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Drei Filmbesprechungen und jetzt noch ein Interview in der 3. KW 2023

Nach der Kapitalismusgroteske TRIANGLE OF SADNESS folgt nun mit BABYLON - RAUSCH DER EKSTASE eine Satire auf die Filmbranche.



"BABYLON - Rausch der Ekstase" Tragikomödie und Historiendrama von Damien Chazelle über 100 Jahre Filmgeschichte und ihren Ekstasen. (USA, 2022; 189 Min.) Mit Brad Pitt, Margot Robbie, Diego Calva u.a. ab 19. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Unsere Filmkritik:

Noch immer läuft erfolgreich in den Arthouse Kinos Ruben Östlund Kulturclash "Triangle of Sadness", der den Kapitalismus bei einer in Not geratenen Kreuzfahrt mit einigen Superreichen auf Korn nimmt. Die bitterböse Satire entpuppte sich bereits zum Ende des letzten Jahres als absoluter Publikumsrenner, auch wenn er bei den Golden Globes nicht als bester fremdsprachiger Film in die nähere Auswahl kam. Dazu war die Konkurrenz mit über 100 Bewerbern zu stark.

Stattdessen konnte aber die neue US-TV-Serie "White Lotus" bei den Golden Globes punkten. Die Satire auf verwöhnte Superreiche im Luxusurlaub, dreht sich um ein ähnliches Thema und macht sich gnadenlos über die US-Gesellschaft lustig, während "Babylon – Rausch der Ekstase" nur in der Sektion beste Filmmusik gewann.

Man muss abwarten wie sich "Babylon – Rausch der Ekstase" bei der anstehenden OSCAR-Verleihung schlägt. Immerhin hatte Drehbuchautor und Regisseur Damien Chazelle 2017 mit seinem Film-Musical "LA LA Land" nicht nur für die beste Musik und den besten Song, sondern auch für die beste Regie, beste Kamera, bestes Szenenbild, beste Darstellerin abräumen können.

„Babylon“ ist ein Symbolname und wurde bereits 2014 für Danny Boyles Poizeidramedy und für die gleichnamige deutsche ARD-Kriminalfernsehserie "Babylon Berlin" aus dem Jahre 2017 verwendet.

Der aktuelle Kinofilm hat damit fast gar nichts zu tun, außer der Tatsache, dass der Begriff »Babylon« ähnlich wie »Sodom & Gomorra« für Unzucht und perverse Gelüste steht, was sich ziemlich bald am Anfang des Filmes auf einer wilden Filmparty drastisch äußert, denn "Babylon“ steht auch für den Sitten- und Moralverfall wenn Menschen sich gehen lassen und ihr Leben auf kurzfristige Belohnungen und Spaß reduzieren.

Der Film will natürlich anecken und zeigen, dass es auch in 100 Jahren Film nicht immer zum Besten steht. Auf einer erfolgreichen Filmabschlussparty zeigt sich nackte Dekadenz nicht nur in totalem Besäufnis, es kommt auch zu einem Drogentoten. Stars und Sternchen werden erst hoch bejubelt und im nächsten Moment folgt der tiefe Fall, wenn sie gegen andere ausrangiert werden und bald bitter enttäuscht sind.

Beim Schnelldurchlauf vom Stummfilm zum Tonfilm zeigt sich das wahre Können der Darsteller*innen oder das klägliche Versagen, denn beim Tonfilm müssen die Schauspieler*innen beweisen können, dass sie ihr Handwerk beherrschen und es nicht zu endlosen Wiederholungen von Takes kommt, weil manch einer den Text vergisst oder die Aussprache nicht stimmt.

Und so sind Reichtum und ihre Pracht auch in der Filmbranche schnell wieder vergänglich. Spätestens kommt der Absturz im Alter. Nur wenige schaffen den Aufstieg oder ein erfolgreiches Comeback. Einige werden reich, andere werden ausgebeutet oder scheitern während ihrer Karriere.

Zudem unterliegt die Geschichte des Kinos einem ständigen Wandel weil die Technik sich immer weiter entwickelt.

