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Hauptpreis der 71. Berlinale 2021 für rumänischen Regisseur Radu Jude

Der Goldene Bär der 71. Internationalen Filmfestspiele Berlin ging in einer virtuellen Verkündung an den Rumänen Radu Jude für eine Satire.



Die Satire "Bad Luck Banging or Loony Porn" des rumänischen Regisseurs Radu Jude hat den Goldenen Bären der 71. Berlinale gewonnen, wie die sechsköpfige Internationale Jury der Filmfestspiele per Livestream gestern, den 5. März 2021 bekannt gab. Die Wettbewerbsfilme konnten zuvor nur von wenigen auserwählten Fachjournalisten im Stream gesehen werden. Die Vergabe der Preise soll anlässlich der ersten öffentlichen Leinwandvorführung deshalb erst im Juni vor Publikum stattfinden.

Hier der Trailer auf Vimeo und Cineuropa



In dem Film geht es um ein Sexvideo einer Lehrerin, die eigentlich ein Vorbild sein soll.

"Babardeală cu bucluc sau porno balamuc" ("Bad Luck Banging or Loony Porn")
von Radu Jude (Rumänien / Luxemburg / Kroatien / Tschechische Republik)
produziert von Ada Solomon

Jury-Begründung:
„Der Goldene Bär geht an einen Film, der die seltenen und grundlegenden Eigenschaften eines beständigen Kunstwerks besitzt. Es fängt auf der Leinwand den eigentlichen Gehalt, die Quintessenz, Geist und Körper, die Wertvorstellungen und das nackte Fleisch unseres gegenwärtigen Augenblicks ein. Genau dieses Augenblicks menschlichen Daseins. Er tut das, indem er den Zeitgeist heraufbeschwört, ihn ohrfeigt, zum Duell herausfordert. Und damit hinterfragt er auch den gegenwärtigen Zeitpunkt im Kinofilm, indem er mit derselben Kamerabewegung unsere gesellschaftlichen und filmischen Konventionen erschüttert. Es ist ein kunstvoll ausgearbeiteter Film, der zugleich ausgelassen ist, intelligent und kindisch, geometrisch und lebendig, auf beste Art ungenau. Er greift die Zuschauer*innen an, ruft Widerspruch hervor, und erlaubt doch niemandem, Sicherheitsabstand zu halten.“


Der Silberner Bär, Großer Preis der Jury, ging an Ryusuke Hamaguchis "Guzen to sozo" ("Wheel of Fortune and Fantasy") von Ryusuke Hamaguchi (Japan).

Hier der Trailer:



Jury-Begründung:
„Dort, wo Dialoge und Wörter für gewöhnlich aufhören, fangen die Dialoge dieses Films erst an. Hier gehen sie in die Tiefe, so tief, dass wir uns erstaunt und besorgt fragen: Wieviel tiefer geht es noch? Hamaguchis Wörter sind Materie, Musik, Werkstoff. Zunächst sieht es fast unbedeutend aus: Ein Mann und eine Frau, manchmal zwei Frauen, stehen in einem Raum mit weißen Wänden. Dann kommt die Szene in Bewegung, und während sie sich entwickelt, fühlt man, dass das ganze Universum, einschließlich man selbst, dort zusammen mit ihnen in diesem einfachen Raum steht.“


Silberner Bär, Preis der Jury:
Preis der Jury, ging an Maria Speths Film "Herr Bachmann und seine Klasse" (Deutschland) - Dokumentarische Form.

Hier der Trailer:



Jury-Begründung:
„Im Film kann man die Aufmerksamkeit auf grundlegende Probleme lenken, indem man den Finger auf die Wunde legt, oder indem man Zuversicht zeigt und Anregungen gibt, wie eine positive Veränderung bewirkt werden kann. Die Regisseurin dieses einfühlsam-kraftvollen Dokumentarfilms hat sich für letztere Strategie entschieden. Der Film behält immer den richtigen Abstand in seiner Konzentration auf einen der ‚Außendienstmitarbeiter‘ unserer Gesellschaft, der für die prägendsten Jahre unserer Kinder bestimmend ist und ihre Lebenseinstellung nachhaltig beeinflusst. Aus der Perspektive der Regisseurin beobachtet ist dieser Lehrer einzigartig: er gestaltet ein System in der Krise – unser europäisches Bildungssystem – um, federt es ab, macht es menschlicher, und diese Menschlichkeit macht es viel wirksamer. Der Film zeigt, wie weit man es allein mit echtem Respekt, offenem Austausch und dem Zaubertrick bringen kann, den alle großartigen Lehrer*innen beherrschen: sie entfachen das Feuer der Leidenschaft in ihren Schüler*innen, indem sie ihre Fantasie anregen.“


