Vier neue Filmbesprechungen zu Kinostarts in der 50. und 51. KW 2023
Auch kurz vor Weihnachten nochmals bei uns Filmkritiken zu aktuell im Kino gestarteten Werken von dieser und letzter Woche.
Von Regina Roland
Der Countdown läuft - noch wenige Tage bis Weihnachten. Auf den Straßen, in den Geschäften herrscht chaotisches Gewimmel, die Menschen wirken angespannt, gehetzt. Einladungen sind ausgesprochen, verteilt und angenommen - die drei Weihnachtstage bei Vielen straff organisiert.
In diese Zeit fällt ein Film, der vom Innehalten erzählt, vom Dasein im Hier und Jetzt. "PERFECT DAYS" ist ein meditativer Film über einen Mann, der sich für ein Leben in Bescheidenheit und Ruhe entschieden hat.
"PERFECT DAYS" Besinnliche Dramödie von Wim Wenders über einen Toilettenreiniger in der japanischen Metropole Tokio. (Japan / Deutschland 2023, 125 Min.) Mit Koji Yakusho, Tokio Emoto, Arisa Nakano u.a. ab heute, den 21. Dezember 2023, in den deutschen Kinos.
Hier der Trailer:
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"ALL EURE GESICHTER" ein starker französischer Ensemblespielfilm von Jeanne Herry über Verständigung und Versöhnung von Opfern und Tätern in einem „gruppentherapeutischen“ Stuhlkreis, um einst real geschehene Verbrechen nachzuempfinden. (Frankreich, 2023; 118 Min.) Mit Birane Ba, Leïla Bekhti, Dali Benssalah u.a. seit 14. Dezember 2023 vereinzelt im Kino.
Hier der Trailer:
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"EILEEN" ein queerer Thriller noir von William Oldroyd, um ein mysteriöses Verbrechen. (USA / Großbritannien / Südkorea, 2023; 97 Min.) Mit Thomasin McKenzie, Anne Hathaway, Shea Whigham u.a. seit 14. Dezember 2023 vereinzelt im Kino.
Hier der Trailer:
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"LAGUNARIA" Dokumentarfilm von Giovanni Pellegrini mit einer Stimme aus der Zukunft, über eine Stadt, die vielleicht dereinst von der Erdoberfläche verschwunden sein wird. (Italien, 2021; 86 Min). Mitwirkende: Romano Zen, Nicola Ebner, Daniele Serio, Giorgio Molin, Guido Jaccarino, Ada Stevelich, Emiliano Simon, Maria Fiano, Francesco Penzo, Christian Badetti, Andrea Berton, Luca Manprin, Uma de Polo, Davide de Polo, Chiara Pluchinotta, Marco Bassi, Melissa Mc Gill, Federico Mantovan, David Angeli, Enea Cabra, Nicoletta Passetti, Lorenzo Tassoni, Narrator: Irene Petris. Ab 21. Dezember 2023 im Kino.
Hier der Trailer:
Von Regina Roland
Der Countdown läuft - noch wenige Tage bis Weihnachten. Auf den Straßen, in den Geschäften herrscht chaotisches Gewimmel, die Menschen wirken angespannt, gehetzt. Einladungen sind ausgesprochen, verteilt und angenommen - die drei Weihnachtstage bei Vielen straff organisiert.
In diese Zeit fällt ein Film, der vom Innehalten erzählt, vom Dasein im Hier und Jetzt. "PERFECT DAYS" ist ein meditativer Film über einen Mann, der sich für ein Leben in Bescheidenheit und Ruhe entschieden hat.
"PERFECT DAYS" Besinnliche Dramödie von Wim Wenders über einen Toilettenreiniger in der japanischen Metropole Tokio. (Japan / Deutschland 2023, 125 Min.) Mit Koji Yakusho, Tokio Emoto, Arisa Nakano u.a. ab heute, den 21. Dezember 2023, in den deutschen Kinos.
Hier der Trailer:
Reginas Filmkritik:
„Was vergangen ist, ist vergangen, jetzt ist jetzt“ - das ist die Philosophie des Toilettenreinigers Hirayama, (Koji Yakusho), der Hauptfigur in Wim Wenders Film.