Manny Torres (Diego Calva), ein ehrgeiziger Schauspieler und Sohn mexikanischer Einwanderer, erlebt diesen Fortschritt hinter den Kulissen der Traumfabrik mit eigenen Augen. Die Höhenflüge in Hollywoods Filmbranche locken darüber hinaus noch zahlreiche andere Interessenten und Darsteller aus unterschiedlichen Ländern an, sodass am Set mancherorts ein babylonisches Sprachgewirr entsteht und nicht jeder jeden versteht. Zudem bahnt sich eine tiefe Krise für etablierte Stars wie Jack Conrad (Brad Pitt) oder aufstrebenden Sternchen wie Nellie LaRoy (Margot Robbie) an, in die sich unser Held Manny verliebt hat, denn kaum ein Hollywoodfilm kommt ohne Liebesdrama aus.

Wenn es aber mit dem Geld beim Dreh knapp wird, können es auch Publikumsmagneten nicht vermeiden, sich mit fadenscheinigen Gestalten einzulassen – und plötzlich geht es nicht nur vor der Kamera um Leben und Tod...

W.F.


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"MARIA TRÄUMT – Oder: Die Kunst des Neuanfangs" romantische Feelgood-Komödie von Lauriane Escaffre & Yvo Muller (Frankreich, 2022; 92 Min.) Mit Karin Viard, Grégory Gadebois, Noée Abita u.a. ab 19. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Nach mehr als 80 Filmen, zahllosen Preisen, darunter drei Césars, zählt die fast 57-jährige Karin Viard aus Rouen zu Frankreichs größten Stars, mit einer vielseitigen emotionalen Bandbreite.

In „Maria träumt - Oder: Die Kunst des Neuanfangs“ spielt sie eine biedere Haushälterin, verheiratet, die heimlich Gedichte schreibt. Und weil sie wegen eines Todesfalls gerade ihren Job verloren hat, sieht man sie nun wie sie ihre Vorstellungsrede für einen neuen Job als Haushälterin probt.

Maria findet eine Putzstelle an der renommierten Pariser Académie des Beaux Arts. Schon am nächsten Tag passiert ihr ein Malheur. Wenn sie putzt, dann gründlich. Beherzt wischt sie zerlaufene Butter von einem Sockel, die sich im Nachhinein als das Werk eines brasilianischen Künstlers entpuppt.

„Oh, die „Butterschmelze“ ist weg“, tönt es kurz durchs Haus.

Hausmeister Hubert (Grégory Gadebois), gute Seele des Hauses und heimlicher Hobbytänzer, der sich Online-Tutorials anschaut und den perfekten Hüftschwung übt, am liebsten nach dem Elvis Song: „It was a night, oh oh what a night. It was it really was such a night…, rettet Maria.

Später erzählt Maria ihrem Mann (Philippe Uchan), dass viele Kunstwerke aus Lebensmitteln bestehen. Doch der interessiert sich nicht für Kunst. Alles ist neu für Maria. Neugierig läuft sie durch die Räume, bestaunt die Avantgarde-Kunst und ist offen und hilfsbereit. Es dauert nicht lange und Maria freundet sich mit dem kauzigen Hausmeister an.

Die bisexuelle Studentin Naomie (Noée Abita) plant eine Vulva- Ausstellung. Maria, die sich in ihrer offenen Art auch mit ihr angefreundet hat, erklärt dem Hausmeister, was es mit der Ausstellung auf sich hat und hilft ihm beim Befestigen der Schnüre. Zwischendurch passiert ihr mal wieder ein Missgeschick, kurzerhand wird sie selbst zum Teil einer Präsentation.

Die künstlerische Atmosphäre in diesem Haus überträgt sich mehr und mehr auf Maria und ihre verborgenen Talente kommen immer öfter zum Vorschein, bis sie sogar den Mut fasst und als Aktmodell agiert. Die Unsicherheit vor ihrer Nacktheit schwindet immer mehr. Sie übt verschiedene Posen und wird dabei von dem Hausmeister, ohne, dass sie es ahnt, beobachtet. Dass zwischen den beiden eine starke Sympathie entstanden ist, ist unübersehbar. Dass sie seit 22 Jahren verheiratet ist, hat sie ihm gebeichtet.

