Skip to content

L’IMMENSITÀ oder die Unermesslichkeit und zwei weitere Filmbesprechungen

Unsere Filmkritiken zu Kinostarts in der 30. KW 2023. Unter anderem über einen italienisch-französischen Film mit einer umwerfend schönen und manchmal auch recht traurigen Spanierin — Penélope Cruz und ihrem kleinen 12-jährigen Mädchen, das gern ein Junge wäre.


"L’ IMMENSITÀ - meine fantastische Mutter" Drama um Geschlechteridentität von Regisseur Emanuele Crialese, der zusammen mit Francesca Manieri und Vittorio Moroni das Drehbuch entwickelte. (Italien / Frankreich, 2022; 99 Min.) Mit der Oscar®-Preisträgerin Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani u.a. ab 27. Juli 2023 im Kino.

Hier der Trailer:



Angelikas Filmkritik:

Drei Kinder wirbeln rundherum um Ihre Mutter, die gerade vor dem Spiegel steht und sich ausgiebig schminkt. „Gehst Du heute aus?“ - „Wohin willst Du heute?“ - „Können wir mit?“

Aber „Nein!“ Die temperamentvolle Mutter, verkörpert von der spanischen Filmschauspielerin Penélope Cruz macht sich nur schön, um ganz simpel mit den Kindern zusammen die Aktion des Tisch-Deckens in eine wilde Tanz-Show umzuwandeln. Dazu wird eine Platte aus den 70ern aufgelegt, die durch ihren geraden und stark akzentuierten Beat eine hohe Tanzlust verbreitete und in deren Texten es sich häufig um Ausgehen oder Liebe dreht. — Und schon beginnt das Decken des Tisches für das Abendessen als eine tänzerische Raserei mit den Tellern, Gläsern und Bestecken los… Die attraktive Penélope Cruz kann auch als Mutter begeistern und nicht nur ihre drei Kinder mitreißen, sondern auch den Zuschauer.

Die Bilder im Fernseh-Apparat sind in der damaligen Zeit noch schwarz-weiß und ein Blick durch die weiten Panorama-Fenster erlaubt die Sicht auf die anderen Vielfamilien-Häuser in einem nagelneu erbauten und teils noch in Konstruktion befindlichen Stadtviertel. Es entsteht die Vermutung, dass der Ehemann (gespielt von Vincenzo Amato) die Familie dorthin „verbannt“ hat, um so ungestörter sein Doppelleben zu praktizieren. Er rühmt sich sogar, dass seine Frau nicht arbeiten gehen muss und so ihre ganze überschüssige Kraft –– und heimliche Sehnsucht nach „Etwas-erleben-wollen“ –– gezwungenermaßen, um so besser und einfacher in die Kindererziehung investieren kann.

Sie aber ist ständig mit den Dreien und deren Freunden im offenen Auto unterwegs: Zum Schwimmen, zum Autoscooter-Rennen und anderen wilden Aktivitäten. Bei Familien-Feiern öden sie allerdings die Erzählungen der Erwachsenen an und sie rutscht in Zeitlupentempo zu den Kindern unter den Tisch. Dennoch sind die drei Kinder tatsächlich nicht so einfach zu bändigen: Die pubertierende zwölfjährige Tochter Adriana will auf jeden Fall lieber ein Junge sein und benimmt sich auch dementsprechend: Ihr Gang, ihre Bewegungen, ihr Haarschnitt, ihre burschikose Kleidung lassen sie auf den ersten Blick tatsächlich wie einen Jungen aussehen.

Und wenn Adriana, die sich selbst mit dem italienischen Männervornamen Andrea nennt, immer wieder verbotenerweise durch das Maisfeld kämpft — das sich hinter dem neu erbauten Stadtviertel befindet und als Abgrenzung zu einer Roma-Siedlung dient — um sich dort als Junge verkleidet mit einem gleichaltrigen Mädchen zu treffen, erst dann fühlt sich Adriana alias Andrea wie erlöst, denn zum Glück glaubt wenigstens dieses Mädchen zur Freude des vermeintlichen Jungen fest daran, einen echten Freund gefunden zu haben. Anderseits sieht der Zuschauer auch Adrianas Unbehagen, wenn sie so wie alle ihre Mitschülerinnen zur Feier des Kommunionfestes ein einheitlich weißes Kleid mit Bubi-Kragen tragen muss.

Das Dilemma der Geschlechter-Zugehörigkeit wird also auch in diesem Werk wie in so vielen heutzutage gedrehten Filmen behandelt. Zuletzt bei der 73. Berlinale 2023, wo der Silberne Bär für die beste schauspielerische Leistung an die neunjährige Sofia Otero in „20.000 Arten von Bienen“ ging.

Allerdings waren die Dreharbeiten für "L’Immensità" eigentlich schon für den Sommer 2021 vorgesehen und wohl wegen Corona verschoben. Dennoch schaffte es Emanuele Crialese auf eine temperamentvolle und teils wunderbar absurde Art und Weise dieses Thema so zu behandeln, als habe sich die Story schon in den siebziger Jahren ereignet.

