wählte aber einen optimistischen Ansatz. Sie findet neue Freunde, lernt ihre Träume der neuen Realität anzupassen und findet darüber wieder einen Sinn im Leben.“
Udo Kier als alter ego von Albert Oelsen
Autobiografisch ist sicher auch „The Bad Painter“, in Rotterdam deutscher Beitrag in der Big Screen Competition. Nach Oliver Hirschbiegels „Der Maler“ ist es der zweite Film über den Konzeptkünstler Albert Oehlen, diesmal in der Regie und mit Udo Kier als alter ego des Malers, der sich nach Los Angeles zurückgezogen hat. Dort begleitet ein Kamerateam den chaotischen Alltag und Schaffensprozess des exzentrischen Künstlers.
Seine internationale Premiere feierte in Rotterdam nach der Premiere beim Max-Ophüls-Festival „Rote Sterne überm Feld“ von Laura Laabs, einem wilden Ritt durch die revolutionäre Geschichte von Bad Kleinen, jedem Ort, an dem 1993 Mitglieder der RAF erschossen wurden.
Filmstill: "Red Stars Upon the Field"/Rote Sterne überm Feld"
Rotterdam bietet nicht nur Filme, sondern stets ein umfangreiches Rahmenprogramm im Festivalzentrum de Doelen. Mit seinen vielen Sälen und Räumen ist es genau der Ort, von dem die Planer des Potsdamer Platzes versprachen. Ein Festivalzentrum zum Verweilen, Austausch und Vernetzen. Die vielen Kinos in der Umgebung machen Rotterdam zudem zu einem Festival der kurzen Wege.
Unterstützung für Filmemacher im Exil
Cate Blanchett stellte im ausverkauften größten Saal mit Regisseur Guy Maddin den gemeinsamen Film „Rumours“ vor, in dem sie die deutsche Bundeskanzlerin gibt.
Als Botschafterin des guten Willens im Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) ließ sie es sich zuvor nicht nehmen, den von ihr mit initiierten Displacement Film Fund vorzustellen, in dessen Rahmen bis zu fünf Kurzfilme entstehen. Die Projekte werden mit je 100.000 Euro ausgestattet und werden im kommenden Jahr im Rahmen des Festivals gezeigt. Vor dem Dreh und der Premiere steht ein zweistufiger Auswahlprozess. Das Verfahren soll nach einem Jahr evaluiert, das Programm aber auf jeden Fall fortgeführt werden, versprach Tamara Tatishvili. Leiterin des Hubert Bals Fund, unter dessen Dach die Initiative angesiedelt ist.
Filmarchive unter Druck
Frédéric Maire vom Schweizer Filmarchiv diskutierte mit seiner Kollegin Sungji Oh aus Südkorea und Costa Gavras, Präsident der Cinémathèque française, wie das Filmerbe dem Publikum besser nähergebracht werden kann. Eines der Zauberworte dafür ist ein eigenes Kino, über das die drei Institutionen verfügen, und die gut besucht sind. Dem Bundesarchiv/Filmarchiv in Deutschland fehlt solch ein Ort. Weltweit ständen die Archive momentan aber vor ähnlichen Herausforderungen, schätzt der langjährige FIAF-Chef Frédéric Maire ein. Sie litten unter Finanzierungsproblemen, um Werterhaltung und Digitalisierung der Filme zu stemmen, da ihre Etats von den Regierungen entweder gekürzt oder eingefroren wurden.