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5. QueerFilmFestival eröffnet in Berlin mit »HÖR AUF ZU LÜGEN« von Olivier Peyon

Vom 7. - 13. September 2023 feiert das QueerFilmFestival in 16 Kinos und 12 Städten eine ganze Woche lang die Vielfalt des queeren Kinos.



Das QueerFilmFestival feiert halbrunden Geburtstag und präsentiert dieses Jahr schon zum fünften Mal die besten nicht-heteronormativen Filme des Jahres auf der großen Leinwand! Das diesjährige Programm umfasst 26 herausragende nicht-heteronormative Spiel- und Dokumentarfilme. Mit dabei sind Highlights aus Venedig und Toronto, von Sundance und der Berlinale. Eine Retrospektive und ein Spotlight ergänzen online das Kinoprogramm.

Das Queerfilmfestival ist eine Veranstaltung der Queeren Kulturstiftung und wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.

ANGELIKAS Festivalhinweis und Filmbesprechung:

Das „Queerfilmfestival“ hat sich durchgesetzt: Es kann in diesem Jahr tatsächlich schon seinen fünften Geburtstag feiern. Und zwar von Donnerstag, den 7. September bis zum Mittwoch, den 13. September 2023 präsentiert dieses im wahrsten Sinne außergewöhnliche Film-Festival in 16 Kinos und 12 Städten eine ganze Woche lang die Vielfalt des queeren Kinos: Mit etwa einem Dutzend der besten nicht heteronormativen Filme des Jahres kann und wird das „Queerfilmfestival“ auf der großen Leinwand hoffentlich überraschen und weiterhin inhaltlich akzeptiert werden.

In Berlin gibt es ja bereits jeden Montag zur Spätvorstellung im Kino International den Mongay Filmabend, organisiert vom Salzgeber Filmverleih. Weil dieser so gut angenommen wurde, war natürlich klar, dass der Auftakt des Salzgeber Queerfilmfestivals ebenfalls in Berlin stattfindet. Allerdings im kleineren Delphi Lux Kino am Bahnhof Zoo, das aber ebenso wie das Kino International in der Karl-Marx-Allee, nähe Alexanderplatz, zur Yorck Kinokette gehört.

Das diesjährige Programm umfasst alles in allem 26 herausragende queere Spiel- und Dokumentarfilme. Mit dabei sind Highlights aus Venedig und Toronto, von Sundance und der Berlinale. Eine Retrospektive und ein Spotlight ergänzen das Kinoprogramm auch noch ONLINE.

Aus der Normalisierung von heterosexuellem Begehren und Zweigeschlechtlichkeit erfolgt eine Konstruktion von Homo- und Bisexualität sowie Trans- und Intergeschlechtlichkeit oftmals als verachtete Abweichung. Nicht-heterosexuelles Begehren gilt dort dann als deviant und nicht-normative Geschlechtsidentitäten werden als illegitim bezeichnet.

Eröffnet wird das „Queerfilmfestival“ aber sehr direkt mit der filmischen Aufforderung "HÖR AUF ZU LÜGEN" unter der Regie von Olivier Peyon mit Guillaume de Tonquédec, Victor Belmondo, Jérémy Gillet, Julien de Saint Jean, Guilaine Londez, uvm. — Frankreich 2021, 98 Minuten. Hier der Trailer:


In Olivier Peyons Verfilmung des gleichnamigen queeren Bestsellers kehrt ein Autor in seine Heimat zurück und erinnert sich an seine erste große Liebe als 17-Jähriger während eines flirrenden Sommers.