Bereits in den ersten Minuten zieht uns dieser Mann in seinen Bann, dabei sind es eigentlich höchst banale und alltägliche Dinge, die er verrichtet. Aufstehen, waschen, Zähne putzen, seine Setzlinge besprühen, die akkurat aufgereihten Schlüssel und dass Münzgeld mit einem routinierten Griff von der immer gleichen Stelle nehmen und in den Tag hinaustreten.
Es ist früher Morgen, die Dämmerung weicht dem ersten Licht. Hirayamas Blick geht als Erstes nach oben, in die Bäume, in den Himmel: er begrüßt den Tag.
Dann setzt er sich in seinen Kleintransporter, den er zum Putzmobil umgebaut hat, und fährt in der erwachenden Metropole Tokio zur Arbeit. Das alles geschieht schweigsam und gelassen.
Tag für Tag der gleiche Weg, die gleichen Rituale. Mit Sorgfalt und Würde reinigt Hirayama die öffentlichen Toiletten der Stadt.
Wie dieser seit langem vielleicht bewegendste Spielfilm von Wim Wenders entstanden ist, das ist fast schon eine Geschichte für sich.
Wenders erhielt eine Einladung nach Tokio mit der Anfrage, ob er sich vorstellen könne, mehrere kurze Dokumentarfilme über ein gutes Dutzend neu entstandener, öffentlicher Toilettenhäuschen im Stadtviertel Shibuya zu drehen - keine gewöhnlichen Toiletten, sondern jede für sich ein kleines architektonisches Meisterwerk, entworfen von renommierten Architekten. Blitzsauber mit heizbaren Sitzen, eingebautem Bidet und einstellbarer Wassertemperatur haben öffentliche WCs in Japan einen ganz anderen Stellenwert als in Europa. Sie spiegeln, so wie Ordnung und Sauberkeit in Japan im Allgemeinen, die ausgeprägte soziale Verantwortung der Bürger gegenüber der Gesellschaft wider.
Wim Wenders, Regisseur
„Die kleinen Toilettentempel gefielen mir ungemein, aber gleich vom ersten Eindruck her nicht als Mittelpunkte kurzer Dokumentarfilme. Ich hatte vielmehr große Lust, sie in einen fiktionalen Kontext zu setzen. Ich finde, ‚Orte‘ sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten. DER HIMMEL ÜBER BERLIN fing ja auch mit der Lust an, diese Stadt mit all ihren Facetten zu zeigen. Aber wenn ich damals einen Dokumentarfilm über Berlin gemacht hätte, wären die Orte des Films nicht so ‚erhalten‘ geblieben, wie es durch die Erzählung der Engelsgeschichte geschehen ist.“
So entstand die Idee zu einem Spielfilm. Gemeinsam mit Drehbuchautor Takuma Takasaki (gleichzeitig auch Produzent des Films) entwickelte Wenders das Porträt eines japanischen Toilettenreinigers in einer der größten Metropolen der Welt. Dank perfekter Vorbereitung war der Film in gut 2 Wochen abgedreht.
Wim Wenders ist seit den 70iger Jahren zweifellos einer der bedeutendsten deutschen Filmemacher, weltweit bekannt. Allein 10 Mal war er in den Wettbewerb von Cannes eingeladen, 1984 bekam er dort die Goldene Palme für das Roadmovie "PARIS TEXAS". Den Preis für die beste Regie gewann er 1987 für "DER HIMMEL ÜBER BERLIN". Sein Film "IN WEITER FERNE SO NAH" erhielt 1993 den großen Preis der Jury. Dieses Jahr war Wim Wenders sogar mit zwei Filmen auf dem Festival vertreten. Neben "PERFECT DAYS" im Wettbewerb stellte er seinen neuen, in 3D gedrehten Dokumentarfilm "ANSELM - IM RAUSCH DER ZEIT" über den Künstler Anselm Kiefer als Special Screening vor, ein starkes Porträt des Malers und Bildhauers.
"PERFECT DAYS" galt schon in Cannes als einer der Favoriten, keine Überraschung also, als Hauptdarsteller Koji Yakusho alias Hirayama als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde. In seinem intensiven Spiel und seiner schweigsamen Präsens ist er großartig. Er schafft es, uns mitzunehmen in das einfache, zurückgezogene Leben Hirayamas und strahlt eine Gelassenheit aus, die sich auf den Zuschauer überträgt.
