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Zwei Kinostarts in der 5. KW 2025 - mit extralangen Filmbesprechungen

In der letzten Januarwoche starten mit "THE BRUTALIST" und "THE LAST EXPEDITION" zwei herausragende Werke des Weltkinos in den deutschen Kinos.



"THE LAST EXPEDITION" Dokumentation von Eliza Kubarska über die polnische Bergsteigerin Wanda Rutkiewicz, die erste Frau auf den höchsten Gipfeln der Welt, die vor 30 Jahren spurlos verschwand. (Italien / Indien / Österreich / Nepal / Polen / Schweiz, 2024; 86 Min.) Zu Wort kommen auch andere berühmte Bergsteiger wie Reinhold Messner. Ab 30. Januar 2025 im Kino. Hier der Trailer:



Jagodas Filmkritik:

Im Mai 1992 verschwand Wanda Rutkiewicz spurlos im Gipfelbereich des Kangchendzönga im Himalaya. Bis heute gibt es zahlreiche Mutmaßungen über das Schicksal der Ausnahmebergsteigerin.

Alpinistin und Filmregisseurin, Eliza Kubarska hat sich nun der Geschichte von Wanda Rutkiewicz angenommen. Ihre Dokumentation basiert auf Briefen, Notizen und einem Audiotagebuch der Protagonistin, der ersten Frau, die die höchsten Gipfel der Erde bestieg. Ihre mentalen und physischen Vorbereitungen auf die nächste Expedition und Reflexionen über bisherige Erfolge, Eroberungen der höchsten Gipfel der Welt, sind das Thema des Films. Dazu kommen Rückblenden aus dem Privatleben der Ausnahmesportlerin - zwei gescheiterten Ehen und der Beziehung zum deutschen Bergsteiger, Kurt Lyncke, dessen Sturz in einer gemeinsamen Steigerung des Broad Peak in Karakorum Rutkiewicz nie überwunden hat.

Durch Gespräche mit anderen Bergsteigern, u.a. mit Reinhold Messner, mit Sherpas, Bekannten, und mit der Schwester der Polin, taucht der Film in die Welt der starken Frau ein und lässt den Zuschauer, ihre Liebe zu den Bergen nachvollziehen.

Es geschah bereits im jungen Alter. Der erste Kletterausflug, den Wanda Rutkiewicz als Teenagerin in der Nähe von Jelenia Gora in Südpolen absolvierte, ließ sie nicht mehr los. Seitdem nutzte sie jede Gelegenheit, um an einer Hochgebirgsexpedition teilzunehmen.

Nun war das Bergsteigen in Polen der 70er und 80er Jahre sehr angesehen. Die Eroberer der Himalaya-Gipfel hatten einen Heldenstatus, sie galten als „freie Menschen“. Beruflich auf verschiedenen Feldern tätig, ließen sie immer wieder alles hinter sich, um wochenlang sich den kargen Bergwänden zu stellen.

Unter denen, die „Das Dach der Welt“ bezwangen, waren Frauen in krasser Minderheit. In Vereinen, Clubs und Teams wurden sie zwar akzeptiert, doch aufgrund ihres Geschlechts doch immer nur als „die Zweiten“ angesehen. Das war die Tragik der Geschichte von Wanda Rutkiewicz: Einerseits ihren eigenen starken Willen durchzusetzen, andererseits immer aufs Neue beweisen zu müssen, dass sie mindestens genauso gut ist, wie ihre männlichen Kollegen.

Sport begleitete sie ihr ganzes Leben lang. Sie war eine passionierte Volleyball-Spielerin, belegte sogar zeitweise mit ihrer Mannschaft den begehrten Platz in der polnischen Liga. Die Leidenschaft zum Bergsteigen war aber mehr als Sport. Schon mit 19 Jahren absolvierte sie den Kletterkurs in der hohen Tatra. Danach kamen die Alpen, Pamir, Hindukusch und Himalaya. Schon in den 70er Jahren gehörte Wanda Rutkiewicz zum Club der Alpinisten - zuerst in Wroclaw, dann in Warschau. Sie war eine der wenigen Frauen, die diese extremen Expeditionen durchführten. Mit anderen Kolleginnen unternahm sie auch einige Bergsteigerungen; 1978 eroberte sie sogar die Nordseite des Matterhorns mit einer rein weiblichen Mannschaft.

Und immer hob sie hervor, dass das Bergsteigen nicht allein die Domäne der Männer ist.