Ebenso wird "ORLANDO, MEINE POLITISCHE BIOGRAFIE" von Paul B. Preciado auf dem Festival laufen (Frankreich 2023, 98 Minuten). Hier der Trailer:



In „Orlando“ (1928) erzählt Virginia Woolf die Geschichte eines jungen Mannes, der am Ende eine Frau ist. Knapp 100 Jahren nach dem Erscheinen des Romans, der heute als queerer Schlüsseltext gilt, schreibt der Philosoph und Trans-Aktivist Paul B. Preciado einen filmischen Brief an Woolf und ruft ihr zu: Deine Figur ist wahr geworden, die Welt ist heute voller Orlandos! In seinem Film zeichnet er seine eigene Verwandlung nach und lässt 25 trans und nicht-binäre Menschen im Alter zwischen 8 und 70 Jahren zu Wort kommen. Sie alle schlüpfen in die Rolle Orlandos.

Preciados Film ist eine „politische Biografie“, gemacht aus der eigenen und der kollektiven Geschichte aller anderen Orlandos – eine Geschichte, die noch immer eine des Kampfs für Anerkennung und Sichtbarkeit innerhalb eines heteronormativen Regimes ist. Transsein versteht Preciado dabei als eine poetische Reise, in der eine neue Sprache erfunden wird, mit der man sich selbst bezeichnen kann. Die Vorstellung von einer Welt, die im stetigen Wandel ist, gewinnt so ihre Form. Für seinen widerständigen, durch und durch queeren Filme wurde Preciado auf der „Berlinale“ gefeiert und unter anderem mit dem Teddy für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet.

Der Film ist eine Produktion des Word Cinema Funds in Berlin. Das heißt er wurde von der „Berlinale“ finanziell gefördert. Das heißt aber nicht, dass er auch auf der „Berlinale“ selbst gezeigt wird. Vielmehr gilt das Filmfestival in diesem Fall dann eher als Export-Unternehmen, quasi als Exportunion um schwierige, aber sehenswerte Werke auf anderen Festivals zu zeigen. Dadurch lenkt die „Berlinale“ also eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich selbst.


Obwohl es sich beim diesjährigen „Queerfilmfestival“ bei einem der Filme, nämlich bei „Anhell69“ um einen sehr individuellen Film-Stoff handelt, der höchst persönliche Lebenswege und nicht gerade alltägliche Lebens-Auffassungen aufzeigt, haben sich an der Finanzierung dieses mehr oder minder umstrittenen Vorhabens dennoch mehr als 20 internationale Filmeinrichtungen ohne Weiteres beteiligt. So auch sogar das nationale Filmzentrum von Rumänien als auch andere nationale Filmzentren ebenso wie auch diverse Goethe-Institute.

„ANHELL 69“ semidokumentarische Form von Theo Montoya.
Bei dem außergewöhnlichen Film „ANHELL 69“ eine Produktion der Länder Kolumbien, Rumänien, Frankreich und Deutschland (2022; 72 Minuten), geht es um Transsexuelle in der Stadt Medellín, der zweitgrößten Stadt im lateinamerikanischen Kolumbien, das als Mekka der Homosexualität im Norden von Süd-Amerika gilt. Hier der Trailer:



„Anhell“ sind so etwas wie Engel, die in einer Hölle der Begierde leben, nämlich inmitten einer dystopischen Großstadt ohne Vergangenheit und ohne Erinnerung. In Medellín, dieser von brutaler Gewalt beherrschten Stadt, gibt es mehr Tote als Platz für Gräber vorhanden ist. Daraufhin begannen die Lebenden mit den „wandelnden“ Geistern der Toten zusammen zu leben. So, dass sich dann bald unter der jüngeren Bevölkerung die sexuelle Anziehung zu den Geistern der Stadt weit verbreitete.

„Anhell 69“ war ursprünglich das Pseudonym, das ein junger Transsexueller für sein Instagram Internetportal nutzte. Und als „Anhell 69“ war er der erste, der angeblich ungeschützten Sex mit einem Geist hatte. Seinem Vorbild folgten viele von den trostsuchenden jugendlichen Transsexuellen in der Stadt von Medellín. Schnell verbreitete sich diese Saga, um mit Geistern ficken zu können… So heißt es fast wörtlich im Film. Und soweit das Porträt einer zerstörten Generation zwischen Leben und Tod. Einer Generation von Alleingelassen zwischen zu vielen Grausamkeiten. Zwischen Unwissen und Ungewissheiten, die sich häufig von einer dysfunktionalen Familie oder auch aus der elenden Bevormundung durch die rechtsradikal orientierte Stadt Medellín befreien wollten.