Im Protagonisten Hirayama spiegelt sich auch das Alter Ego des Regisseurs. Waren Wenders frühere Helden, wie Travis (Harry Dean Santon) aus PARIS TEXAS rastlos Getriebene und selbst Engel wie Damiel (Bruno Ganz) aus DER HIMMEL ÜBER BERLIN nicht vor einem „Fall“ gefeit, so scheint dieser Held angekommen zu sein.
Unterwegs in seinem Transporter hört er analog Musik auf alten Audio Compact Cassetten, US- amerikanische Rockmusik von "LOU REED" (Perfekt Days) oder "PATTI SMITH, VAN MORRISON", den "STONES" oder den "KINKS". Wenders musikalische Vorlieben sind unverkennbar.
Hirayama führt ein geregeltes Leben, gründlich und mit Sorgfalt geht er seiner Arbeit als Toilettenputzer nach. Die aufmerksame, bisweilen fast dokumentarische Kamera von Franz Lustig begleitet den wortkargen Helden, folgt ihm durch den Tag. Mittags während seiner Pause setzt er sich in den Park, verzehrt ein Sandwich und schaut auf das Lichtspiel der Sonne in den Blättern. Bisweilen nimmt er seine analoge Kamera und fotografiert seinen Lieblingsbaum. Wir sehen ihn vorsichtig einen kleinen Setzling ausgraben, den er mit nach Hause nehmen und einpflanzen wird - ein weiterer Kandidat für den morgendlichen Sprühregen. Nach getaner Arbeit geht er in ein öffentliches Bad, danach in einen Imbiss, abends vor dem Einschlafen liest er Faulkner.
Wim Wenders
„Hirayamas Alltag dient unserer Erzählung als Rückgrat. Das Schöne an diesem monotonen Rhythmus des ‚ewig Gleichen‘ ist, dass man plötzlich beginnt, auf all die kleinen Dinge zu achten, die eben nicht gleichbleiben, sondern sich jedes Mal verändern. Wenn man wie Hirayama tatsächlich lernt, vollkommen im HIER UND JETZT zu leben, gibt es keine Routine mehr. An ihre Stelle tritt die kontinuierliche Aufeinanderfolge einmaliger Ereignisse, einmaliger Begegnungen und einmaliger Momente. Hirayama nimmt uns mit in dieses Reich zufriedener Gegenwart“.
Es gibt Begegnungen, die vorsichtig Hirayamas Vergangenheit andeuten. Seine Nichte Niko (Arisa Nakano) taucht auf, sie ist von zu Hause ausgerissen, um ihren Onkel zu besuchen - Seelenverwandte die Beiden. Als die Schwester Hirayamas in einem Luxusauto erscheint, um ihre Tochter zurückzuholen, wird deutlich, dass es innerhalb der Familie Zerwürfnisse gab, die vielleicht zu seinem einfachen Leben geführt haben. Doch mehr gibt Wenders nicht preis, die Geschichte bleibt offen.
"PERFECT DAYS" zeigt Wim Wenders Verbundenheit und Liebe zu Japan und der japanischen Kultur. Schon in den 80iger Jahren reiste er in das Land der aufgehenden Sonne. 1985 setzte er in seinem filmischen Tagebuch "TOKYO-GA" dem bekannten japanischen Regisseur Ozu Yasujirō (1903 -1963) ein Denkmal und begab sich auf die Spuren des Meisters.
Yasujirō verwendete in Innenräumen immer eine niedrige Position der Kamera, damit das Publikum das Gefühl hatte, in Augenhöhe mit den Protagonisten des Films zu sein. Wenn wir in "PERFECT DAYS" Hirayama in seiner kleinen Wohnung beobachten, beim Anschauen von Fotos, beim abendlichen Lesen oder beim Einschlafen wird deutlich, dass Wenders diese Kameraperspektive übernimmt und damit eindringliche und intime Momente schafft. Den Film hat er dem Regiemeister Ozu Yasujirō gewidmet.
