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Unsere Filmkritiken im März 2020, Teil 1

"FÜR SAMA": Der passende Film zur aktuellen neuen Flüchtlingskrise. Außerdem drei weitere Kinostarts, darunter eine Jane Austen Verfilmung.



Filme gehören auf die große Leinwand im Kino. Trifft dies auch für Handyvideos zu? Ja unbedingt, sofern die Qualität es erlaubt. Details, die in HD-Qualität vorliegen, sehen auf Leinwandgröße gebracht einfach viel eindrucksvoller und überwältigender aus, als auf dem Mäusekino eines Smartphone Bildschirmes. Die nachfolgende Filmkritik belegt diese These und trifft speziell an jenen Stellen zu, an denen die große (im Bild sichtbare Sony Kamera) nicht zum Einsatz kommen konnte, im wahrscheinlich wichtigsten Antikriegsfilm der letzten Jahre.

"FÜR SAMA" eine erschütternde Dokumentation von Waad al-Kateab & Edward Watts (Großbritannien). Seit 5. März 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Die syrische Filmemacherin Waad al-Kateab hat von 2012 bis 2016 in Aleppo ein Videotagebuch geführt, dass sie ihrer Tochter Sama gewidmet hat. Es ist das erschütternde Dokument eines Lebens im Ausnahmezustand. „Wir haben nie gedacht, dass die Welt so etwas zu lässt“ sagt sie an einer Stelle. Ihr Film beginnt, wie sie sich als Studentin den Demonstrationen gegen die brutale Diktatur Bashir al Assads anschließt. Es ist eine Zeit des Aufbruchs und die jungen Leute sind noch voller Optimismus. Doch Aleppo wird immer mehr zum Ziel von Bombardierungen. Waad filmt weiter, während viele ihrer Freunde von Heckenschützen, Luftangriffen und Fassbomben getötet werden.

Waad heiratet ihren Freund Hamza, einen Arzt, der eines der letzten funktionierenden Krankenhäuser in Ost-Aleppo leitet. Ihre Tochter Sama (Himmel) wird geboren. Doch vom Himmel sieht das kleine Wesen wenig. Die meiste Zeit verbringen sie in Luftschutzkellern. Das erste Jahr in Samas Leben ist das Jahr der Entscheidungsschlacht um Aleppo. Das brutale Regime und seine Alliierten schrecken vor keinem Gräuel zurück, um die Rebellen zu vernichten. Es sind zutiefst erschütternde Bilder, die Waad in dem Krankenhaus und drum herum filmt. Acht von neun Krankenhäusern wurden zerstört, um die Menschen zu demoralisieren. Was sich in dem noch Überbliebenen abspielt, ist kaum in Worte zu fassen. 890 Operationen in 20 Tagen. Blut, wo auch immer man hinschaut. Tote Kinder werden weggetragen, schmerzerfüllte Eltern bleiben zurück und umgekehrt. Einem der Ärzte gelingt es ein Neugeborenes, was keinen Puls mehr hat, wieder zum Leben zu erwecken. Was für ein Wunder in dieser Tragödie. Waad al-Kateab ist immer mit der Kamera dabei. „Dass ich das alles filme, gibt mir die Rechtfertigung, hier zu sein.“

„Für Sama“ ist ein Vermächtnis für ihre im Krieg geborene Tochter. Für den Fall, das Waad und ihr Mann den Krieg nicht überleben sollten, sollen ihr die Aufnahmen zeigen, warum ihre Eltern im Ostteil von Aleppo geblieben sind. Trotz aller Gräul, finden sich Spuren von Freude und Lebensmut. Unfassbares Leid und Lebensfreude liegen dicht beieinander. „Zu fliehen wäre ein schreckliches Vorbild für die Kinder“. Ihre Aufnahmen waren als Dokument eines Kampfes gedacht, ein Kampf für die Freiheit, ausschließlich für ihre Tochter. Nach ihrer Flucht entschied sie sich, zusammen mit dem britischen Dokumentarfilmer Edward Watts, einen Film daraus zu machen.

„Ich fühlte mich der Stadt, ihren Bewohnern und unseren Freunden gegenüber verpflichtet, ihre Geschichten so zu erzählen, damit sie nicht vergessen werden und niemand die Wahrheit dessen, was wir erlebt haben, verfälschen kann. Für mich ist es mehr als ein Film. Es ist mein Leben“.