Doch paradoxerweise interessierten sich die Medien vor allem für die größten Erfolge der männlichen Bergsteiger. Viele von denen genossen einen wahren Heldenstatus - wie Jerzy Kukuczka, Krzysztof Wielicki und der 1974 im Himalaya ums Leben gekommene Kameramann, Stanisław Latałło, der 1973 auch im Film „Illumination“ von Krzysztof Zanussi die Hauptrolle spielte.

Sie alle hatten tatsächlich großen Anteil an der Popularisierung dieser extremen Sportart in Polen. Wanda Rutkiewicz und andere Alpinistinnen waren weniger bekannt. Trotz ihrer Pionierleistungen wurde Wanda häufiger kritisiert. Die männlichen Bergsteiger stichelten, dass sie nur als Unterstützung der starken Frau an den gemeinsamen Expeditionen mit ihr teilnehmen und dann in ihrem Schatten stehen würden.

Auch privat lief nicht alles optimal. Traumata nach dem Verlust ihres kleinen Bruders und dann noch des Vaters, später Probleme im eigenen Familienleben zerrten an der Psyche der Bergkletterin. Trotzdem nahm sie immer wieder an wichtigsten Expeditionen teil, sowohl in den gemischten als auch in rein weiblichen Teams, manchmal sogar allein. Und so hatte sie eine imposante Erfolgsbilanz aufzuweisen. Sie bezwang acht der vierzehn Achttausender: Mount Everest, Nanga Parbat, K2, Shishapangma, Gasherbrum II, Gasherbrum I, Cho Oyu und Annapurna.

Den K2 bestieg sie als erste Frau in der Geschichte, den Mount Everest - als erste Europäerin und als erster Mensch aus Polen - noch vor ihren männlichen Kollegen. Zudem hat sie als erste Frau der Welt die Winterbesteigung des Matterhorns geschafft.

Am 12. Mai 1992 wurde sie zum letzten Mal gesehen - an der Wand des Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Erde. Sie war 49 Jahre alt. Man weiß nicht, ob sie in den Tod gestürzt, oder - wie manche vermuten - auf der anderen Seite des Gipfels abgestiegen und dort in ein buddhistisches Kloster gegangen ist.

Eliza Kubarska untersucht in ihrem Film auch diese Hypothese. Auf der Spurensuche ist sie von Warschau bis Katmandu gefahren und hat Orte besucht, von denen aus die meisten Himalaya-Expeditionen starten. Sie sprach mit Sherpas und buddhistischen Nonnen, die sich an die Vermisste und ihre besondere Art erinnerten. Sie interviewte die Schwester und die deutsche Managerin der Ausnahmebergsteigerin und sie befragte den mexikanischen Bergsteiger Carlos Carsolio, den letzten Bergtour-Begleiter von Wanda Rutkiewicz über das letzte Gespräch mit ihr.

„Die letzte Expedition“ ist eine Erzählung und ein Gespräch mit der polnischen Himalayaistin über ihren Weg, ihre Selbstzweifel, innere Kämpfe und traumatische Erlebnisse. Es ist ein vielschichtiges und sensibles Porträt einer starken Frau, die erst „auf dem Dach der Welt“ ihre Ruhe fand.

Jagoda Engelbrecht


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DER BRUTALIST bildgewaltiges in 70mm gedrehtes Drama von Brady Corbet, über die fiktive Gestalt des in Ungarn geborenen, jüdischen Bauhaus-Architekten László Tóth, der in die USA auswanderte, um neues Glück zu suchen. (USA / Großbritannien / Kanada, 2024; 215 Min.) Mit Adrien Brody, Felicity Jones, Guy Pearce u.a. ab 30. Januar 2025 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Es ist dunkel. Die Kamera klebt an der Hauptfigur. Bedrückende Enge. Als wäre das Publikum in "Son of Saul" (2015, Regie László Nemes), in einem Konzentrationslager. Das hier ist allerdings der Bauch eines Auswandererschiffes. Die Menschen drängen. Der Ungar László Tóth, gespielt von Adrien Brody, sucht fluchend seine Habseligkeiten zusammen. Er und ein Freund kämpfen sich mit der Menge nach oben. Eine Bewegung in das Licht, in die Helligkeit. Es ist das eine, den alten Kontinent, das vom Krieg gebeutelte Europa 1946 zu verlassen, noch dazu, als Überlebender des Holocaustes. Aus dem Dunkel steigt Tóth und mit ihm Hunderte nun ans Tageslicht. Wie aus dem Nichts ragt die Freiheitsstatue ins Bild. Es ist ein Fest. Es fühlt sich wie eine zweite Befreiung an. Aber dieses Wahrzeichen der Immigration, das Versprechen, dass die Reise hier ein Ende haben wird, dass man hier aufgenommen wird, es ist ein trügerisches Versprechen. Diese Statue ragt nicht aufrecht ins Bild. Die Blickrichtung ist eine andere, eine vom Rand reinragende. Kopfüber steht dieses Monument. Tóth und die anderen feiern ihre Ankunft trotzdem.