Wim Wenders
„Ich bin vor allem beeindruckt von dem Gefühl, das alle seine Filme durchdringt: dass jedes Ding und jeder Mensch einmalig ist, dass jeder Moment nur einmal geschieht und dass die alltäglichen Geschichten die einzigen Geschichten von Dauer sind.“
Die Stadt Tokio spielt die zweite Hauptrolle in dem Film. Die Kamera zelebriert die Größe und Eigenheit der japanischen Metropole. Lustig zeigt in beeindruckenden Bildern die Besonderheiten dieser Stadt, wie den Skytree, das moderne Wahrzeichen der Stadt, die unzähligen Getränkeautomaten, die vielen Restaurants und Bars neben ultramodernen Hochbauten und das futuristische Geflecht der sich überkreuzenden Schnellstraßen.
Wim Wenders
„Ich liebe Tokio, seit ich mich dort das erste Mal tagelang verlaufen habe. Das war bereits in den späten Siebzigern. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, wie ich stundenlang in dieser gigantischen Stadt herumgeirrt bin, ohne zu wissen, wo ich mich jeweils befand. Abends bin ich dann immer in die nächstbeste U-Bahn und hab zu meinem Hotel zurückgefunden. Jeden Tag war ich in einer anderen Gegend. Ich war verblüfft, wie chaotisch die Stadt aufgebaut zu sein schien: Viertel mit uralten Holzhäusern inmitten von Wolkenkratzern und stark befahrenden Stadtautobahnen, Ich war fasziniert von dem friedlichen Miteinander von Zukunft und Vergangenheit, das sich vor mir auftat. Damals kannte ich nur die USA als Ort, an dem man der Zukunft begegnen kann. Hier in Japan bot sich mir eine andere Version, die mir überaus gefiel.“
2023 war ein sehr erfolgreiches Jahr für den inzwischen 78-jährigen Wenders. Eine besondere Ehrung: Japan, das Land, mit dem er sich seit vielen Jahren verbunden fühlt, schickt seinen Film in das Rennen um den Auslands-Oscar 2024. Es ist das erste Mal nach über 70 Jahren, das Japan einen Künstler entsendet, der nicht selbst aus dem Land stammt.
PERFECT DAYS - ein Film, der berührt, ein Werk, das uns das Staunen lehrt über die Schönheit des Lebens und der scheinbar einfachen Dinge, jenseits von Hektik.
Am 21. Dezember 2023 startet Wim Wenders Film in Deutschland - ein cineastisches Weihnachtsgeschenk!
Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)
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"ALL EURE GESICHTER" ein starker französischer Ensemblespielfilm von Jeanne Herry über Verständigung und Versöhnung von Opfern und Tätern in einem „gruppentherapeutischen“ Stuhlkreis, um einst real geschehene Verbrechen nachzuempfinden. (Frankreich, 2023; 118 Min.) Mit Birane Ba, Leïla Bekhti, Dali Benssalah u.a. seit 14. Dezember 2023 vereinzelt im Kino.
Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Es ist eine gute Idee, die in Frankreich 2014 unter dem Begriff „Restaurative Justiz“ ins Leben gerufen wurde. Ein Wiedergutmachungsverfahren, an dem Täter und Opfer in ein Gespräch kommen. Extra ausgebildete Mediatoren sind dabei, wenn die Opfer solch ein Gespräch wünschen. Es ist ausgemacht, dass die Täter, wenn sie daran teilnehmen, keinen Bonus eines Straferlasses oder Verkürzung bekommen. Täter können Einblicke für ihre Gründe der Straftat geben und die Opfer können über ihre Traumata, die sie davongetragen haben, ihre Wut äußern und im Idealfall eine Lösung finden, eventuell sogar einen Weg zur Wiedergutmachung.
Nawelle (Leila Bekhti), Grégoire (Gilles Lellouche) und Sabine (Miou-Miou) wurden überfallen und ausgeraubt, was zur Folge hatte, dass ihr Leben aus den Fugen geraten ist, nehmen an den Sitzungen teil. Im Mittelpunkt steht Chloe (Adèle Exarchopoulas), die erfahren hat, dass ihr Halbbruder, der sie als Kind sexuell missbraucht hat, wieder in der Stadt ist und sie ihn auf keinen Fall unvorhergesehen auf der Straße treffen will. Sie kämpft um ihre Selbstbestimmung und nimmt bei dem Programm zum Täter-Opfer-Ausgleich teil. Intensive Gespräche mit ihrer Mediatorin gingen voraus. Miteinander zu reden, ist oftmals sehr hilfreich, um eventuell Gerechtigkeit wieder herzustellen oder sich gar zu verzeihen.
