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3 Filmkritiken zu aktuellen Kinostarts in der 4.+ 5. Kalenderwoche 2024

Unsere Filmkritiker*innen stöhnen bereits, wenn sie an den Beginn der 74. Berlinale mit hunderten von neuen Filmen denken, denn darüber hinaus gibt es noch reguläre Kinostarts im Januar und Februar 2024.



"THE HOLDOVERS" US-Dramödie von Alexander Payne um einen Internats-Schüler, der wegen Ungehorsamkeit das Weihnachtsfest im College mit seinem verhassten Lehrer verbringen muss. (USA 2023, 133 Minuten) Mit Paul Giamatti, Da’vine Joy Randolph, Dominic Sessa u.a. seit 25. Januar 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Ein Elite-Internat Anfang der 70er Jahre. Das Jahrzehnt ist noch jung. Und doch kann von Aufbruch keine Rede sein. Die Hoffnungen der 60er haben sich zerschlagen. Die verhärteten Strukturen an der fiktiven Barton-Schule lassen für einen Wandel keinen Raum. In dieses Setting setzt der Regisseur Alexander Payne ("Sideways") und sein Drehbuchautor David Hemingson, drei Figuren, die hier das Alte, das Vergangene und die Verletzungen der Vergangenheit zurücklassen und sich neu orientieren werden. Es ist das Schauspiel dieser drei Figuren, das den Film über sein Setting, eben die Verortung in den 70er Jahren, hervorheben wird. Dabei ist "The Holdovers" zum Teil Weihnachtskomödie, zum Teil Gesellschaftsstudie. Komik und Trauer gehen hier Hand in Hand. Dazu ruft Payne eine gehörige Dosis Wehmut und Nostalgie hervor.

Zuerst sollte man den Filmtitel erklären. "The Holdovers" heißt so viel wie "die Zurückgelassenen". Es ist Winter, die Weihnachtsferien stehen an. Nicht alle Schüler dürfen oder können in den Ferien nach Hause fahren. Es ist eine Schule für privilegierte Jungen, sowie die Staaten auch eine Gesellschaft für privilegierte Männer sind. Frauen sind hier, gemäß der Zeit, Objekt der Begierde, Mütter und Servicekräfte. Ein Lehrer wird stets ausgewählt, der vor Ort bleibt und eine Art Beschäftigungsplan durchzieht. Die Wahl vom Kollegium fällt auf den misanthropischen Paul Hunham (Paul Giammati), den eh niemand leiden kann. Weder die Schüler noch die Kollegen. Hunham hat sich zu sehr in seine Existenz als Lehrer ohne Achtung eingeigelt, als dass ihn die Sticheleien erreichen würden. Er lehrt, auch nicht ganz zufällig, die Geschichte des Römischen Reiches und seine Strenge, gepaart mit einer Freude, die zukünftige Elite der amerikanischen Gesellschaft ob ihrer Fehler abzustrafen, macht ihn berüchtigt. Es ist sicherlich nicht unbeabsichtigt, dass wir in diesen Schülern und ihrer Haltung die wiedererkennen, die heute die USA politisch lähmen.

Aus der Schar der Zurückgebliebenen, die nach und nach aus der Erzählung fallen, sobald sie ihre dramaturgische Funktion erfüllt haben, sticht ein Junge heraus. Angus Tilly ist der Exzentriker unter den Schülern und ihn trifft das Schicksal doppelt, als er nicht doch noch aus der Ferienstarre befreit wird. Seine Rolle wurde sehr gut besetzt mit Dominic Sessa. Auch er ist ein Internatsschüler, der sich für diese seine erste Rolle beworben hatte. Angus und Hunham sind Spiegelbilder ihrer selbst. Hunham erkennt sich in dem Jungen wieder und dem Jungen fehlt es an einer Vaterfigur, die er immer mehr in Hunham erkennt.

Die dritte Figur ist auch eine Zurückgelassene. Mary Lamb (Da'Vine Joy Randolph) ist Köchin in dem Internat. Sie hat die Stelle an der Schule nur angetreten, um ihrem Sohn die Möglichkeit zu geben, durch ein Stipendium eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Er durfte Schüler an dem Internat für die gehobene Klasse und die Gutverdienenden sein. Doch er ist es, der im Vietnam-Krieg gefallen ist und der bereits aus dem Gedächtnis der Mitschüler gelöscht wurde.

