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UKRAINE-SCHWERPUNKT bei der 74. BERLINALE

In mehreren Sektionen der 74. Berlinale laufen Filme mit Bezug zum UKRAINE-SCHWERPUNKT, ergänzt um eine Ausstellung im Foyer des polnischen Pilecki-Instituts am Pariser Platz.



Ein Bericht von Jagoda Engelbrecht:

„Natürlich leidet die Filmbranche, wie auch die ganze Kultur in der Ukraine unter dem Putin-Krieg“- sagt die bekannteste zeitgenössische Schriftstellerin Ukraines, Oksana Sabuschko.

„Obwohl in dieser Zeit in der Ukraine weniger Filme als sonst entstehen, so sind sie besser als je zuvor. Die „Kriegsgeneration“, d.h. diejenigen, die nach 2014 debütierten, hatte noch nicht wirklich Zeit über den Krieg zu sprechen, aber in ihrer Vision der Welt sind das Leben und der Tod schon vom Krieg stigmatisiert. Diese Künstler unter 40 haben etwas Wichtiges zu sagen. Für mich ist es die Stimme einer künstlerischen Reife, die diese Kriegsgeneration ausmacht.“


Sabuschko ist eine der bekanntesten Vertreterinnen der zeitgenössischen ukrainischen Kunst und Kultur. Sie reist viel mit Lesungen und Präsentationen ihrer Bücher durch die Welt. Der Kriegsausbruch am 24.2.2022 überraschte sie in Warschau, wo sie ihr Buch vorstellen sollte. Aus dem geplantem 2-tägigen Aufenthalt wurde eine wochenlange Exil-Odyssee, die sie in ihrem jüngsten Buch „Die längste Buchtour“, (2022, Literaturverlag Droschl) nachskizziert. Bei der diesjährigen Berlinale gehört Oksana Sabuschko der internationalen Wettbewerb-Jury an.

Zwei Jahre seit dem Beginn des Invasionskrieges Russlands in der Ukraine widmet das Festival dem für Europa blutendem Land wieder einen Schwerpunkt. Filme ukrainischer Regisseure sind in fast allen Sektionen vertreten. Während die tagesaktuelle Lage von den Medien abgedeckt wird, laden die nach Berlin gebrachten Filmproduktionen zur Reflexion ein.

Die im Forum laufende Dokumentation von Oksana Karpovych „Intercepted“, bietet die Möglichkeit, eigene Schlüsse über die Wahrheit der russischen Narration über diesen Krieg zu ziehen, der lange Zeit nur als „Spezial-Operation“ genannt werden durfte.

Der originelle Ansatz der Regisseurin - die Bildebene mit der Tonebene zu konfrontieren, stellt uns, die Zuschauer direkt mitten ins Geschehen. Aus dem Off hören wir Telefongespräche der russischen Soldaten, die irgendwo an der Front in der Südukraine, bei Mikołajev oder Mariupol sind und mit ihren Familien in Russland telefonieren. Im Bild sehen wir menschenleere, devastierte, zerbombte, verwüstete ukrainische Dörfer, Ortschaften, Gebäuden, einzelne verlassene Wohnungen mit ausgerissenen Türen, kaputten Fenstern und durchwühlten Habseligkeiten. Kein Mensch ist zu sehen. Die Trostlosigkeit des zerschlagenen Lebens schockiert, aber die mitgehörten Anrufe erschüttern.

Es überwiegen unreflektierte Wiederholungen der russischen Propaganda, dauerhafte Selbst-Positionierung als „Befreier von den Nazis“, unterstützende und sogar aufheizende Worte der angerufenen Mütter, Ehefrauen oder Schwester, ihre keifenden Bemerkungen über ukrainische Frauen und Kinder, die man „als Feind“ doch töten sollte.

Einige der russischen Kämpfer zeigen sich überrascht über das nun zerschlagene, gute Leben der Ukrainer. „Hier gibt’s alles“ sagen sie, Lebensmittel, von denen man in der russischen Provinz nur träumen kann, Kleidung, Schuhe und Technik, das in der Eile der Flucht zurückgelassen wurde. „Nimm doch die Sneakers für unsere Tochter“ rät eine der angerufenen Russinnen. „Und das Laptop könnte unsere Große in der Schule gut gebrauchen".