Wird hier eine Geschichte der Immigration erzählt? Brady Corbet setzt noch einmal an. In einem engen, schmucklosen Verhörraum wird eine junge Frau mit Fragen bombardiert. Sie schweigt. Sie schweigt, weil das Erlebte ihr die Stimme genommen hat. Zsófia (Raffey Cassidy) heißt diese junge Frau, sie ist die Nichte von diesem László Tóth. Aus dem Off hören wir wiederum die Stimme von Erzsébet, seiner Ehefrau, gespielt von Felicity Jones, die in einem Brief mitteilt, dass sie überlebt habe und mit Zsófia eine helfende Stütze hätte. Der Holocaust, den man nicht zeigen kann, wird hier auch nicht gezeigt. Hier wird das Überleben thematisiert. Wie kann man überleben und kann man in der Fremde neu anfangen? Erzsébet und Zsófia sind in Ungarn zurück geblieben. Tóth bemüht sich, lange vergeblich, sie nach Amerika nachzuholen.

"Der Brutalist" erzählt die Geschichte einer Auswanderung und einer Einwanderung. Das Drehbuch von Brady Corbet und Mona Fastvold erzählt in einem geschichtlichen Bogen, der mehrere Jahrzehnte überspannt, von der Macht des Geldes und der Kraft des Geistes. Von der Vernichtung und von der Ausgrenzung, von der Ausbeutung von Lebenskraft und Talent. Von der Geschichte der Juden, dem Antisemitismus, dem Trauma der Überlebenden, das nicht einmal mit Drogen zu bändigen ist. Von der Heimatsuche im gelobten Land, zum einen in den USA, zum anderen auch in Israel. Hier wird durch Architektur dem Trauma eine Form gegeben, hier wird aber auch, ganz jetztzeitig, vermittelt, dass Talent immer auch unter dem Kapital und gegen das Kapital kämpfen muss, um sich zu verwirklichen.

László Tóth bleibt nicht in New York City. Er steigt in einen Bus und reist ins ländliche Pennsylvania. Hier in Philadelphia kann er bei seinem Cousin Attila (Alessandro Nivola) unterkommen. Der führt mit seiner amerikanischen Ehefrau ein Möbelgeschäft. Er hat seinen Namen amerikanisiert, ihre Religion angenommen und sich ganz dem amerikanischen Traum hingegeben. Er ist sogar so sehr assimiliert, dass nicht der Hauch eines ungarischen Akzents in seiner Sprache zu hören ist. Die Fahrt über die Landstraße, die Straßen der neuen Heimat, alles wirkt hier, als hätte Tóth Ungarn dennoch nie verlassen. Wie ein Schatten legt sich Budapest um ihn herum.

Corbet hat Jahre an seinem dritten Spielfilm nach "The Childhood of a Leader" (2015) und "Vox Lux" (2018) gearbeitet. Ursprünglich war Polen als Drehort geplant. Joel Edgerton sollte die Hauptrolle spielen. Die Pandemie warf die Produktion ein ganzes Stück zurück. Nun kam Adrien Brody doch noch, er hatte das Drehbuch schon mal erhalten gehabt, an die Hauptrolle. Als Sohn einer Ungarin, seine Mutter ist die renommierte Photographin Sylvia Plachy, die 1956 als Kind aus Ungarn in die Staaten emmigriert war, trägt er ein Stück weit ihre Erfahrungen in seiner Seele. Ungarn war nun, nicht zum ersten Mal in Corbets Filmographie, auch Drehort. Das erklärt, warum man diese ungarischen Schatten mitfühlt. Zumindest als Ungarin, das sollte ich erwähnen. Als Ungarin, die wie Brody, Kind eines Geflüchteten ist.

