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Sollen russische Filme auf den Index? - Unsere Filmkritik zu »Abteil Nr. 6« und mehr...

CineStar wollte russischen Film boykottieren. Manche Festivals wollen russische Filme zwar nicht mehr zelebrieren, systemkritische Werke aber dennoch zeigen, während andere jegliche Aufführungen ablehnen.



Alljährlich gab es mehr als 50 Film Festivals in Berlin vor der Pandemie. Darunter auch die Russische Filmwoche Berlin, die sich im August letzten Jahres noch beim Netzwerk der Berliner Filmfestival präsentierte.

Inzwischen sind sogar den Berliner Bühnen die Zuschauer abhanden gekommen und nicht alle Filmtheater werden wegen der weiterhin hohen Inzidenzzahlen sofort jegliche Beschränkungen fallen lassen, sondern die bisher angewendeten Sitzabstände vorübergehend beibehalten, wie uns eine Spielstätte der Yorck Kino Kette mitteilte.

Auf der Berlinale war der russische Überfall auf die Ukraine noch nicht abzusehen, sodass das Interesse an systemkritischen russischen Filmen ungebrochen hoch war. Inzwischen hat sich das Blatt gewandelt.

Den jetzt gestarteten und kontrovers diskutierten russische Film "Abteil Nr. 6", den wir bereits im letzten Jahr beim Cottbuser Festival des osteuropäischen Films per Stream gesehen hatten, wollte CineStar eigentlich boykottieren. Glücklicherweise gab es ein Einlenken, während das nächste Woche startende Festival im litauischen Vilnius den Film nicht zeigen will und weitere vier russische (Ko-) Produktionen aus dem Programm gestrichen hat, um der Aufforderung der ukrainischen Filmakademie zum Boykott russischer Filme, Folge zu leisten.

Obwohl Yuriy Borisov, der junge Star von "Abteil Nr. 6" die Petition »Nein zum Krieg« am ersten Tag des Ukraine-Überfalls unterzeichnet hat, und sich selbst damit in Gefahr begibt, vom russischen Geheimdienst verhaftet zu werden, nahm auch das Glasgow Film Festival zwei russische Filme aus dem Programm, darunter einen von Kirill Sokolov, dessen Familie teilweise ukrainisch ist.

Bernd Buder, künstlerischer Leiter des Filmfestival Cottbus meint, dass die Situation für russische Filme inzwischen schwierig geworden ist, aber Filme, die auf Grundlage humanistischer Werte beruhen, sollte man nicht grundlegend ausschließen. Auch "Abteil Nr. 6" sei eine Geschichte über Freundschaft und über die Möglichkeit von Verständigung, trotz der derzeit hohen Barrieren.

Das goEast Filmfestival des Deutschen Filminstituts Frankfurt/Main, das in gut 14 Tagen in Wiesbaden an den Start geht, präsentiert sogar in einem Special 30 wegweisende „post-sowjetische" Filme der vergangenen drei Jahrzehnte.

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"ABTEIL NR. 6" Drama von Juho Kuosmanen (Finnland, Deutschland, Estland, Russland / 2021), das seine Erstaufführung in letzten Jahr beim Festival von Cannes feierte und beim Filmfestival Cottbus 2021 den Publikumspreis gewann. Mit Seidi Haarland, Yuriy Borisov, Dinara Drukarova u.a. seit 31. März 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Ausgerechnet im eiskalten Winter reist die finnische Archäologiestudentin Laura von Moskau nach Murmansk am nördlichen Polarkreis.

„Möge Deine Reise immer unvergesslich bleiben“ wünscht die Uniprofessorin Irina (Dinara Drukarova) ihrer Geliebten Laura (Seidi Haarla) am letzten Abend bei einer Hausparty zwischen selbstgefälligen Intellektuellen, unter denen sich Laura merklich unwohl fühlt. Eigentlich wollte sie die Reise zu den Petroglyphen, den berühmten, tausende Jahre alten, Felsmalereien in Murmansk mit der Freundin zusammen machen, doch die hat ihre Beziehung nonchalant beendet. Also macht sich Laura allein auf den weiten Weg. Es wird ihr das Abteil Nr.6 in einem heruntergekommenen, überfüllten Zug zugewiesen. Dort hat sich schon der rüpelhafte Bergarbeiter Ljoha (Juri Borisov) breitgemacht. Er betrinkt sich während der Fahrt, rülpst ungeniert und raucht unentwegt und fragt Laura über alles Mögliche aus und beschimpft sie als Nutte. Die beiden müssen auf engstem Raum auskommen, während draußen eisige Kälte und Armseligkeit vorbeizieht.