ANGELIKA KETTELHACK


+++++++++++++

"TALK TO ME" zwiespältiger Horrorfilm von den in Los Angeles lebenden australischen Zwillingsbrüdern und Kurzfilm-YouTubern Danny und Michael Philippou, der die tiefsten Ängste im Menschen berührt und kein Vorbild für Jugendliche zum Nachahmen sein sollte. Das dennoch vielbeachtete Langfilm-Debüt mit Sophie Wilde, Joe Bird, Alexandra Jensen u.a. feierte seine Premiere auf dem Sundance Filmfestival 2023. (Australien, 2023; 94 Min.) Ab 27. Juli 2023 im Kino.

Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

„Talk to me“, endlich ein Horrorfilm, der die ausgelatschten Pfade des üblichen Horrors verlässt und es wagt, Teenager in ihrer Gefühlswelt ernst zu nehmen.

Irgendwo in Australien. Seit dem Tod ihrer Mutter Rhea vor zwei Jahren lebt die 17-jährige Mia (Sophie Wilde) allein bei ihrem Vater. Die Beziehung zu ihm ist gestört. Deshalb hält sie sich meistens bei ihrer besten Freundin Jade (Alexandra Jensen), deren Mutter Sue (Miranda Otto) und dem jüngeren Bruder Riley (Joe Bird) auf. In der Schule gehört sie zu den Außenseiterinnen.

Die Schüler haben einen sensationellen, schaurigen „Spaß“ entdeckt. Ein Snapchat-Video dreht die Runde. Man trifft sich zu einer Séance, bei der eine einbalsamierte, echte Hand bereit liegt. Wer sie anfasst, kann Kontakt mit Verstorbenen aufnehmen, indem man „Talk to me“ sagt. Wer zu der Hand „Ich lasse dich hinein“ spricht, dessen Körper wird von dem Geist in Besitz genommen und verleitet, verrückte Dinge zu machen. Auf keinen Fall darf man die Hand länger als 90 Sekunden berühren, dann wird man den Geist nicht mehr los.

Erst hält Mia das ganze Procedere für einen bösen Scherz, doch dann bietet es ihr vielleicht die Chance mit ihrer toten Mutter in Kontakt zu treten, um endlich zu erfahren, was deren Todesursache war, denn sie wird den Gedanken, dass ihr Vater dahintersteckt, nicht mehr los. Die gefährlichen Séancen werden mit gezückten Handys johlend aufgenommen.

Auch der dreizehnjährige Riley möchte die Hand wenigstens ganz kurz berühren. Seine Schwester Jade ist dagegen, doch Mia, die inzwischen Gefallen daran gefunden hat, erlaubt es ihm.

Dass sie nicht nur sich, sondern auch Riley arg gefährdet, ahnt sie noch nicht. Die Besuche der Geister häufen sich und zusätzlich wird Mia, die ihre tote Mutter sieht, auch noch von Visionen geplagt und verliert nach und nach den Verstand. Die Forderungen, die der Geist der Mutter, Mia im Zusammenhang mit Riley einredet, sind ein spezieller Horror für sich. Mias Wunsch, etwas wieder gut zu machen, überzeugt total.

Die Jugendlichen versuchen alles um die Öffnung zum Jenseits so schnell wie möglich wieder zu schließen. Hektisch suchen sie nach dem Jungen, von dem sie die Hand erhalten haben. Der hat sich jedoch umgebracht.

Den australischen Zwillingsbrüdern Danny und Michael Philippou ist es gelungen in ihrem ersten Film die Motivation ihrer Protagonisten sowohl glaubhaft und nachvollziehbar zu gestalten als auch ein ausgeprägtes Gefühl für einen mutigen Horror-Thrill zu entwickeln. Es gibt Momente, da gefriert einem das Blut in den Adern. Bekannt wurden sie durch ihren anarchischen YouTube – Kanal „RackaRacka“.

Ich bin gespannt auf den nächsten Film der Brüder.

ULRIKE SCHIRM


+++++++++++++

"BROTHER’S KEEPER" Drama von Ferit Karahan über die unhaltbaren Zustände in einem Internat für kurdische Jungen. Der rumänisch-türkische Film mit Samet Yıldız, Ekin Koç, Mahir İpek u.a. lief unter dem Original-Titel "Okul Tıraşı" auf der 71. Berlinale in der Sektion Panorama. (Türkei / Rumänien, 2021; 85 Min.) Ab 27. Juli 2023 im Kino.

Hier der Trailer:



Synopsis:
In Brother's Keeper leben Yusuf und sein bester Freund Memo in einem kurdischen Internat, abgelegen von der Zivilisation in den ostanatolischen Bergen. Hier ist mittlerweile der Winter mit starkem Schneefall eingebrochen und Memo wird plötzlich sehr krank. Daraufhin ist Yusuf auf einmal wie alleine – dort, in den sowieso schon einsamen Bergen Ostanatoliens. Denn wirklich helfen will zunächst niemand. Yusuf muss gegen die Bürokratie der Schulbehörden ankämpfen wie Don Quijote gegen die Windmühlen. Den Ernst der Lage begreifen die Verantwortlichen erst, als es schon fast zu spät ist. Sie beschließen: Memo muss ins Krankenhaus gebracht werden. Doch inzwischen ist die Schule unglücklicherweise eingeschneit – und hinter den Türen beginnt die Debatte über Schuld und Unschuld.