Das hat auch die französische Regisseurin Jeanne Herry genutzt und ein Spielfilm- Drama daraus gemacht und selbst an solchen Sitzungen teilgenommen.
Ein kleines Highlight beschert uns ihr Film: Ihre Mutter, Miou Miou, die man schon länger auf der Leinwand vermisst hat, spielt die ältere Dame, die seit dem bewaffneten Überfall auf ihre Handtasche, schwer traumatisiert ist.
Interessante Dialoge zwischen Tätern und Opfern zeigen ein glaubwürdiges Schauspielerensemble, ohne zu einem Dokumentarfilm zu greifen. Viele Großaufnahmen der Gesichter der Protagonisten verschärfen ihr ehrliches Spiel noch ungemein. Ein Lob auch an die Synchronisation, die störende Untertitel entbehren lässt, sodass man sich voll auf die Mimik in den Gesichtern konzentrieren kann.
Ulrike Schirm
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"EILEEN" ein queerer Thriller noir von William Oldroyd, um ein mysteriöses Verbrechen. (USA / Großbritannien / Südkorea, 2023; 97 Min.) Mit Thomasin McKenzie, Anne Hathaway, Shea Whigham u.a. seit 14. Dezember 2023 vereinzelt im Kino.
Hier der Trailer:
Ulrikes Filmkritik:
Ein leichtes, fröhliches Leben hat die scheue Eileen Dunlop (Thomasin McKenzie) nicht. Es sind die 1960er Jahre, in einem Kaff in Neu-England. Eileen arbeitet als Sekretärin in einer Jugendhaftanstalt, in der die meisten Straftäter kaum älter sind als sie.
Wenn sie nach Hause kommt, wartet schon ihr alkoholkranker Vater (Shea Whigham), der einst ein Cop war und beschimpft seine wie eine graue Maus daherkommende Tochter, im Gegensatz zu ihrer Schwester, es im Leben zu nichts gebracht zu haben. Dass sie sich in unbeobachteten Momenten in Sex und Gewaltfantasien flüchtet und sich selbst befriedigt, zeigt, dass es ihr nicht gut geht. Ihre Hauptaufgabe im Knast ist, Mütter, die ihre Kinder besuchen, gewissenhaft abzutasten, bevor sie in den Besucherraum dürfen.
Unterbrochen wird die Trostlosigkeit, als eine neue, glamouröse Psychologin, Rebecca Saint John (Anne Hathaway), ihre Stelle antritt. Eileen ist fasziniert von der platinblonden Frau im maßgeschneiderten Kostüm und den eleganten hochhackigen Schuhen. Größer können Gegensätze kaum sein. Eine Gestalt wie aus einem anderen Film taucht plötzlich auf. Die beiden Frauen kommen sich schnell näher. Eileen beginnt die von ihr bewundernswerte „Dame“ nachzuahmen.
Dass Rebecca anderen etwas vorspielt und nur an sich denkt, weiß Eileen noch nicht. In Rebecca schlummert ein Geheimnis, eine Gefahr für Eileen aber auch eine Chance, durch die, die neue Freundschaft der Sekretärin einen unvorhergesehenen Verlauf nimmt.
William Oldroyd („Lady Mcbeth“) macht aus dem anfänglichen Sozialdrama, offensichtlich von Hitchcock inspiriert, ein Freundschafts- und Liebesdrama mit düsteren Thriller Elementen, ein Film Noir, mit Bildern von morbider Atmosphäre und leisen, fast eiskalten Tönen.
„Eileen“ ist eine gleichnamige Adaption des für den Booker Prize nominierten Romans von Ottessa Moshfegh, der mit Romanen von Patricia Highsmith verglichen wurde.