Es ist total erfrischend mit anzusehen, wie Karin Viard in der Rolle der Maria spielerisch immer mehr zu sich selbst findet und ihr altes Leben, nach durchaus nachdenklichen Momenten verlässt und sogar eine neue Liebe findet. Die Bildidee, wenn sich Maria und Hubert umarmen und dabei von einer digitalen Kamera aufgenommen und im selben Moment auf eine elektronische Leinwand verfremdet anzusehen sind und zu einer Einheit verschmelzen, lässt das Ende erahnen.

Das Regie-Duo Lauriane Escaffre und Yvonnick Muller haben auf beschwingt-romantische Weise mal wieder bewiesen, dass die sprichwörtlich französische Leichtigkeit, keine hohle Phrase ist. Beide tauchen in komödiantischen Nebenrollen auf.

Ulrike Schirm


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"SEASIDE SPECIAL - Ein Liebesbrief an Großbritannien" Dokumentarfilm von Jens Meurer. (Deutschland / Belgien, 2022; 93 Min.) Gewinner des Publikumspreis des Cambridge Film Festival und eine "Lobenden Erwähnung" auf den Hofer Filmtagen. Ab 19. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Synopsis:
Jeden Sommer veranstaltet eine exzentrische Künstlergruppe die weltweit letzte „End-of-Pier-Varieté -Show“ im ostenglischen Seebad Cromer. 15 Meter über dem Meer, am Ende der Seebrücke mitten über der tosenden Nordsee. Doch der Ort ist noch aus einem anderen Grund etwas ganz Besonderes. Cromer ist ein Mikrokosmos, der stellvertretend für ganz Großbritannien steht. 2016 stimmten hier fast zwei Drittel der Wähler für den Brexit. Doch sowohl in Cromer wie auch im Rest des Landes erweist sich der Austritt aus der Europäischen Union als schmerzhaft und spaltet die Gemüter. Der Filmemacher Jens Meurer verfolgte in Cromer das Jahr der endgültigen Entscheidung über den Brexit.

Seaside Special ist eine deutsch-belgische Koproduktion, hinreißend auf 16mm Film gedreht, bei dem die Zuschauer*innen einen Mikrokosmos des modernen Großbritanniens inmitten von gewaltigem Wandel erleben.

Interview mit Regisseur Jens Meurer:
die Fragen stellte Angelika Kettelhack.

Wie kam es, dass Sie als Deutscher zur Zeit des Brexit einen so britischen Film wie „SEASIDE SPECIAL“ drehen konnten?

Ja, wir sind eine deutsch-britische Familie mit drei Kindern. Und wir haben mit der ganzen Brexit-Geschichte im Laufe der Zeit mehr zu tun gekriegt als uns lieb war. Also das ist ein echtes Thema in unserer Familie geworden.


Für Sie als Europäer oder als Bürger von Groß-Britannien?

Nicht zuletzt deshalb weil es für uns praktisch bedeutet, dass es uns irgendwie doppelt betrifft… Unsere Kinder, die eher Deutsche sind da sie nie in Großbritannien gelebt haben, können leider auch nicht in England studieren weil wir uns das jetzt einfach nicht mehr leisten können. Es ist nämlich so, dass mittlerweile auch Briten, die in der EU leben oder Kinder einer britischen Mutter sind, so gehandhabt und behandelt werden wie chinesische Oligarchen-Kinder. Ein Studium in Great Britain: Das kostet inzwischen über 30.000 Pfund pro Jahr. Und das können wir uns nicht leisten. Will heißen: Diese ganze Brexit-Bewegung hat bei mir auch persönliche Auswirkungen. Natürlich auch weil ich Europäer bin, der sehr bedauert, dass es diese Entwicklung nahm.


Was macht man dann als Filmemacher?

Erstmal muss man gar nichts machen, kann man gar nichts machen. Und wenn man was machen möchte, ist es ja auch nicht so, dass die ganze Welt jetzt darauf wartet, dass ausgerechnet ich nun nach England fahre und dort Politiker interviewe. Oder mit dem Zeigefinger nochmals darauf aufmerksam mache, dass das Quatsch ist, dass der Brexit sich nicht rechnet und dass nichts wirklich gutgehen wird.

Bei mir passierte etwas ganz anderes: Die Schwiegereltern hatten uns –und das ist jetzt um die zehn Jahre her– eingeladen. Die leben in der Nähe von Cambridge, also nicht allzu weit nördlich von London. Etwa auf halber Strecke Richtung Nordsee / Ärmelkanal. Und so fahren Sie jeden Sommer dort ans Meer, genauer gesagt nach Cromer an der Norfolk-Küste.


