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Unsere Filmkritiken im neuen Jahr - Teil 2 mit einem Nachtrag

Weitere Filmbesprechungen von aktuellen Kinostarts zwischen dem 29. Dezember 2022 und 05. Januar 2023 mit der zusätzlichen Filmkritik einer OSCAR-Nominierung als UPDATE.



Diesmal fangen wir mit zwei Rückblicken an, auch wenn die nachfolgend besprochenen Filme jetzt brandneu in die Indie- und Arthouse Kinos gekommen sind. Die Geschichten darin erzählen aber von Erinnerungen an vergangene Zeiten.

"Passagiere der Nacht" Drama von von Mikhaël Hers (Frankreich; 2021, 111 Min.) Mit Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon-Richter, Noée Abita, Megan Northam, Thibault Vinçon u.a. seit 5. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Unsere Kurzkritik:

Als wir diesen Film schon vor knapp einem Jahr auf der 72. Berlinale unter dem Original Titel "Les passagers de la nuit - The Passengers of the Night" sahen, erinnerten wir uns sofort an eine Sendung im WDR-Radio 1Live unter dem Titel NACHTTALK, die im Dezember 2016 nach 21 Jahren zum letzten Mal über den Äther ging und parallel dazu auch im WDR Fernsehen von 01:00 - 02:00 Uhr nachts ausgestrahlt wurde.

Der 58-Jährige Moderator Jürgen Domian war Anlaufstelle für Probleme aller Art, sozusagen der „Kummerkasten der Nation“ für Zehntausende. Die letzte Sendung sahen und hörten sogar 135.000 Zuschauer. Am 3. April 1995 ging „Domian“ an den Start. Seitdem hat er rund 20.000 Gesprächspartner in seiner Nachtsendung gehabt, die er live am Telefon begrüßte.

Und dann erzählten die anonymen Anrufer: Manchmal fröhlich, manchmal traurig, oft stockend oder gar weinend. Sehr viele Geschichten waren herzergreifend. Die unbekannten Gesprächspartner am anderen Leitungsende schütteten dem Nachttalker, der eine Stunde lang mit großen Kopfhören und ernstem Gesicht in die Kamera schaute, ihr Herz aus.

So ähnlich ergeht es auch Elisabeth, gespielt von Charlotte Gainsbourg, in der Sendung "Passagiere der Nacht". Die Mutter zweier Teenager, noch von einer überwundenen Krebserkrankung gezeichnet und von ihrem Mann verlassen, muss sich erstmals in ihrem Leben um einen Job bemühen und findet eine schlecht bezahlte Anstellung in der Telefonzentrale des französischen Nachtradios. Die Geschichte wird in die 1980er Jahre verortet, als Radio noch einen höheren Stellenwert als heute hatte.

Auf den Straßen feiert man den Wahlsieg von François Mitterand und die damit verbundene Hoffnung auf einen Neuanfang unter einer linken Regierung. Ein hoffnungsvollen Neuanfang, den sich auch unsere Protagonisten sehnlichst für sich erwünscht. Er sollte bald in Erfüllung gehen, denn Elisabeth erhält die Chance, von der Telefonzentrale ins Studio zu wechseln, wo sie ebenfalls live mit den Hörern vor dem Mikrofon sprechen soll. Dabei erweist sie sich als Naturtalent, das ein Gespür für ihre verzweifelten Anrufer entwickelt.

Nach einer dieser Sendungen wartet ein verzweifelter Teenager in der Nacht auf Elisabeth, die Erbarmen hat und das junge Mädchen mit zu sich nach Hause nimmt. Daraus entwickelte sich eine ganz persönliche Geschichte, die uns fast zu Tränen rührte. Wie diese ausgeht kann man allerdings nur im Kino erfahren.

W.F.


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ANNIE ERNAUX - DIE SUPER-8 JAHRE Dokumentation von Annie Ernaux & David Ernaux-Briot. (Frankreich, 2022; 61 Min.) Seit 29. Dezember 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Unsere Filmkritik:

Annie Ernaux ist eine französische Schriftstellerin, deren literarisches Werk ist im Wesentlichen autobiografisch geprägt ist. Wiederholt thematisierte sie ihren eigenen Lebensweg vom Arbeiterkind zur Autorin. 2022 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in der Normandie. Sie wuchs als Einzelkind in bescheidenen und behüteten Verhältnissen auf. Heute gilt sie als eine der prägendsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur und Ihr Werk ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten.