Diese drei Figuren sind eng in das Korsett der 70er geschnürt. Doch es ist ihre Darstellungskunst, die hier noch über dem Regietalent Payne herausragt und den Film, der sich zu sehr auf sein Setting verengt, die ihn sicherlich zum Klassiker machen wird. Eine Oscar-Nominierung für Paul Giamatti galt bereits früh als ausgemacht. Die stille Trauer der Mary Lamb brachte Da'Vine Joy Randolph, bekannt aus der Fernsehserie "Only Murders in the Building" und z.B. dem Film "The United States vs. Billie Holiday", eine Nominierung als beste Darstellerin in einer Nebenrolle ein. Dominic Sessa ist ein unbeschriebenes Blatt. Bisher besuchte er die Deerfield Academy, eine der Schulen, die nicht so modern aussehen und darum als Drehort verwendet worden war. Zuvor spielte er mit Begeisterung am Schultheater. Für sein Spiel in "The Holdovers" setzte ihn das Branchenblatt Variety prompt in die Liste der "10 Actors to Watch". Zurecht.

Alexander Payne wollte nicht nur einen Film drehen, der in den 70ern spielt, er sollte auch so wirken, als wäre er in den 70ern gedreht worden. Die 70er, die auch sein filmisches Coming-of-Age verorten, sollten nicht nur in Ausstattung und Kostüm lebendig werden, sondern auch den Zeitgeist der Figuren und ihrer Entwicklung widerspiegeln. Einer Zeit, in dem der junge amerikanische Film auf Geschichten von authentischen Figuren setzte, statt auf Action und Attitude. Für Payne sollte "The Holdovers" eine Art Zeitkapsel in diese Vergangenheit sein. Dabei stand ein viel älterer Film Pate. Das war Marcel Pagnols "Merlusse" (1935), über einen Lehrer, der die Weihnachtsferien mit seinen Schülern an einem Internat verbringt und diese besser kennen lernen wird.

Paul Giamattis Lehrerfigur ist kein Sympathieträger, er ist sogar in Statur und Haltung eher lächerlich. Und doch geht er einem irgendwann zu Herzen. Das gleiche gilt für den aufsässigen Widerpart in dem jungen Schüler Angus Tilly. Seine Leck-mich-am-A-Haltung wird nach und nach aufgebrochen. Mary Lamb ist eine Figur, der man das andere Amerika aufgebürdet hat, die als schwarze, alleinerziehende Frau auch noch alles verliert, man spürt ihren Schmerz, aber man bemitleidet sie nicht.

"The Holdovers" ist Kino aus einer Zeit, in der alles im Stillstand verharrte, wenn nicht sogar sich zurückwendete. Alexander Payne nimmt das Beste aus der New Hollywood-Zeit und versucht in dieser Zeit, die auch vom Stillstand und der Rückwende in eine schlechtere Zeit geprägt ist, dem Mainstream-Kino einen Impuls zu geben. Das ist ihm vielleicht nicht ganz gelungen. Aber seine Figuren werden bleiben.

Elisabeth Nagy


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"EINE MILLION MINUTEN" Drama von Christopher Doll um eine vierköpfige Familie, die wegen einer Störung der Feinmotorik ihrer kleinen Tochter eine zweijährige Auszeit aus dem stressigen Alltagsleben nehmen will. (Deutschland 2024, 123 min.) Mit Tom Schilling, Karoline Herfurth, Pola Friedrichs, Joachim Król, Godehard Giese u.a. seit 1. Februar 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Der Film "Eine Million Minuten" basiert auf dem autobiografischen Roman von Wolf Küper, der zeigt, wie man alltägliche Herausforderungen mit gutem Willen meistern kann.

Wolf Küper (Tom Schilling - "Crazy", "Oh Boy", "Werk ohne Autor") ist viel unterwegs. Er ist wissenschaftlicher Berater der UN, wo er für den Klimawandel kämpft. Für seine Familie bleibt nicht viel Zeit. Seine Frau Vera (Karoline Herfurth - "Das Parfüm"; Regie: "Wunderschön") arbeitet halbtags im Homeoffice als Bauingenieurin, schmeißt den Haushalt und kümmert sich um die beiden Kinder, den einjährigen Simon (Piet Levi) und seine Schwester, die fünfjährige Nina (Pola Friedrichs) die eine gesundheitliche Entwicklungsverzögerung hat und viel Aufmerksamkeit braucht. Eine Belastung mehr für Vera, während ihr Mann Karriere macht.