Silberner Bär für die Beste Regie:
Dénes Nagy für "Természetes fény" ("Natural Light")
(Ungarn / Lettland / Frankreich / Deutschland) - Debütfilm

Hier nochmals der Trailer zur unserer Filmbesprechung vom 3. März 2021:



Jury-Begründung:
„Beängstigende und wunderbar gefilmte, hypnotisierende Bilder; eine beeindruckende Regiearbeit und meisterhafte Steuerung jeder einzelnen Komponente des Filmkunsthandwerks; eine Erzählung, die über ihren geschichtlichen Zusammenhang hinausweist. Das Abbild eines Krieges, bei dem der aufmerksame Blick des Regisseurs uns erneut daran erinnert, dass wir uns zwischen Passivität und dem Übernehmen persönlicher Verantwortung entscheiden müssen.“


Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle:
Schauspielerin Maren Eggert bekommt den Silbernen Bären für ihre Hauptrolle in der Tragikomödie "Ich bin dein Mensch" ("I'm Your Man") von Maria Schrader (Deutschland).

Hier der Trailer:



Jury-Begründung:
„Ihre Präsenz machte uns neugierig, ihr Charme sensibel. Und ihre breite schauspielerische Palette ließ uns fühlen, lachen und Fragen stellen. Mit Unterstützung ihrer wunderbaren Kolleg*innen und ihrer Regisseurin erfüllte sie ein ausgezeichnetes Drehbuch selbstbewusst mit Leben und erschuf eine unvergessliche Figur, mit der wir uns identifizieren können – was uns dazu bringt, über unsere Gegenwart und unsere Zukunft nachzudenken, über unsere Beziehungen und darüber, was wir wirklich im Leben wollen.“


Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle:
Lilla Kizlinger in "Rengeteg - mindenhol látlak" ("Forest - I See You Everywhere")
von Bence Fliegauf (Ungarn)

Hier der Teaser:



Jury-Begründung:
„Unter den vielen herausragenden Kleinstdarstellungen in Forest - I See You Everywhere fanden wir eine besonders überzeugend und einprägsam. Auf ihren jungen Schultern trägt Lilla Kizlinger eine außergewöhnliche Verantwortung mit Anmut und einer täuschend natürlichen Lockerheit. Allein durch die Kraft ihrer Interpretation und ihre intensive Präsenz zieht sie die verdeckten Ebenen der Szene an die Oberfläche und definiert damit genau genommen den Anlass hinter dem Film: die unheimliche Bedrohung dieser Welt, das Erbe, das wir Erwachsenen den Kindern von heute überlassen. Statt uns etwas zu erzählen, es uns zu erklären, bewältigt sie die viel schwierigere Aufgabe, in uns das Bedürfnis zu wecken, über die drängenden, beunruhigenden Fragen unserer Gegenwart nachzudenken. Sie hat uns bezaubert, und mit diesem Bezaubertsein hat sie uns zum Nachdenken angeregt.“


Silberner Bär für das Beste Drehbuch:
Hong Sangsoo für "Inteurodeoksyeon" ("Introduction")
von Hong Sangsoo (Südkorea)

Hier ein Ausschnitt:



Jury-Begründung:
„Dieses Drehbuch schafft mehr, als eine Geschichte zu erzählen oder die Handlung effizient voranzutreiben, indem es jene flüchtigen Zwischenräume zwischen einer Handlung und der nächsten herstellt, in denen, für einen Augenblick, eine verborgene Wahrheit des menschlichen Lebens unversehens offenbart wird, hell und klar.“


Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung:
Yibrán Asuad für die Montage von "Una pelí­cula de policí­as" ("A Cop Movie")
von Alonso Ruizpalacios (Mexiko) - Dokumentarische Form

Jury-Begründung:
„Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung geht an das meisterhafte Montagekonzept eines gewagten, innovativen Kinowerks, das die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen lässt und mutig die Fähigkeit der Filmsprache erforscht, unsere Sicht auf die Welt zu verändern. Die Montage spielt eine wesentliche Rolle bei der Untermauerung der einzigartigen Vision des Filmemachers, indem sie die zahlreichen Ebenen von Realität und Sprache gekonnt dekonstruiert, um einen detaillierten, nachdenklich stimmenden Einblick in eine der umstrittensten Institutionen Mexikos zu gewähren.“


Weitere Preise, darunter in der Sektion ENCOUNTERS sowie die Preise der FIPRESCI Jury finden Sie hier als pdf Download.

Berlinale-Preise Sektion Encounters
Bester Film
"Nous" ("We") von Alice Diop

Spezialpreis der Jury
"V" ("Taste") von Le Bao

Beste Regie (ex-aequo)
"Das Mädchen und die Spinne" ("The Girl and the Spider") von Ramon Zürcher und Silvan Zürcher

Beste Regie (ex-aequo)
"Hygiene sociale" ("Sozialhygiene") von Denis Cote

Lobende Erwähnung
"Rock Bottom Riser" von Fern Silva

Link: www.berlinale.de

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F I L M K R I T I K


Darüber hinaus noch eine Filmkritik unserer freien Journalistin Elisabeth Nagy über ihren Lieblingsfilm "Petite Maman" von Céline Sciamma ("Porträt einer jungen Frau in Flammen") aus dem Wettbewerb, der leider leer ausging, obwohl die verfilmte Kindheitsgeschichte im Gegensatz zu Radu Judes Gewinnerfilm subtil und nicht laut daherkommt.

"Petite Maman" Geschichte übers Kindsein und Erwachsenwerden von Céline Sciamma.

Drama.
Frankreich 2021
Regie: Céline Sciamma
Drehbuch: Céline Sciamma
Bildgestaltung: Claire Mathon
Montage: Julien Lacheray
Musik: Jean-Baptiste de Laubier
Szenenbild: Lionel Brison
Kostüm: Céline Sciamma
Ton: Julien Sicart, Daniel Sobrino
Casting: Christel Baras

Elisabeth' Filmkritik:

Ein Film ist ein Ereignis. Eine Perle auf einer Schnur von vielen Perlen. Eine grelle gelbe Perle neben einer langweiligen grauen Perle, neben einer schwarzen Perle, neben einer harmonisch blauen Perle. Jeder von uns hat seine kleine Perlensammlung an Eindrücken. Das können Bücher sein, Ausstellungen, Spaziergänge und auch Filme. Sie gehören uns und gehören ganz uns. Kino ist ein gemeinschaftliches Erlebnisse. Ein Film kann einen ansprechen, Kino spricht uns auch als Gemeinschaft an. Man kommt aus einer Vorstellung und trägt dieses Erlebnis und erlebt das Erlebnis der anderen mit. Gemeinschaftliche Freude, Lachen, Weinen, Wut, Agression. Die Gemeinschaft fängt es auf. Man kommt aus einem Film und lächelt sich gegenseitig wissend an. Oder gerät in hitzige Debatten, muss seinen Eindruck verteidigen und dabei feilt man das, was man empfindet noch deutlicher heraus. Man erkennt in der Reaktion der anderen auch seine eigene und versteht sie besser.