Viel wird derzeit über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz geredet. Deren Einsatz besonders in der Zunft der Schauspielenden und zu recht bekämpft wird. Der Filmeditor Dávid Jancsó (Sohn von Miklós Jancsó und der Editorin Zsuzsa Csákány), der mit Corbet bereits bei "Childhood of a Leader" zusammen gearbeitet hatte, hatte in einem Interview dargelegt, wie er einzelne ungarische Laute, die für Fremdsprachige kaum zu meistern sind, angepasst habe. Zum Einsatz kam eine Software der ukrainischen Firma Respeecher. In einer Zeit in der Doubles in gewissen Szenen ganz selbstverständlich eingesetzt werden, macht man da kaum ein Fass auf. In die Performance der Darstellenden, hier also Adrien Brody und Felicity Jones, wurde nicht eingegriffen, versicherte der Regisseur daraufhin. Dabei fragt man sich allerdings, warum Kollegen und Kolleginnen nicht bereits nach der Premiere in Venedig das Thema aufgegriffen haben. Im Abspann steht das alles.

Es ist nicht leicht diesen monumentalen Film zu fassen. Zu viele Ebenen sind in seine Erzählung eingeflochten. Man kann sich der Handlung, dem Spiel, der Ausstattung, dem Thema auf vielfältige Weise nähern. Es ist ein Film der Überwältigung. Sperrig, trotzend, sich seiner Stärken selbstbewußt bewußt. Über die Schwächen mag man kaum ein Wort verlieren. Das Thema ist aber auch der Film und das Filme machen selbst. Corbet hat eine Vision umgesetzt, fern seiner US-amerikanischen Heimat. Seine Vision in VistaVision, einem Format, das Architektur detailreich und in seiner ganzen Größe einzufangen weiß, traut sich viel und wird sicherlich hier und da auch anecken. Allein schon die Filmlänge! Mit 215 Minuten, es gibt eine 15-minütige Pause, in der ein Countdown herabzählt, ist der Film schon eine Herausforderung. Auch wenn ich versichern kann, dass dieses Werk keine Längen hat, dass die Zeit verfliegt, ist diese Längenangabe ein Hindernis. Corbet fordert das Publikum, es muss sich die Zeit nehmen. Auch wenn Corbet nicht immer subtil vermittelt, muss das Publikum die Hinweise erfassen. Wenn László Tóth bei einem Diner über seine jüdischen Erfahrungen spricht, während im Hintergrund die Musik von Wagner läuft, zeigt sich, in welcher Umgebung man ihn duldet.

"Der Brutalist" verweist natürlich auf den gleichnamigen Baustil. Allerdings ist diese Einordnung nicht ganz richtig. László Tóth studierte am Bauhaus. Der Stil des Brutalismus kam erst in den 1950er Jahren auf. Was Tóth in seiner Architektur wichtig ist, ist die Klarheit, das Schmucklose und dessen Verbindung mit der Natur. Eines vorneweg, diese Geschichte ist keine biographische. László Tóth hat es so nicht gegeben. Seine Figur wurde aber von vielen inspiriert. Wenn man an Ungarn und Bauhaus denkt, dann fällt einem als erstes László Moholy-Nagy ein. Zum Beispiel. Als Tóth seine neue Möbelgarnitur ins Schaufenster des Ladens in einem verhältnismäßig kleinen Nest dieses Kontinents setzt, dann sieht man unverkennbar das Werk des Architekten und Designers Marcel Breuer.

Der gebürtige Ungar emigrierte über verschiedene Stationen 1937 in die USA, baute dort schließlich, zusammen mit Walter Gropius, die Architekturfakultät von Harvard auf. Tóths Schicksal erinnert aber auch an den Architekten László Papp, der Ungarn 1956 verlassen musste, eine Flucht unter anderen Gegebenheiten. Richtig ist, hier standen viele Pate.

Einen entscheidenden Einfluss auf "Den Brutalisten" hatte der 2023 verstorbene französische Architekt und Architekturhistoriker Jean-Louis Cohen. Sein Werk "Architecture in Uniform" gab den Anstoß. Ihn hatte Corbet dann auch gefragt, ob es einen Architekten gegeben hätte, der den Holocaust überlebt und es in den Staaten zu etwas gebracht hätte. Cohen verneinte das. Corbet sah darin den Verlust von Potential und Talent. Darum ist also die Geschichte von Tóth eine fiktive. Eine Geschichte von einem Talent, das die Chance erhält, doch etwas Großes zu schaffen, und dabei an den Rand des Wahnsinns gebracht wird.