Vera bohrt immer wieder, warum er nicht öfter zu Hause sei. Auch der Kinderarzt beteuert, dass gemeinsame Zeit das beste Heilmittel für Nina sei. Wolf versucht sein Bestes zu geben. Als er Nina eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest, überrascht sie ihn mit einer tollen Idee: „Ich wünschte, wir hätten eine Million Minuten. Nur für die ganz schönen Dinge“. Wolf beginnt zu Grübeln. Da schickt seine Tochter noch einen Satz hinterher: „Gute Väter lesen immer 3 Geschichten“.

Eine Million Minuten entspricht 694 Tage - also etwa zwei Jahren. Wolf und Vera beratschlagen eine Entscheidung und beschließen ihren Hausstand zu verkaufen, um eine zweijährige Weltreise anzutreten, die nicht nur Ninas, sondern auch die Welt ihres kleinen Bruders auf den Kopf stellt. Letztendlich geht es um die (Un-)Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Ihr erstes Ziel ist Thailand. Wolf konnte seine Chefin überzeugen, dass er seine Arbeit auch online am Strand erledigen kann. Das geht eine Zeitlang gut, dann stellt er fest, dass er nicht richtig bei seiner Arbeit ist, auch nicht richtig bei der Familie und wo er überhaupt sei. Auch Vera arbeitet halbtags weiter. Gar nicht so einfach, denn an Thailands Stränden funktioniert die Internetverbindung nicht immer durchgehend. Sie packen ihre Sachen und machen sich auf die Reise nach Island. Wolf fühlt, dass eine gemeinsame Zeit weitaus mehr Wert ist als seine Karriere. Er gibt seine Arbeit auf und übernimmt die Rolle als Hausmann, während seine Frau dem attraktiven Nachbarn bei der Sanierung seines Hauses zur Seite steht und dabei aufblüht, kümmert sich ihr Mann um Kinder und Haushalt. Eine leichte Eifersucht ist bei Wolf nicht zu übersehen. Was im Leben wirklich zählt, entscheidet jeder für sich, hoffentlich mit dem richtigen Gespür.

Dank des authentischen Spiels der beiden Hauptdarsteller vergisst man beinahe einem Spielfilm beizuwohnen. Wie beide, besonders Tom Schilling empathisch mit den Kindern umgeht, wie locker und echt sie ihre Dialoge sprechen, macht den Film zu etwas Besonderem. Von Karoline Herfurth kennt man das schon aus den vorhergehenden Filmen. Zum ersten Mal führt Karolines Lebenspartner Christopher Doll Regie. Er war bisher bei ihren Werken als ihr Produzent dabei.

„Eine Million Minuten“ ist ein berührender und mitreißender Film, mit grandiosen, natürlichen Darstellern, mit einem Experiment, dass wohl überlegt sein muss. Wolf tut für einige Zeit das, was man von Müttern für selbstverständlich hält. Für viele Männer ist so ein Wechsel mit einem Gefühl von einem Selbstwertverlust verbunden. Es geht auch um bezahlte und unbezahlte Arbeit. Nina hat beschlossen, in Island Feuerwehrfrau zu werden.

Ulrike Schirm


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"GREEN BORDER" Drama von Agnieszka Holland um Geflüchtete aus dem Nahen Osten in der sogenannten "grünen Grenze" zwischen Belarus und Polen, das mit dem Spezialpreis der Jury auf der Mostra von Venedig im letzten Jahr ausgezeichnet wurde. (Polen / Deutschland / Belgien / Frankreich / Tschechien / USA / Türkei, 2023; 147 Min.) Mit Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Ataï und vielen anderen. Seit 1. Februar 2024 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Eine Familie sitzt im Flieger. Der Flug bringt sie nicht in die Ferien. "Green Border", der aktuelle Film der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland ("Hitlerjunge Salomon", zuletzt: "Charlatan"), begleitet ihre Akteure von der Kriegshölle in Syrien in eine ebenso brutale Hölle, in das Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen.

Lukaschenko, belarussischer Staatsoberster, hatte den Flüchtenden aus Syrien und Afghanistan den Weg von Belarus nach Polen schmackhaft gemacht. Eine Provokation des Westbündnisses unter der Prämisse, dieses zu schwächen. Der Białowieża-Wald, ein Urwald mitten in Europa, ist hier nun die Bühne für ein zynisches Ping-Pong-Spiel zwischen Grenzlern auf der polnischen und Grenzlern auf der belarussischen Seite. Die hohen Bäume verschlucken die Grausamkeit an dieser Grenze, die nicht nur das Grün, sondern alle Farbe verloren hat. Hier werden die Reisenden zum Spielball der politischen Mächte. Menschenrechte gelten hier nichts. Die EU zeigt sich hier als Festung, die nicht gewillt ist, von ihrem Reichtum etwas abzugeben.