Warum ich das schreibe? Man sagt, nach einer Weile kristallisieren sich Favoriten im Festivalprogramm heraus. Täglich sucht man nach dem Kritikerspiegel, gleicht ab, ob die Einschätzung der anderen mit der eigenen übereinstimmt. Dieses Jahr gibt es kein Publikum und auch keinen Kritikerspiegel. Und keine KritikerInnen. Die Journalisten, man sagt, sie schreiben für die Leserschaft. Aber die Leserschaft kann die Filme gar nicht sehen. Da gibt es kein Echo in der Wahrnehmung. Man schwärmt (oder auch nicht) ins Leere. Ich finde, ich bin gar nicht einer Leserschaft verpflichtet, sondern einem Film. Aber wie kurz gedacht das ist, merke ich jetzt besonders stark. Es gibt Filme und zum Glück sind es für jeden von uns andere und manchmal auch die selben, da fühlt man so starke Emotionen, dass man sie teilen will. Man kommt aus dem Kinosaal und lächelt sich bestätigend an und das tut gut. Das fällt dieses Jahr alles weg. Man guckt einen Film in seinem Kämmerlein und hat keine Kollegenschar um sich herum, die dieses Erlebnis teilen. Das Echo, das die eigenen Gefühle für einen in diesem Fall Film auslöst, die ein Film (in diesem Fall ein Film) auslöst, verpufft.

"Petit maman" von Celine Sciamma ist ein seltener Fund, ein Film, den man mit Herzen sieht. Der einen erkennt und in dem man sich selbst erkennt. Zumindest mir geht es so. Céline Sciamma weiß ein sehr persönliches Gefühl auch in anderen auszulösen.

Eine alte Dame und ein Kind. Das Kind, Nelly heißt sie, steht auf und verabschiedet sich. "Au revoir", sie geht von einem Zimmer ins andere und verabschiedet sich auch von anderen. Dann betritt sie ein leeres Zimmer. Von ihrer Großmutter konnte sie sich nicht verabschieden. Nur ihre Mutter ist dort und packt die letzten Sachen. Die Mutter, Marion, setzt sich auf die Bettkannte des leeren Bettes und schaut hinaus. Ihr Abschied ist einer, den man mit dem Herzen hört.

Sciamma erzählt vom Abschied nehmen. Vom Abschied nehmen von jemandem, den man liebt, aber auch vom Abschied nehmen von einer Lebensspanne, einer Zeit im großen Gefüge. Von dem Kind sein, von dem Mutter sein. Wer sind wir, wenn wir Mutter sind? Wer sind wir, wenn wir unsere Mutter verlieren? Wie nehmen wir von Orten Abschied und von Erinnerungen? Ein Wohnungsauflösung ist ein Prozess des Loslassens. Nelly fährt mit ihrer Mutter und ihrem Vater in das Haus der Großmutter, um es aufzulösen. Aber dann reist die Mutter wortlos ab, das Abschied nehmen ist für sie zu schwer.

Nelly streift durch den angrenzenden Wald. So, wie es Kinder tun. Intensiv und verspielt, offen für Empfindungen und Begegnungen. Sie trifft auf ein anderes Mädchen, in etwa im gleichen Alter. Es winkt ihr zu. Fragt sie, als sie herankommt, ob sie helfen würde, eine Hütte zu bauen. Das Mädchen im Wald heißt Marion. Sie hat gerade ihre Großmutter verloren, die Nelly hieß. Nelly und Marion, gespielt von den Zwillingen Joséphine Sanz und Gabrielle Sanz spielen ausgelassen, sie tauschen sich aus, sie verstehen einander, sie schweigen gemeinsam. Nelly erkennt und teilt mit Marion, was sie erkennt. Dieses Teilen sagt, ich erkenne dich, ich erkenne dich in mir, ich erkenne mich in dir, ich erkenne deine Traurigkeit, aber meine Traurigkeit ist nicht deine Traurigkeit. Das Spiel der beiden Kinder ist so natürlich gehalten, daß eine Leichtigkeit den Schmerz auffängt. Man schaut diesen Kindern zu und weiß, alles ist gut.

"Petite maman" ist leise, subtil, voller Empathie und Weisheit. Sciamma erzählt von dem Abschied von der Kindheit und dem Versprechen, dass der Schmerz über den Abschied kein einsamer Schmerz sein muss. Das Kind lernt die Mutter als Kind kennen. Erkennt die Gemeinsamkeiten, erkennt die tiefere Wahrheit. Im Rahmen ist "Petite maman" ein Zeitreisefilm, ohne je darauf zu verweisen. Das Empfinden des Kindes und das Empfinden der Mutter überlagern sich, werden zum gemeinsamen Vermächtnis.

Elisabeth Nagy


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