Das ist doch diese sehr britische, sehr kleine aber bekannte Küstenstadt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie nach englischer Meinung näher an Amsterdam liegt als an London.

Ja, Sie ist nur so weit entfernt „Soweit wie die Krähe fliegt“ –wie man in England sagt. Wohl deshalb fahren die Schwiegereltern jeden Sommer dort hin mit ihrem deutschen relativ kleinen Wohnwagen.


Also auch ein bisschen aus Gewohnheit?

Nein, sicher nicht nur deshalb… Denn Cromer hat schon auch ein ganz besonderes Feature. Nämlich es gibt dort eine wunderschöne Seebrücke, die man auch ein Pear nennt. Auf dem steht am letzten Ende das letzte überhaupt in der Welt noch funktionierende Varieté-Theater.


Solche langgezogenen Stege aus Holz existieren in Deutschland ja ebenfalls an der Ostsee… Dort werden auch manchmal Konzertabende veranstaltet.

Aber dort, in Cromer, steht am Ende etwa auf einer Höhe von 12 oder mehr Metern ein hölzerner Palast. Und da drin ist ein gar nicht so kleines Theater aus viktorianischen Zeiten. 500 Leute passen dort als Zuschauer rein. Und das sieht man von Außen gar nicht so. Und das Ganze ist –je nach Ebbe und Flut– zehn oder zwölf Meter über dem Meer, über der Nordsee, die früher dort auch „Die German Sea“ genannt wurde.

Und meine Schwiegereltern haben die ganze Familie eingeladen, sich diese Schau dort mal anzusehen. Und als guter Schwiegersohn habe ich natürlich gute Miene zum bösen Spiel gemacht und mich gefreut. Und insgeheim irgendwie gedacht: „Oh Gott, was wird das denn jetzt?

Total altmodisch und verkrustet britisch?“ — Aber mir ging es dann so, dass ich mich nach 10 Minuten total verliebt habe in diese Art von Theater, in diese Art von Show. Die nämlich –man kann das altmodisch nennen… –aber man kann es eigentlich auch futuristisch nennen. Denn diese Show ist komplett echt von Menschen für Menschen gemacht: Das ist kein Hobby, das ist kein Kleinkunst-Verein, sondern das ist eine Besetzung oder besser ein Team von 16 Leuten, die mit nur winzigen Räumen hinter der Bühne zwei Mal am Tag so eine Dreistunden-Show mit Singen, Tanzen, Zaubereien und vor allem mit Comedians auf die Beine stellen. Eine Show, die einfach nur gut tut. Eine Show von Menschen für Menschen.


Wann kam für Sie der Punkt, an dem Sie von der ganz leichten Verachtung zur heimlichen Bewunderung wechselten?

Ich hatte mir damals das Souvenir-Programm gekauft und mir geschworen, dass ich sowas auch mal als Dokumentarfilm machen könnte. Das musst du festhalten: „Mal irgendwann musst du da drüber einen Film machen!“

Und als dann das Referendum kam, als sich dann der Brexit andeutete und klarer wurde, dass das wirklich geschehen würde, hatte ich so das Gefühl: Das ist es! Geh da nach Großbritannien jetzt nicht hin, um einen anklagenden, ernsten, journalistischen, politischen Film über Populismus zu machen…

Sondern mache das Gegenteil! — Das können Sie als Zuschauer gleich am Anfang sehen. Da steht nämlich auf der Leinwand nicht „Ein Film von Jens Meurer“, sondern da steht: „Ein Liebesbrief von Jens Meurer“.

Ich habe mir gedacht, das wäre meine Gegenwehr, dass wir uns hier als Menschen nicht unterkriegen lassen. –– Eine Gegenwehr auch für diese Leute, die sagen: „Fucking Johnson!“ oder „Go off“ (Hau ab!)


Wollten Sie denn gar nicht gegen den Brexit protestieren?

Meine Gegenwehr war, einen Film zu machen, der den wunderbarsten britischen Ort, den ich da gefunden hatte –in meiner Zeit– zu umarmen und irgendwie auch so festzuhalten, dass wir merken, was uns da verloren geht bei dieser elenden Trennung.

von Angelika Kettelhack

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