Der Film beginnt mit einer Autofahrt. Durch die dunklen Straßen von Medellín, dieser aus dem Ruder gelaufenen kolumbianischen Stadt gleitet — so meint man — ein großer nord-amerikanischer Schlitten. Erst langsam begreift man, dass es sich um einen Leichenwagen handelt. Im Sarg liegt der junge Regisseur Theo Montoya. Er erinnert sich an die Vorbereitungen für seinen ersten Film: Ein B-Movie über Geister. Die Rollen wollte er mit seinen Freunden besetzten, den jungen queeren Menschen aus Medellín, die gegen ein repressives Umfeld kämpfen. Aber sein Hauptdarsteller, der sich auf Instagram „Anhell69“ nennt, stirbt kurz vor Drehbeginn an einer Überdosis Heroin — wie auch so viele weitere unwissende Freunde. — Trotzdem entsteht ein Film. — Allerdings ein ganz anderer als der geplante.

Halb rekonstruiert, halb imaginiert erzählt Theo Montoya in seinem Regiedebüt „Anhell69“ von den Träumen und Ängsten, den Exzessen und der Melancholie einer zerstörten Generation. Sein fluider Film über eine Welt ohne Zukunft, die Kraft der Gemeinschaft und die schmale Grenze zwischen Leben und Tod wurde in der „Woche der Kritik“ bei den Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt und feierte seine deutsche Premiere beim „Dok-Film-Festival“ in Leipzig, wo er mit dem Hauptpreis, der „Goldenen Taube“, ausgezeichnet wurde.


Welch ein Fortschritt! — Wenn man nur mal bis in die fünfziger Jahre zurückdenkt, also etwa nur die Länge eines Menschenlebens, muss man feststellen, dass auch im Nachkriegs-Deutschland auf dem Gebiet der Anerkennung der Homosexualität so einige Jahrzehnte ins Land gehen mussten, bis bedeutende Fortschritte gemacht wurden: Als Beispiel der Verfolgung von „Schwulen“ (wie man damals noch verunglimpfend sagte) kann in jedem Fall der Spielfilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) von Lars Kraume gesehen werden: Wer damals verraten wurde, wenn er sich heimlich mit anderen Schwulen traf, musste mit Bestrafung hinter Gittern rechnen. Oder wer auch nur von Hochnäsigen verdächtigt wurde „vom anderen Ufer“ zu sein und deshalb angezeigt wurde, konnte sich schnell „hinter Gittern“ befinden.

Oder auch Frauen, die entweder unwissend oder wenn sie „Bescheid wussten“ auch homosexuelle Männer bewusst geheiratet hatten, um sie vor der Strafverfolgung während der Nazizeit zu retten, konnten sich in den Nachkriegsjahren mit dem damals noch geltenden Schuld-Prinzip nicht so einfach wie gedacht scheiden lassen. Denn wenn sie „Homosexualität“ als Schuld angegeben hätten, wären ihre Männer – die ja auch häufig genug mit ihren Angetrauten zusammen noch kleine Kinder hatten – im Gefängnis gelandet.

Fantasie und gleichzeitig Aufklärung, wie sie das „Queerfilmfestival“ zu leisten versucht und in sogenannten modernen Staaten auch leisten darf, ist auch heutzutage nicht so einfach selbstverständlich - wenn man nur an die fast alltäglichen Verfolgungs-Geschichten in den Welt-Fernseh-Nachrichten denkt.

Angelika Kettelhack

Link: queerfilmfestival.net

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