Die „Befreier“ sind selbst nicht frei. Aus ihren Anrufen hört man trotzdem oft Hochmut und Siegesgewissheit, Überzeugung von eigener Macht. Es gibt aber auch andere Töne: Einige beginnen zu zweifeln an den offiziellen Regierungskommuniqués, manche sehen die Aussichtslosigkeit ihrer eigenen Lage, noch andere verabschieden sich von der Familie, wohl wissend, dass sie nie lebendig zurückkommen.

Ganz selten ist die Sinnlosigkeit einer solchen „Spezial-Operation“ im Film so klar dargestellt. Oksana Karpovych läßt die Stimmen der Soldaten für sich selbst sprechen und doch stellt sie diese Menschen und das sie manipulierende System bloß.

Die 74. Berlinale hat einige weitere sehr interessante Dokumentationen im Programm. Auf meiner privaten Preisliste steht allerdings „Intercepted“ auf dem ersten Platz.

Eine persönliche Erzählung über ihre eigene Familie in Zeiten des Krieges bietet die ukrainische Journalistin Svetlana Lishchynska. Mit den bei wichtigen familiären Anlässen entstandenen Videoaufnahmen, bildet sie in „A Bit of a Stranger“ (Panorama) eine besondere Kriegschronik - erlebt von vier Generationen ihrer Familie. Die Koproduktion der Länder Ukraine / Deutschland / Schweden 2024 knüpft an den Film „Redaktsiya - The Editorial Office“ von Roman Bondarchuk (Alter 42 Jahre) an.

Geboren in Mariupol, hat die russischsprachige Autorin schon in den 90er Jahren die Stadt verlassen, um in Kiev zu studieren und journalistisch zu arbeiten. Ihre kleine Tochter ließ sie bei ihrer Mutter, der „Babuschka Valya“ in Mariupol. Als die Tochter (Sascha) erwachsen wird, kommt auch sie nach Kiev und gründet hier ihre eigene Familie. Nun wurde ihre Tochter, Stefania zwei Jahre alt und die Großmutter kam aus Mariupol zu der Geburtstagsfeier. Das war am 22.2.2022, zwei Tage vor dem Kriegsausbruch.

Stimmungen in der Gesellschaft und bei diesen drei Frauen zeigen Angst vor dem Ungewissen, Vorbereitungen auf den Krieg und gleichzeitig einen tiefen Unglauben daran, dass er nun wirklich kommt. Als die ersten Bombardements Mariupol zerstören, erfahren sie den Ausmass der Verwüstung von einem weiteren Familienmitglied, der Tante Larissa. Die junge Sascha, deren Mann wohl an die Front zieht, verlässt samt kleinem Töchterchen ihre Heimat und flüchtet nach London. In Kiev bleiben nun die Autorin und ihre 75-jährige Mutter.

Die Aufnahmen zeigen ihren Alltag in neuen Verhältnissen, häufigeren Stromausfall in der Stadt, das Heulen der Alarmsirenen und den Mut und die Tüchtigkeit der beiden Frauen, diesem Krieg zu trotzen.

Durch alte Fotos und Filmausschnitte sieht man auch die Veränderung in ihrer Einstellung zu Russland, russischer Sprache und zu Putin. Zuerst war er einfach der Regierungschef im Kreml, Russland und Ukraine waren „Schwestern“, Russisch war in der Südukraine die Landessprache. Jetzt sprechen alle besser oder schlechter - Ukrainisch.

Auf den alten TV-Aufnahmen vom Anfang des 21 Jahrhunderts richtet Putin die Neujahrsgrüße an das Volk, im Jahreswechsel 2022/23 hören die Frauen schon der ukrainischen Ansprache des Volodymyr Zelensky zu.

In ihrer intimen Erzählung untersucht Svetlana Lishchynska ihre Familienbande, ihre Beziehung zur Tochter, zur Enkelin und fragt, was grundsätzlich Liebe und Freiheit für sie bedeuten. Gleichzeitig schildert sie wie beiläufig die Emanzipation des ukrainischen Volkes von jahrelanger Abhängigkeit und Unterdrückung durch Russland. Diese behutsame Beobachtung ist der größte Wert dieser 90-minütiger Dokumentation.

Einen ganz anderen Beitrag liefert Roman Bondartchuk (nicht verwandt mit dem Oscar-Gewinner Sergej Bondartschuk („Krieg und Frieden“, „Ein Menschenschicksal“). Sein Film „Redaktsiya - The Editorial Office“, ebenfalls im Forum, spielt in der Zeit der ersten Invasion Putins auf die ukrainischen Territorien, zwischen 2014 und 2022.