Ulrike Schirm
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"LAGUNARIA" Dokumentarfilm von Giovanni Pellegrini mit einer Stimme aus der Zukunft, über eine Stadt, die vielleicht dereinst von der Erdoberfläche verschwunden sein wird. (Italien, 2021; 86 Min). Mitwirkende: Romano Zen, Nicola Ebner, Daniele Serio, Giorgio Molin, Guido Jaccarino, Ada Stevelich, Emiliano Simon, Maria Fiano, Francesco Penzo, Christian Badetti, Andrea Berton, Luca Manprin, Uma de Polo, Davide de Polo, Chiara Pluchinotta, Marco Bassi, Melissa Mc Gill, Federico Mantovan, David Angeli, Enea Cabra, Nicoletta Passetti, Lorenzo Tassoni, Narrator: Irene Petris. Ab 21. Dezember 2023 im Kino.
Hier der Trailer:
Elisabeths Filmkritik:
Venedig ist die Stadt der Lagunen. Venedig ist damit auch der Sehnsuchtsort eines stetig fließenden Stroms von Touristen. Kreuzfahrtschiffe spucken immer mehr von ihnen aus. Zahlreiche Dokumentarfilme widmen sich sowohl der Geschichte als auch der Bedrohung durch ihren Ruhm und ihrem Ruf.
Der Venezianer Giovanni Pellegrini betrachtet seine Stadt, in der er, so sagt er, in einem Boot geboren wurde, sowohl aus der Distanz als auch aus seinem Inneren heraus. Bevor Pellegrini die Stadt aus der Perspektive eines Dokumentarfilmers betrachtete, führte er Touristen in die abgelegensten Winkel. Auch hier ist sein Blick der eines Einheimischen, der jeden Kanal kennt. Aus der Vogelperspektive zeigt uns Pellegrini zuerst nur die Leere, die Weite und das Wasser. Eine kleine Insel, eine Sandbank, eine Kate. Erst dann wechselt er die Perspektive ins Jetzt, in der Venedig aus der Höhe sich wie eine Patchworkdecke präsentiert. Das Wasser ist fast das Hauptelement von "Lagunaria" und dann es geht hinein in die Kanäle und damit gelangen die Probleme der Stadt und ihrer Bewohner immer mehr in den Fokus.
Bereits 2020 hatte Pellegrini Venedig zum Thema genommen. In "Citta' delle sirene" berichtete Pellegrini aus erster Hand, wie eine Flut an Wasser die Stadt traf und zum Katastrophengebiet machte. Im November 2019 kämpften die Bewohner gegen das Hochwasser und in einem nachdenklichen Essay behandelte der Regisseur die Auswirkungen des Klimawandels auf die, die die Auswirkungen zuerst erleben werden.
"Lagunaria" ist quasi eine Fortsetzung. Noch dazu versiegte der Touristenandrang, als die Covid 19-Pandemie alles in einen Lockdown versetzte. Bilder der Leere stehen im Kontrast mit Bilder von eng beisammen stehenden Touristen auf den bekannten Stadtmarken.
Venedig ist in "Lagunaria" nur noch eine Erinnerung. Vielleicht gab es diese Stadt nie. Die Off-Stimme von Irene Petris erzählt aus der Zukunft von einer Stadt, die einmal war. Von einer "unsichtbaren Stadt", so wie der von den Italienern so sehr verehrte Italo Calvino, sie behandelte. Mit den Booten und den Gondeln gleiten wir hinein in den Stadtraum und durch die engen Wasserwege. Die Kamera nimmt diesen Rhythmus auf. Ein Ruderschlag, noch ein Ruderschlag. Ein Gondoliere erklärt dem Nachwuchs den Weg des Wassers und wie man ihn sich zunutze macht. Restaurateure und Handwerker behandeln die Wunden, die das Wasser dem Boden, den Bodenmosaiken und den Wänden zufügt hat. Denn kampflos ergeben sich die Venezianer nicht.
Szenen vom Alltag der Bewohner sind dokumentarisch und doch ist "Lagunaria" mehr ein Essay und eine mahnende Betrachtung. Es steht zu befürchten, dass Venedig eines Tages wirklich vom Wasser verschlungen wird. Es ist ein Schicksal, das auch andere Städte, Küstenregionen, Inseln bedroht. Pellegrini erinnert an das, was gewesen sein wird, an die Würde und die Schönheit. Seine Mahnung an uns setzt er poetisch um. Wir sollten ihn trotzdem ernst nehmen.
Elisabeth Nagy