Elisabeth's Filmkritik:

Der kurdisch-türkische Regisseur Ferit Karahan (The Fall From Heaven) führt uns in seinem zweiten Spielfilm in die unwirtlichen Berge von Ost-Anatolien. Wir lernen ein Internat für kurdische Schüler kennen, in dem diese, noch halbe Kinder, mit Härte und Grausamkeit für Zucht und Ordnung gedrillt werden. Die türkischen Lehrer verstehen ihre Schikanen als ihr Privileg. Die tatsächliche Kälte in dem Winter, die Massen an Schnee, die den Ort hermetisch abriegeln, übertragen sich von der Leinwand aufs Publikum. Die Kälte der empathielosen Lehrerschar, schnürt dem Publikum die Seele ein. Vor diesem Hintergrund zeichnet der Regisseur, der selbst Jahre seiner Kindheit in einem ähnlichen Lehrort verbracht hat, eine Geschichte des Aufbegehrens, der kindlichen Suche nach Mitmenschlichkeit und der Kameradschaft.

Die Freundschaft zwischen zwei Jungen ist ein Tropfen in einer Woge von sozialer Kälte. Hier kommen zwei Generationen zusammen. Das Leben der Schüler ist von Angst bestimmt, die auch die Lehrer, die einst das gleiche durchgemacht haben, in sich tragen. Bereits 2009 hat Ferit Karahan einen ersten Entwurf geschrieben. Die Erinnerung an seine eigene Kindheit floss in das Material ein. Bei der Suche nach Drehorten stellte er zudem fest, dass sich kaum etwas über die Jahre verändert hat. Er erzählt von Yusuf (Samet Yıldız), der sich um seinen Freund Memo (Nurullah Alaca) kümmert, als dieser krank wird. Memo wird ernsthaft krank, ein von der Kälte geschundene Körper hat sich von einer eiskalten Wasserbehandlung nicht erholen können. Eine Kopfschmerztablette allein kann das nicht richten. Yusuf muss folglich über sich hinauswachsen, um sich und damit seinem Klassenkameraden Gehör zu verschaffen. Die Lehrer wiegeln zuerst ab, dann sind sie von der Situation überfordert, zumal sie an diesem Gott verlassenen Ort auch nur Ausgesetzte sind. Sie schieben sich schließlich gegenseitig die Schuld zu. Um Memo in die Stadt bringen zu lassen, bräuchten sie ein Auto und einen Fahrer. Der Ort, an dem die Erwachsenen die Kinder quasi einsperren, wird auch für sie ein Ort, den sie nicht verlassen können. Natürlich kann und soll man darin mehr als eine Aussage lesen.

"Brother's Keeper" lief bereits 2021 auf der Berlinale. Das war das Jahr, an dem im Februar nur ein Fachpublikum teilnehmen durfte. Dafür wurde der Film auf der Sommerberlinale gezeigt, im Programm des Panoramas, und gewann in der Sektion den FIPRESCI-Preis der Filmkritik. Die Strukturen, die der Film behandelt, sind so zeitlos wie aktuell. Ein kleiner Verleih hat sich jetzt dieses Filmes angenommen. In dem Getöse, in dem sich in den Kinos alles um zwei Großproduktionen dreht, sollte man vielleicht diesen Film wählen. Karahans eindringliche Inszenierung, die beengte Bildwelt, das fokussierte Spiel mit unter anderem Laiendarstellern, lässt einen gewiss nicht mehr los.

ELISABETH NAGY


TERMINE von Brother's Keeper

27.07.2023 - 02.08.2023 Berlin/fsk-Kino
03.08.2023 - 09.08.2023 Bochum/Endstation Kino
27.07.2023 - 02.08.2023 Bremen/City 46 Kommunalkino
03.08.2023 - 09.08.2023 Bremen/City 46 Kommunalkino
12.07.2023 - 12.07.2023 Frankfurt Main/Harmonie
27.07.2023 - 02.08.2023 Gauting/Kino Breitwand Gauting
27.07.2023 - 02.08.2023 Hamburg/Abaton Kino
06.07.2023 - 12.07.2023 Hamburg/Abaton Kino
27.07.2023 - 02.08.2023 Leipzig/Passage Kino
27.07.2023 - 02.08.2023 München/Werkstattkino München
27.07.2023 - 02.08.2023 Münster/Cinema
13.09.2023 - 13.09.2023 Villingen-Schwenningen/Kommunales Kino guckloch
27.07.2023 - 02.08.2023 Würzburg/Central im Bürgerbräu

Quelle/Verleih: www.dejavu-film.de

Anzeige