Der Streifen erzählt die Geschichte von Jura, einem jungen Biologen und Fotografen, der sich besonders für die vom Aussterben bedrohte Arten der Murmeltiere interessiert und den nah von Cherson gelegenen Naturpark samt seiner Flora und Fauna im Rahmen des „Emerald Network of Europe“ schützen will. Die von ihm zufällig beobachtete Brandstiftung eines Teils der südukrainischen Steppe stellt Jura auf die Probe im Umgang mit seinen Arbeitgebern und Lokalpolitikern. Einerseits droht der Ortschaft, wie der ganzen südukrainischen Region durch Putins brachiale Vordrängen eine Öko-Katastrophe, andererseits herrscht auch in den lokalen Behörden immer noch Schlendrian und Willkür.

Umgeben von einer lethargischen Gesellschaft, die immer noch den korrupten Politikern huldigt und trotz einiger vulgärer Anti-Putin Graffiti auf den Hauswänden, nichts Wichtiges zustande bringt, sucht Jura, der noch bei seiner Mutter wohnt, eigentlich auch nur seine Ruhe.

Der 42-jährige Regisseur verfügt über eine besondere Beobachtungsgabe und weist in vielen witzigen wie liebevoll gezeichneten Szenen auf historisch gewachsene Fehler und Missstände. Auch das Engagement internationaler Politiker, wie Boris Johnson kommt hier vor.

Diese Medien- und Politsatire mit den Elementen von Science-Fiction, eine Koproduktion der Ukraine, Deutschland, Slowakei und Tschechien feierte ihre Weltpremiere am 16. Februar 2024 und ist nach dem zum Oscar nominierten Dokumentarfilm „Ukrainian Sheriffs“ (2015), Roman Bondartschuks zweiter Spielfilm.

Bondartschuks Spielfilm gibt auch den Anlass zu einer immersiven Ausstellung „Something Simple, Animalistic, Strong“ und einer Diskussion über die Lage in der Südukraine, die in Zusammenarbeit mit dem polnischen Pilecki-Institut am Pariser Platz veranstaltet wird.

Die Multimedia-Installation begleitet die Weltpremiere von "The Editorial Office" bei den 74. Internationalen Filmfestspielen Berlin und bildet den Raum der Cherson-Redaktion aus dem Film "The Editorial Office" nach, sodass die Besucher*innen in den Kontext der Region eintauchen können. Die Ausstellung öffnet die Tür zur Dimension des wilden ukrainischen Südens, wie wir ihn nur wenige Monate vor der russischen Besatzung kannten.

Zu den Exponaten gehören auch Arbeiten der Mitglieder des Filmteams. Fotos aus der Region Cherson und Porträts von Einheimischen, Interviews mit Medienvertretern, die die Agenda der Region geprägt haben, und Dokumentationen der Welt hinter den Kulissen.

Am Nachmittag des 17. Februar 2024 fand dort zudem eine Diskussion statt mit Roman Bondartschuk und Darja Averchenko sowie mit Dmytro Bahnenko, dem Star des Films, der derzeit in den Streitkräften der Ukraine dient. Weitere Teilnehmer waren der Regisseur Roman Bondartschuk, der Kameramann Vadym Ilkov, die Produzentin und Co-Drehbuchautorin Darya Averchenko sowie die Fotografen Olexandr Techynskyi und Li Biletska. Moderiert wurde das Gespräch von Ibrahim Naber, Chefreporter bei Welt & Welt am Sonntag. Im Mittelpunkt der Diskussion stand der Charakter und die Einzigartigkeit des ukrainischen Südens sowie die Auswirkungen der groß angelegten Invasion und der russischen Besatzung auf die Region.

Die Multimedia-Ausstellung ist noch bis zum 21. Februar 2024 zu sehen. Eintritt frei.
Öffnungszeiten: 18 - 21. Februar, 10:00 - 18:00 Uhr

Berlinale Special zeigt darüber hinaus mit dem Film „Turn in the Wound“ den Blick des amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Abel Ferrara auf die Erfahrungen der Menschen im Krieg in der Ukraine.

Synopsis:
„Begleitet von der Musik und der Stimme von Patti Smith, blickt Abel Ferrara auf die Erfahrungen der Menschen im Krieg in der Ukraine und beschäftigt sich mit Ursachen und Folgen von Konflikten und mit der Suche nach Frieden.“

Außerdem plant der European Film Market Sonderveranstaltungen und Berlinale Talents organisiert ein Treffen mit den ukrainischen Künstlern.

Jagoda Engelbrecht


Link: www.berlinale.de

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