Regisseur Juho Kuosmanen („Der Glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“) hat „Abteil Nr. 6“ atmosphärisch in die Zeit kurz nach dem Untergang der Sowjetunion verlegt.

Eine Annäherung zwischen den beiden, scheint schier unmöglich. Weshalb sie dennoch gelingt, nimmt ein Zitat am Anfang des Films vorweg: „Um zu entkommen, muss man sich nicht nur ganz sicher sein, wohin man flüchtet, sondern auch, wovor“.

Auch wenn das „Wohin“ nicht absehbar ist, zeigt sich das „Wovor“ während ihrer gemeinsamen Reise immer deutlicher, denn die Reise ist lang und von Kilometer zu Kilometer taut das Eis zwischen den beiden langsam auf. Nachdem Laura während eines Stopps mit ihrer Freundin telefoniert hat, ist ihr klar, dass sie jetzt alleine ist und Ljoha hat sich langsam beruhigt und überredet Laura bei einem nächtlichen Stopp des Zuges, ihn zu einem Besuch bei seiner Großmutter zu begleiten. Oma denkt, die beiden seien ein Paar. Am nächsten Morgen sind sie wieder zurück in ihrem Abteil in dem überfüllten Zug. Laura lernt einen Finnen kennen und nimmt ihn mit in ihr Abteil, der Russe ist gar nicht begeistert. Später als der Fremde wieder weg ist, bemerkt Laura, dass er ihre Kamera gestohlen hat. Alles was sie in Moskau gefilmt und geliebt hat ist nun weg. Ljoha lässt sich die Wohnung von Irina beschreiben. Anders kann er sein Mitgefühl nicht zeigen.

„Gleich sind wir in Murmansk, das müssen wir im Speisewagen feiern“, versucht er sie zu trösten.

„Lass uns auf die Petroglyphen trinken“. Laura schenkt ihm ein Bild, was sie während er schlief, von ihm gemalt hat. Peu á peu entsteht eine spröde Annäherung.

Als Laura endlich in Murmansk eintrifft, ist es Ljoha, der das Unmögliche wahr macht, denn im Winter, bei Eis und Schnee, wagt es niemand bis zu den Felsmalereien vorzudringen. Es stellt sich heraus, das die beiden trotz ihrer sozialen und geografischen Unterschiedlichkeit, mehr gemeinsam haben, als sie dachten. Was sie aus dem „Mehr“ noch machen können, wissen sie noch nicht. Erst einmal stapft Laura glücklich im Schnee herum, dank der Hilfe des Russen, hat sich ihr Wunsch erfüllt.

Der Zuschauer erlebt eine feinsinnige Erzählung in rauen, grob geschliffenen Bildern über das Überwinden von vorhandenen Ressentiments, zu den Klängen „Love is the drug“ (Roxy Music) und „Voyage, Voyage“ (Desireless).

„Abteil Nr. 6“ erhielt den Jury Preis auf den Filmfestspielen in Cannes und ging als finnischer Beitrag ins Rennen um den Oscar.

Jury Borisov ist in Moskau ein Star. Sofort hat er nach Kriegsbeginn seinen Unmut darüber öffentlich geäußert. Die CineStar- Kette wollte die Aufführung in der Kulturbrauerei von ABTEIL NR. 6 reflexartig verbieten, da der Hauptdarsteller ein Russe ist. Gott sei Dank wurde das schnell wieder verworfen.

Ulrike Schirm


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"DAS EREIGNIS - L'Evénement" Abtreibungsdrama von Audrey Diwan (Frankreich), das beim Filmfestival von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Mit Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami u.a. seit 31. März 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Am 6. Juni 1971 titelte der Stern mit der von Alice Schwarzer initiierten Aktion „Ich habe abgetrieben – und fordere das Recht dazu für alle Frauen“. Das war der Anfang. Und das Ende des Schweigens. Die Aktion wurde zum Auslöser der Frauenbewegung.

In Deutschland, Frankreich und den USA waren Abtreibungen in 1960-Jahren gesetzlich verboten und bis heute hat sich noch nicht wirklich etwas Grundsätzliches getan.

Was das für ungewollt schwangere Frauen bedeutete schildert Audrey Diwan am Beispiel der Literaturstudentin Anne (Anamaria Vartolomei) in ihrem unter die Haut gehenden Drama „Das Ereignis“.