Eines ihrer Werke ist "Das Ereignis" (L’événement), das als Spielfilm von der französischen Regisseurin Audrey Diwan verfilmt und 2021 in Cannes uraufgeführt wurde. Erst im März 2022 kam der Film in unsere Kinos. Das von uns am 3. April 2022 besprochene Drama basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Annie Ernaux und behandelt die ungewollte Schwangerschaft und die darauf folgende Abtreibung einer jungen Literaturstudentin im Frankreich der 1960er-Jahre.

Als Annie Ernaux ihre Super-8-Filme, die zwischen 1972 und 1981 aufgenommen wurden, wieder sah, wurde ihr klar, dass sie nicht nur ein Familienarchiv waren, sondern auch ein Zeugnis über die Vorlieben, die Freizeitgestaltung, den Lebensstil und die Bestrebungen einer sozialen Klasse in den ersten zehn Jahren nach 1968, als Forderungen von Studenten zur Verbesserungen der Studienbedingungen ebenso aufkamen wie politische Forderungen zur Arbeitslosigkeit, zur Konsumgesellschaft (Kapitalismuskritik), zur Friedensbewegung (vor allem gegen den Vietnamkrieg, zum Prager Frühling, Internationale Solidarität) und zur Demokratisierung der Gesellschaft.

Diese stummen Bilder mit Fotografien, Erinnerungen und Tagebüchern bindet sie zusammen mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot in eine Erzählung ein, die Geschichte, Soziales und auch Intimes miteinander verbindet, indem sie Annies persönliches Tagebuch aus jenen Jahren als ergänzende Erzählung zu den nicht vorhandenen Bildern verwenden.

Es gehört allerdings viel Mut dazu solch sehr persönliche und intime Super-8-Aufnahmen mit und über die eigenen Kinder, einer Öffentlichkeit zu präsentieren. Andererseits ergänzen die Bilder ganz ungewollt ihre autobiografischen Schilderungen, denn sie sind geschickt montiert und mit gekonnt formulierten Dialogen ergänzt worden.

Dabei ist es keine einfache Angelegenheit die relativ bescheidene Qualität des Super-8-Schmalfilms auf die große Kinoleinwand zu bringen. Dennoch verbreiten die Bilder einen gewissen Charme, der uns an unsere eigenen 8mm-Aufnahmen während zahlreicher Urlaubsreisen mit unseren inzwischen verstorbenen Eltern erinnert. So mag es vielleicht auch Anderen beim Betrachten der Filmes ergehen, bei dem Persönliches hinterfragt wird, bis sich eine interessante Geschichte daraus entwickelt.

Einer unserer langjährigen BAF-Mitglieder erklärte uns, wie kompliziert es werden kann, altes Material technisch sehenswert aufzubereiten. Er selber hat mehr als ein Jahr für die Auffrischung zerkratzter oder unscharfer Bilder seines eigenen preisgekrönten 16mm Spielfilmes aus Studienzeiten des Jahres 1985 an der dffb benötigt, damit dieser noch einmal im letzten Jahr auf der 72. Berlinale im Forum Special gezeigt werden konnte.

Wer die Arbeit daran zu würdigen weiß und Freude an dem Ergebnis empfindet, wird auch den Film von Annie Ernaux in sein Herz einschließen.

(So, 08.01.2023 in Berlin
um 12:00 Uhr Bundesplatz Kino und 12:45 Uhr Cinema Paris)

W.F.


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"THE BANSHEES OF INISHERIN" OSCAR® nominiertes Drama um eine Männerfreundschaft auf einer irischen Insel von Martin McDonagh. (Irland / Großbritannien / USA; 2022, 114 Min.) Mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon u.a. seit 5. Januar 2023 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeth's Filmkritik:

Auf den ersten Blick ist "The Banshees of Inisherin" eine Geschichte über das abrupte Ende einer Freundschaft. Banshees sind mythologische Wesen, weibliche Geister aus der "Anderswelt", einer Welt, die für Menschen nicht sichtbar ist. Sie klagen und wenn sie erscheinen, zumindest im irischen Volksglauben, kündigt sich ein Tod an. Wer das Klagen der Banshees vernimmt, gerät nahe des Wahnsinns.

Pádraic Súilleabháin, gespielt von Colin Farrell, ist ein einfacher Mann und sicherlich nicht der hellste. Ihm genügt sein Leben auf der abgelegenen, fiktiven Insel Inisherin, er hat keine Ambitionen. Er arbeitet selbstständig in der Landwirtschaft und verbringt seine freie Zeit in der Wirtschaft. In der Regel und bisher traf er dort immer auf seinen besten Freund Colm Doherty (Brendan Gleeson). Es ist der 1. April als ihm Colm zuerst wortlos die Freundschaft aufkündet. Kein Aprilscherz, es ist Colm bitterernst und Pádric befällt immer mehr der Wahnsinn, weil er diese Entscheidung nicht versteht und folglich auch nicht akzeptiert und schon gar nicht respektiert.