Mutter, Vater, 3 Kinder, darunter ein Kleinkind, dazu noch der Großvater, sie sind auf der Reise zu Verwandten in Schweden. Alles ist gut geplant und die Schleuser bezahlt. Schweden ist weit, zuerst müssen sie das gelobte Land, die Europäische Union erreichen. Agnieszka Holland wählt immer wieder individuelle Schicksale und ordnet sie in einen größeren Kontext ein. Filmisch nimmt sie sich nicht zurück.

Ihr "Green Border" ist ihr ein Anliegen, das sie mit Laiendarstellern, die diese Hölle selbst kennen, inszeniert hat. Kino, das soll aufrütteln. Weltpremiere feierte ihr Film auf dem Festival in Venedig. In ihrem Heimatland Polen reagierte die, inzwischen ehemalige erste Riege des Staates mit einer Rufmordkampagne. Obwohl man zu dem Zeitpunkt, den Film noch gar nicht hatte sehen können, galt sie als Vaterlandsverräterin, die ihren Film mit faschistischer Propaganda versetzt hätte.

Ihr Urteil zu den Praktiken an der Grenze und der Europäischen Abschottung ist vernichtend. "Green Border" ist ein Herausbrüllen von Missständen, vor denen man, besonders mit privilegiertem EU-Mitgliedsstaatenpass gerne die Augen verschließt. "Green Border" schont das Publikum nicht. Die Lauflänge ist kaum auszuhalten, dabei sitzt man im sicheren Kinosessel und nicht auf dem nackten Waldboden. Man ist nicht am verdursten und muss ansehen, wie militarisierte Kräfte das vom letzten bißchen gekaufte Wasser vor einem ausschütten.

Die Familie schafft es tatsächlich die Grenze zu überwinden, landet in Polen, nur um dort aufgegriffen, und zurück nach Belarus gestoßen zu werden. Diese "Push-Backs" sind illegal, aber die Regel. Auf Verunsicherung folgt beim zigten Hin-und-Her die Entkräftung. Ist es zuerst Unverständnis, bangt man irgendwann um das nackte Leben. Resignation macht sich breit. Agnieszka Holland wechselt zweimal die Perspektive. Sie zeigt junge polnische Grenzsoldaten, die von ihren Ausbildern indoktriniert werden, dass sie ihr Land vor Terroristen und Vergewaltigern schützen müssen. Die, die da über die Grenze kommen, mögen harmlos erscheinen, aber sie gefährden die polnische Gesellschaft. Von Parolen aufgepeitscht und fest im Drill agieren sie ohne eine Unze Barmherzigkeit.

Es sind Protestgruppen, die zu helfen versuchen, soweit das legal möglich ist. Aktivisten und Aktivistinnen fahren in die Wälder, klären die Flüchtenden darüber auf, wo sie gelandet sind. Viel mehr können auch sie nicht tun. Holland spart nicht mit Hoffnung. Ein junger Soldat fühlt sich sichtbar unwohl in seiner Rolle. Splittergruppen von Aktivisten und Aktivistinnen loten den schmalen Pfad, was noch erlaubt ist, aus und übertreten diesen. Gerade dieser Schwenk auf diese andere Seite verstärkt das Gefühl der Ohnmacht und ruft nach einem Aufbegehren gegen diese Missstände. Dass es auch anders geht, das ist ein Epilog, den Holland setzt, obwohl er nicht unproblematisch ist. Dass wir Europäer Flüchtende unterschiedlich werten und dem einen helfen, während wir andere wortwörtlich verrecken lassen, ist eine bittere Erkenntnis. Wofür die, die dies betrifft, so gar nichts können. Was dieser Schwenk von 2021 auf 2022 jedoch auch aussagt, ist, dass die Flüchtenden nicht zwingend aus der Ferne kommen.

Im Aufbau ist "Green Border" streng gesetzt. Die Wahl, diese Hölle in schwarz-weißen Bildern zu zeigen, gibt dem Geschehen eine noch dringlichere Note. Gleichzeitig gibt es der Handlung auch eine Zeitlosigkeit. All das könnte auch aus einem Film über den I. oder II. Weltkrieg stammen. Das, was wir jetzt geschehen lassen, lastet aber an unseren Händen. Auch das zeigt Agnieszka Holland und sie will uns das Wegsehen austreiben. Bei den 80. Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2023 gewann Agnieszka Holland den Spezialpreis der Jury.

Elisabeth Nagy


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