Annes Eltern, die eine Gastwirtschaft auf dem Land betreiben sind stolz auf ihre Tochter, die vorhat einmal Schriftstellerin zu werden. Tagsüber widmet sie sich ihren Büchern und Vorlesungen und abends wird gefeiert und geflirtet mit den jungen Studenten aus dem benachbarten Wohnheim. Doch dann passiert etwas, das eine ihrer Kommilitoninnen als „Weltuntergang“ bezeichnet: Anne ist ungewollt schwanger. Jetzt ein Baby zu bekommen, würde für sie bedeuten, zurück aufs Land zu ziehen und von ihrem Wunsch Schriftstellerin zu werden, müsste sie Abschied nehmen. Sie entscheidet sich für eine Abtreibung, auch wenn sie es riskiert dafür ins Gefängnis zu kommen, denn Abtreibungen sind in Frankreich in den Sechzigern gesetzlich verboten. Als alleinerziehende Mutter wäre sie auch noch sozial geächtet. Mit dem Erzeuger des Kindes verbindet sie gerade mal eine lose Fernbeziehung und als er von ihrer Schwangerschaft erfährt, interessiert ihn das kaum.

Eigentlich steht sie mit ihrem Problem ziemlich alleine da.

Sie vertraut sich einem Kommilitonen an der viele Frauen kennt und fragt ihn, ob eine dabei sei, die eine Abtreibung hinter sich hat. Doch der versucht die Situation auszunutzen, nach dem Motto: „Es kann doch nichts passieren, du bist doch schon schwanger“. Er hilft ihr aber später, eine Engelmacherin zu finden.

Die Zeit vergeht. Die Ärzte die sie konsultiert, lehnen einen Eingriff ab, einer verschreibt ihr ein Mittel, welches den Abgang beschleunigt, es stellt sich jedoch als ein Mittel zur Stärkung des Fötus heraus. Er hat sie hintergangen. Auch die Clique an der Uni wendet sich von ihr ab. Ihre Mutter (Sandrine Bonnaire) wäscht zwar ihre Wäsche wenn sie am Wochenende nach Hause kommt aber von einer Schwangerschaft unter diesen Umständen, wollen die Eltern nichts wissen. Für die junge Frau beginnt eine fürchterliche Tortur. Sie versucht es mit Stricknadeln, körperlichen Überanstrengungen und anderen Prozeduren, den Fötus loszuwerden. Ihre Noten an der Uni werden immer schlechter, dann der Druck ihrer Mutter, das Examen zu bestehen und die Zeit wird immer knapper. Hoffnungsvoll steht sie in einer Telefonzelle und telefoniert mit der Engelmacherin, die ihr der taktlose Kommilitone vermittelt hat. Madame Rivière, wie sie sich nennt, lebt in einer heruntergekommenen Hinterhofwohnung, nimmt 400 Franc für den Eingriff, indem sie den Frauen eine Sonde einsetzt, die den Abgang fördern soll. Wenigstens kocht sie ihre Instrumente aus. Anne muss einige persönliche Dinge verkaufen, um das Geld zusammenzukriegen. Die Prozedur ist schmerzhaft. Anne darf keinen Laut von sich geben, denn die Wände sind hellhörig. Tagelang wartet sie vergeblich auf den Abgang. Der Vorgang muss wiederholt werden mit dem Ergebnis, dass sie in ihrem Zimmer im Studentenheim fast verblutet und ins Krankenhaus muss.

Das Drama basiert auf dem gleichnamigen Erfahrungsbericht der Schriftstellerin Annie Ernaux („Die Scham“). Mit großer Aufrichtigkeit schildert der Film, was die Autorin 1964 erlebt hat. Die Kamera ist nah an der Schauspielerin dran, ohne voyeuristisch zu werden. Das schmale Bildformat (4:3) erzeugt eine besondere Nähe, ja fast eine Intimität, die den Schmerz, die Scham und die Einsamkeit, in der sich die Protagonistin befindet, gnadenlos zeigt.

Audrey Diwan hat nicht davor zurückgeschreckt das, was Anni Ernaux niedergeschrieben hat, auch so realistisch ins Bild zu setzen, wie es wirklich war. Das mag für viele Zuschauer*innen verstörend sein, unterstreicht aber die Wichtigkeit dieses Films, der schonungslos zeigt, was Frauen aufgrund von solchen Gesetzen, in einigen Ländern noch immer und schon wieder, durchmachen müssen. Ein Skandal ohnegleichen. Abtreibungsgegner*innen gehen wieder verstärkt auf die Straßen und verschaffen sich lauthals Gehör.

Anamaria Vartolomei spielt diese einsame Kämpferin mit ihren inneren Nöten und ihrer Hilflosigkeit grandios. DAS EREIGNIS wurde beim Filmfestival in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämiert. Dieses Thema ist noch immer hochaktuell.

Ulrike Schirm


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Sonst noch empfehlenswert:

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