Das Schicksal von László Tóth nimmt eine Wende, als ein reicher Schnösel zu seinem Cousin in den Laden kommt und diesen bittet, die Bibliothek seines Vaters aufzuhübschen. Joe Alwyn spielt hier, eindeutig einem aktuellen amerikanischen Politiker nachempfunden, einen Sohn, der an seinen Vater nicht heranreicht. Man mag sich nicht vorstellen, wie die Neugestaltung ohne die Anwesenheit von Tóth ausgesehen hätte. Der Raum, den Tóth kreiert, ist übrigens Teil des Production Designs von Judy Becker. Hohe Regalwände hinter klappbaren Lamellen, die das zerstörerische Sonnenlicht abschirmen. Das Anwesen der Van Burens ist ein Neo-Barock-Schloss mit Schloßgarten. Drehort war hier das sogenannte Andrássy-Schloß in Tóalmás, ein Bau von Rezső Nay és Ödön Strausz aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts.

Einst, bevor es der Familie Andrássy gehörte, hatte man es zum Millenium (der ungarischen Landnahme im Karpaten-Becken), derart gestaltet, dass zum Beispiel die Treppe im Eingangsbereich der Pariser Oper nachempfunden wurde. Dieser Ort fungiert auch nicht das erste Mal als Drehort. Im Kommunismus wurde aus dem Anwesen ein Ferienlager für Kinder und der Niedergang wurde erst nach der Wende durch eine Stiftung aufgehalten. Das Gasthaus allerdings, in dem Tóth als Dauergast einquartiert wird, das befindet sich in Kőbánya, im X. Bezirk von Budapest, einem eher industriellen Teil der Stadt. Für das desolate Gasthaus sprang die sogenannte Dreher-Villa ein. Von hier kommt man übrigens auch in ein Kellersystem, das an anderer, dramaturgisch wichtigen Stelle als Drehort fungierte. Aber ich schwenke ab. Tóth erfasst den Raum mit seiner großen Fensterfront in seiner Essenz und schafft etwas, das dem zu früh heimkehrenden Familienpatriarch, Harrison Lee Van Buren, gespielt von Guy Pearce, explodieren lässt. Der mag keine Überraschungen und eine Bibliothek, die auf dem ersten Blick eine strenge Leere zeigt, das ist für ihn ein Schock.

Man darf aber auch nicht vergessen, dass es die europäischen Flüchtlinge waren, die die Moderne, den Bauhaus, das neue Design, in die Staaten brachten. Die Breuerischen Stahlrohrmöbel im Schaufenster wirkten ja auch erst einmal fremd. Van Buren jagt die beiden ungarischen Einwanderer erst einmal zum Teufel. Erst als ihm die große Öffentlichkeit in Form einer Homestory in einem renommierten Blatt die Bedeutung dieser neuen Bibliothek bescheinigt, erkennt der Geldmacher die Möglichkeit, nicht nur zu mehr Geld, sondern auch zu Ruhm zu kommen. Er sucht Tóth auf, der inzwischen die wortwörtliche Kohle schaufelt, übrigens nicht im Berliner Westhafen, sondern am Freihafen von Csepel, deren Gebäude im Hintergrund in der Tat denen von Philadelphia sehr ähneln, und bietet ihm zuerst so etwas wie Freundschaft an. Er trifft den wunden Punkt in seinem Gegenüber. Tóth erkennt in den Hausaufgaben, die Van Buren gemacht hat, dass seine Werke in der Heimat den Krieg überdauert haben. Architektur kann in der Tat größer sein als das Leben von Architekten.

Tóths großes Meisterwerk soll ein Community Center irgendwo auf dem Land werden. Kirche, Turnhalle, Bibliothek. Alles unter einem Dach. Zu Ehren von Van Burens verstorbener Mutter. Im Prinzip, aber natürlich strebt Van Buren mit einem quasi Pyramidenbau zur eigenen Unsterblichkeit. Tóth ergreift diese Chance. Der Bau, eher ein sakrales Monument, kommt architektonisch auch nicht aus dem Nichts. Vorbild stand hier sicherlich die Herz-Jesu-Pfarrkirche im Városmajor, der erste modernistische Kirchenbau von Budapest. Es ist ein Stahlbetonbau mit strengen Symmetrien, entworfen und ausgeführt von den Architekten Aladár Árkay und seinem Sohn Bertalan Árkay. Flache Dächer, stehende und liegende Säulen. Zumindest das Äußere erinnert stark an den Bau, den Tóth hier entwirft. Wer sich nun fragt, woher die Säulen in dem Wasserbecken kommen, die sich hier unter dem Bau befinden, diese Szenen drehte man im imposanten Wasserspeicher vom Gellérthegy (entworfen von József Gruber).