"The Banshees of Inisherin" von Martin McDonagh ist keine Fortsetzung von "In Bruges" ("Brügge sehen… und sterben?"), auch wenn der irische Regisseur und Drehbuchautor, der zuletzt in den Staaten mit "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" erfolgreich war, sich der beiden Hauptdarsteller der Krimikomödie von 2008, Colin Farrell und Brendan Gleeson, bedient.

Man könnte seinen neuen Film, der bereits für die OSCARS® hoch gehandelt wird und besonders Colin Farrells Nominierung in der Kategorie Schauspiel sollte als gesichert gelten, als Tragikomödie lesen. Das ist nicht falsch, doch ist dieser Film auch eine Parabel auf einen Bruderkrieg, auf den irischen Bürgerkrieg, auf den Krieg im allgemeinen.

Zeit der Handlung ist das Jahr 1923. Auf dem Festland in der Ferne herrscht Bürgerkrieg. Immer wieder verweist McDonagh auf das, was dort vor sich geht. Doch vielleicht lässt es sich dort besser leben. Immer mehr Einwohner der Insel verlassen diese. Die, die zurückbleiben, sollten doch in Eintracht leben können. Pádraic versteht die rigorose Ablehnung seines ehemaligen Freundes nicht und versucht die Freundschaft wieder ins Lot zu bringen. "The Banshees of Iisherin" handelt auch von der Vergeblichkeit dieser Bemühungen. Die gut gemeinten Anstrengungen von Pádraic lösen eine Kette von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Ereignissen aus.

Ursprünglich war die Vorlage ein Theaterstück. Martin McDonagh hatte bereits in den 90ern eine Theaterstück-Trilogie verfasst. "The Banshees of Inisherin", als dritter Teil der "The Aran Islands Trilogy", genügte seinen Vorstellungen nicht und so blieb das Stück in der Schublade. Wie wichtig die Zutaten für das Gelingen eines Stückes sind, beweist die Besetzung, die aus der Vorlage das Beste herausholt. Sturrheit, Verbissenheit, Verzweiflung, Unverständnis, Aufbegehren, Einsicht. All das liest man den Darstellern in der Mimik und Körperhaltung ab.

Brendan Gleeson spielt den Mann, der plötzlich Ambitionen hegt. Er möchte für seine Geige Musik komponieren und der Welt etwas hinterlassen. Man solle sich an ihn erinnern. Colin Farrell spielt den Mann, der keine Talente außer seiner Loyalität besitzt, der stets das Richtige tun möchte und das nicht immer schafft. Beiden Männern wohnt eine stille Wut inne, die ihnen keinen Ausweg bietet. Ganz anders reagiert Pádraics Schwester Siobhán, gespielt von Kerry Condon, die zuerst als Brücke zwischen den zwei Männern fungiert, die stets Harmonie und Geborgenheit ausstrahlt. Sie ist eine selbstbewusste Frau, die entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen. McDonagh flechtet in das Stück die Frage ein, ob ein Mensch der ist, der er ist, oder ob seine Taten ihn bestimmen. Und er stellt auch die Frage, ob die Charakterzüge eines Menschen oder seine Talente wichtiger sind. Oder ob diese Fragen uns überhaupt weiterbringen.

Auf den ersten Blick ist "The Banshees of Inisherin" eine düstere Komödie über zwei wortkarge Kontrahenten und ihrer Marotten. Man fühlt mit beiden Figuren und möchte doch nicht in ihrer Haut stecken. Die Handlung wird nicht von der Komik bestimmt, sondern zeichnet sich durch ihre Absurditäten aus. Die karge Landschaft zeugt von einer depressiven Grundstimmung, die Nährboden für die hier angerissene Verzweiflung ist. Die Sinnlosigkeit jedes Streites, die ihm zugrunde liegende Toxizität, die quasi unausweichliche Eskalation, die immer weiter von all dem abrückt, was man noch verstehen könnte, um zu einer Lösung zu gelangen, ist Gegenstand dieses sehr klugen und vielschichtigen Filmes mit historischen Bezügen. "The Banshees of Inisherin" ist großes Kino und vielleicht jetzt schon einer der schönsten Filme des jungen Jahres.

Elisabeth Nagy


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