Waad al-Kateab und Edward Watts wurden für ihren Film mit dem Emmy Award ausgezeichnet. Auf dem Festival von Cannes gewann "FÜR SAMA" 2019 den Prix L'Ł’il d'or für den besten Dokumentarfilm. Weitere Preise folgten. Im Januar 2020 wurde "FÜR SAMA" als bester Dokumentarfilm für den BAFTA und den Oscar nominiert.

Ulrike Schirm


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"EMMA" komödiantische Jane Austen Literaturverfilmung von Autumn de Wilde (Großbritannien). Mit Anya Taylor-Joy, Johnny Flynn, Josh O'Connor u.a. seit 5. März 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Die 21-jährige Emma Woodhouse (Anya Taylor-Joy) lebt mit ihrem Vater auf dem Landsitz Hartfield in der Nähe von London in der Gemeinde Highbury. Was macht man als junge Frau, wenn man von Dienstpersonal und Zofen umgeben ist und einem vorm Zubettgehen die Strümpfe ausgezogen werden und obendrein auch noch die Lieblingstochter des Vaters ist? „Vorhersagen für andere Leute zu machen ist für mich der größte Spaß“.

Besonderen Gefallen findet sie daran, Ehen zu stiften, was zu einigen Verwicklungen führt. Ab und zu unterhält sie Gäste am Klavier. Aber wehe es kommt jemand daher, der besser spielt als sie. Dann kann sie in ihrem kapriziösen Hochmut recht ungehalten werden. Andererseits hat sie sie ein butterweiches Herz und entschuldigt sich mit einem Korb voller Delikatessen, bei denen, die sie in ihrer ungestümen Art auch mal verletzt hat.

Sie selbst hat beschlossen, nicht zu heiraten, kokettiert aber gerne mit dem steinreichen Mr. Knightley (Johnny Flynn), von dem sie sich auch kritisieren lässt. Als ihre Pläne fehlschlagen, ihre beste Freundin, die gutherzige Waise Harriet Smith (Mia Goth) mit dem ewig grinsenden und linkischen Vikar (Josh O`Connor) zu verheiraten, gibt sie es nicht auf, einen geeigneten Mann für das leicht entflammbare Mädchen zu finden.

Mit einem köstlichen Augenzwinkern blickt Regisseur Autumn de Wilde auf das Gesellschaftsleben im England des frühen Jahrhunderts. „Emma“ war der letzte Roman der britischen Schriftstellerin Jane Austen, der zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurde. Mit großer Liebe zum Detail erzählt de Wilde die Geschichte, die er in mehrere Kapitel aufgeteilt hat in denen er die englische Landschaft im Frühling, Sommer Herbst und Winter und dann wieder im Frühling zeigt und für eine prächtige Ausstattung sorgt. Aus Emmas Vater macht er einen verschrobenen Hypochonder, der ständig friert, weil es dauernd zieht und das Personal Paravents um ihn herum aufstellen muss. Verkörpert wird er von dem wunderbaren Bill Nighy.

Jane Austen, frisch und neu erfunden. Anya Taylor-Joy brilliert in der Rolle der Emma durch ihr nuancenreiches Spiel.

Kamera: Christoher Blauvelt. Drehbuch: Eleanor Catton. Musik: Isobel Waller Bridge. Weitere Darsteller: Callum Turner, Amber Anderson und Mia Goth. Länge: 132 min.

Ulrike Schirm


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"LA VÉRITÉ – Leben und lügen lassen" Drama über eine Filmdiva von Hirokazu Kore-eda (Frankreich, Japan). Mit Catherine Deneuve, Juliette Binoche, Ethan Hawke u.a. seit 5. März 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Eine Diva spielt eine Diva.

Die französische Filmdiva Fabienne Dangeville (Catherine Deneuve) hat gerade ihre Memoiren veröffentlicht, in denen sie es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Als ihre Tochter Lumir (Juliette Binoche) eine Drehbuchautorin, die zur Buchpremiere mit Mann und Kind aus New York anreist, stellt sie fest, dass die Passagen in denen sich die Diva als hingebungsvolle Mutter bezeichnet, in keiner Weise mit den Erinnerungen an ihre Kindheit übereinstimmen. Fabienne versteht nicht, warum sich ihre Tochter so sehr über die geschönte Autobiografie aufregt. Was für sie zählt, ist die Wahrheit, die sich gut verkaufen lässt. Mit der Wahrheit ist es überhaupt so eine Sache. Wie weit Realität und Erinnerung auseinanderliegen, kann zu einer ganz persönlichen Täuschung führen und so kann die Erinnerung, die man oft für unfehlbar hält ein Konstrukt sein, um besser mit seinen Schwächen zu überleben und hat oft wenig damit zu tun, wie es wirklich war.