Die zweite Hälfte des Filmes ist die schwierigere, möchte man meinen. Nun stößt seine Frau Erzsébet und mit ihr die inzwischen erwachsene Zsófia zu der Geschichte. Doch nur in der ersten Überwältigung wirken diese zwei Filmhälften, als wären sie eigenständig, oder auch, als würde Corbet den Faden verlieren. Das tut er nicht und Erzsébet wird eine Rolle zuteil, die es in sich hat. Hier beginnen jetzt auch die Bauarbeiten. Ein Bau, der immer wieder zum Halt kommt, dessen Tempo sich auch auf den Film auswirkt.

Für den Altar in der zu errichtenden Kapelle schwebt Tóth Marmor vor. Dabei sollte es der weiße Marmor aus Carrara sein, der teuerste Marmor, der wirkungsvollste. Mit einem kleinen Stab drehte Corbet am Originalschauplatz. Und allein für diese Minuten vor dem Steinbruch in Italien lohnt sich der Kinobesuch. Gleichzeitig ist diese Wunde, die der Mensch in diese Berge geschlagen hat, um daraus Anbetungswürdiges zu schaffen zugleich gezeichnet von Horror als auch von Erfurcht.

Diese großen Szenen sind dabei gar nicht mal die Elementarsten dieses Dramas. Corbet und seine Co-Autorin Fastvold haben große Figuren entworfen. Da ist es eben doch das Schauspiel, das dieses Konstrukt tragen muss. Adrien Brody vermittelt in seiner Körperhaltung und mit Blicken die Frustration, nicht wirklich angenommen zu werden. Er vermittelt, wie es sich anfühlt, intellektuell der Überlegendere zu sein, während man von der Macht eines Egos klein gehalten wird. Guy Pearces Figur ist schieres Ego, das sich aus kleinlichen Rachegelüsten nährt. Eine Szene, in der er seine Herkunft und seine Lebensphilosophie Tóth gegenüber offenbart, zeigt genau, was ihn ausmacht. Tóth und Van Buren sind zwei Figuren, die beide sowohl von Minderwertigkeitsgefühlen geprägt sind als auch dem Gefühl der Überlegenheit heraus agieren. Auch dieser charakterliche Spalt ist in "Der Brutalist" verankert. Dabei stehen beide auch unmissverständlich für eine Haltung, eine Lebensform. Mehr soll gar nicht verraten werden.

Seine Premiere feierte "Der Brutalist" auf dem Filmfestival in Venedig. Hier gewann Brady Corbet den silbernen Löwen als bester Regisseur, während der Film selbst sowohl den Arca Cinema Giovani Preis als auch die FIPRESCI-Auszeichnung als Bester Film erhielt.

"Der Brutalist" besinnt sich auf die Stärken des alten Filmgeschäftes und wird sicherlich auch abseits von allen Filmpreisen in die Reihe der großen Werke eingehen. In Venedig hatte man die 70mm Kopie gezeigt, was wohl nicht ganz ohne Tücken funktioniert hatte. Die deutsche Universal hat es sich nicht nehmen lassen, und dafür bin ich wirklich dankbar, den Film der Presse ebenfalls in 70mm zu zeigen.

"Der Brutalist" feiert das Kino, wie es einmal war und wie es viel öfter sein sollte. Bereits nach wenigen Filmminuten weiß man, dass man hier etwas wirklich Wichtiges miterlebt. Dieser Film will nicht unterhalten. Wobei, auch wenn László Tóth am Anfang schreit, das sei nicht witzig, der Film so seine komischen Momente hat. So einige Aspekte habe ich noch nicht einmal angeschnitten, aber wie gesagt, das Teil ist ein Monster, ein überwältigendes Monster im guten Sinne. Was alles in ihm steckt, entfaltet sich erst nach und nach. Corbet erzählt eine spezifische Geschichte. Diese ist jedoch so universell, dass es zu vielen spricht.

Elisabeth Nagy


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