Das Fabienne sich auf ein Filmprojekt eingelassen hat, indem sie von einer jungen begabten Schauspielerin dargestellt wird, ist für die alternde Diva nicht leicht zu verkraften. Mit sichtlichem Vergnügen beschreibt Regisseur Hirokazu Kore-eda („Like Father, Like Son“) die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Lügen und Täuschungen innerhalb dieser Familie, angesiedelt in einer Branche, in der es von Egozentrik kräftig knistert. Das Madame Deneuve noch längst nicht zum alten Eisen zählt, beweist sie in ihrer Rolle als kühle, in sich selbstverliebte Diva Fabienne Dangeville.

Es ist ein Vergnügen, den beiden französischen Filmikonen, Deneuve und Binoche, die hier zum ersten mal gemeinsam vor der Kamera stehen, zuzuschauen. Warum man Lumir einen Ehemann (Ethan Hawke) an die Seite gestellt hat, dessen Auftritte belanglos sind, kann man als Schwäche im Drehbuch abhaken.

Ulrike Schirm


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"DIE KÄNGURU–CHRONIKEN" Komödie von Dani Levy (Deutschland). Mit Dimitrij Schaad, Rosalie Thomass, Adnan Maral u.a. seit 5. März 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Schon in seinen Büchern und Bühnenprogrammen hat der Kabarettist Marc-Uwe Kling das freche und spitzzüngige Beuteltier zu seinem Alter Ego gemacht. Nun wurde sein Bestseller „Die Känguru-Chroniken von Dani Levi verfilmt. Die Fans werden ihre helle Freude daran haben, denn zum Glück ist der Film nicht zum üblen Klamauk ausgeartet, sondern das anarchistische, antifaschistische und egoistische Tier ist sehr, sehr lustig und reiht sich wunderbar in die bunte Truppe der realen Figuren im Kreuzberger Milieu ein.

Marc-Uwe (Dimitrij Schaad), ein Berliner Kleinkünstler und Schlaffi mit Migränehintergrund staunt nicht schlecht, als ein Känguru vor seiner Tür steht und sich als neuer Nachbar vorstellt und sich Zutaten für Eierkuchen leihen möchte und einige Zeit später frech bei ihm einzieht und die Bude auf den Kopf stellt. Das dreiste Tier ist Kommunist mit einer Vorliebe für Schnapspralinen. Die natürlich komplett überzogene Rahmenhandlung mit Henry Hübchen als brauner Parteichef und Immobilienschwein, der einen gigantischen Hochhausturm in den Görlitzer Park bauen will und die alteingesessene Nachbarschaft nebenbei platt machen will, hemmt das Gag-Feuerwerk nicht im geringsten. Im Gegenteil, das Beuteltier gibt ihm kräftig Contra.

Liebevoll gezeichnete Nebenfiguren bevölkern den Kiez. Carmen-Maja Antoni, die berlinernde Wirtin von Hertas Eckkneipe, die ihre mehr oder weniger schlauen Sprüche zum besten gibt und deren Kunden schon tagsüber die Kneipe bevölkern und die von Türken geführten Spätis. Und dann die debile Nazitruppe, die sich schützend vor den Immobilienhai und seine schwangere Frau stellt. Eine zarte Romance gibt es auch. Marc-Uwe ist verliebt in die alleinerziehende Nachbarin Maria (Rosalie Thomas), weiß aber nicht, wie er es anstellen soll, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Zum Glück gibt es das schnoddrige Vieh, das ihm zeigt, wie das geht. Und ein Hasenpfoten-Talisman spielt auch noch eine Rolle.

Herausgekommen ist ein politisch unkorrekter Anarchotrip, in dem ein Gag auf den nächsten folgt und das alte Berlin der Sechziger mit seinen Anti-Establishment Sprüchen wieder zum Leben erweckt.

Es mag durchaus sein, das dieses Anarchospektakel stark polarisiert. Man kann es ja nicht jedem recht machen.

Kamera: Filip Zumbrunn. In weiteren Rollen: Bettina Lamprecht, und Tim Seyfi. Länge: 93 Minuten.

Ulrike Schirm


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