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Neue vier bemerkenswerte Filmbesprechungen im Juni 2022, Teil 3

Heute insgesamt vier Filmkritiken zu Werken von zum Teil überragender Arthouse-Filmkunst, die bereits letzten Donnerstag in deutschen Kinos gestartet sind.



Beim 32. Internationalen Filmfestival Emden-Norderney mit seinen 32 kurzen und langen Weltpremieren sowie deutschen Erstaufführungen ist an diesem Wochenende bereits Halbzeit angesagt und die Vergabe des Emder Schauspielpreises an Merit Becker steht heute Abend an.

Wir konnten uns diesmal allerdings nur auf Berliner Events konzentrieren, werden aber über die Preisverleihung in Emden nachträglich berichten.

Als Chefredakteur vom BAF e.V. habe ich mir die nachfolgende Besprechung lieber ersparen wollen und sie einer Kollegin überlassen. Zu nah sind mir noch die Erinnerungen an meine noch nicht vor allzu langer Zeit verstorbene Mutter. Glücklicherweise hab ich mit unseren langjährigen BAF Mitgliedern eine hilfreiche Community, die mich unterstützt und auch getröstet hat.

Jessica Krummacher hat ihren Film „Zum Tod meiner Mutter“ während der Corona-Pandemie inszeniert, erzählt aber im Interview auf der Webseite des FILMdienst, dass angesichts des kollektiven Sterbens in der Ukraine der Film aktuell noch eine ganz andere Relevanz bekommt.

Ums Sterben geht es auch im zweiten Film, der seine Premiere auf dem 78. Filmfestival von Venedig feierte. Doch bis zum Ende des Films gibt es diesmal berauschende Bilder mit fantastisch aufgenommenen Motiven.



"ZUM TOD MEINER MUTTER" Drama von Jessica Krummacher das seine Premiere in der Sektion Encounters der 72. Berlinale 2022 feierte. (Deutschland, 2020er Jahre). Mit Birte Schnoeink, Elsie de Brauw, Christian Löber u.a. seit 9. Juni 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Die Filmemacherin Jessica Krummacher hat einen Film über den Tod ihrer 64-jährigen Mutter gedreht. Sie kam in ein katholisches Pflegeheim, unheilbar krank, bei klarem Verstand, konnte sich aber nicht mehr bewegen, litt Schmerzen. Sie wollte so nicht mehr leben, also beschloss sie, nicht mehr zu essen und zu trinken.

Kerstin, die Mutter wird von Elsie de Brauw gespielt, Ensemblemitglied am Schauspielhaus Bochum. Die Tochter Juliane von Birte Schnöink.

Juliane ist verzweifelt. Die Mutter kann kaum noch reden. Sie dämmert vor sich hin. Lange ist sie schon krank. Nun kann sie nichts mehr alleine. Sie beschließt Essen und Trinken aufzugeben, denn aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Da ihre Gliedmaßen ihr nicht mehr gehorchen, ist sie nicht in der Lage den Todestrunk selbst einzunehmen.

Juliane zitiert am Sterbebett ihrer Mutter Kerstin Simone de Beauvoir: „Wir haben es gelernt im Sexuellen unsere Körper rückhaltlos den anderen zu geben. Aber wir haben noch nicht gelernt, uns auch unsere Seelen gegenseitig anzuvertrauen“. Es wird viel vorgelesen in dem Raum mit dem Krankenbett, einem Nachttisch und einem Schlafsessel, den die Tochter ganz nah zum Bett der Mutter schiebt, wenn sie die Nächte dort verbringt. Was kann sie noch tun als der Mutter so nah wie möglich zu sein, sie mit Dingen zu versorgen, die ihr guttun. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Der Arzt wechselt die Morphiumpflaster, Kerstins Lippen werden rauer, ihre Haut juckt, die täglichen Waschungen werden zur Tortur und Kerstin kann kaum noch sprechen. Juliane rückt immer näher an den Körper der Mutter heran. Sie lauscht ihrem Atem und den mühsam hervorgebrachten Worten.

„Lass mich nachts nicht mehr alleine“ bittet Kerstin lallend. Und immer wieder bittet Kerstin den Arzt um ein schnelles Ende. Es gibt auch noch lichte Momente wenn Besuch kommt, der Erinnerungen vorliest und Kerstin ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

13 Tage sind vergangen, ohne Wasser ohne Brot. „Die Welt ist geschrumpft auf das Ausmaß dieses elenden Zimmers“ sagt Juliane einmal aus dem Off. „Die Verwandlung meiner Mama in einen elenden Leichnam. Was machen wir denn nun? Es ist unmöglich in dein Leid einzudringen. Du stirbst“, flüstert sie der Mutter zu. Wie sieht er aus der Tod? Eine Frage, die weder Mutter noch Tochter beantworten können.

Ich kann mich an keinen Film erinnern, bei dem man dem langsamen Schwinden des Lebens so spürbar und intim nah war, wie hier. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, einen Dokumentarfilm gesehen zu haben. Was die beiden Schauspielerinnern emotional durchmachen, wirkt dermaßen echt, dass man tief durchatmet, wenn die Qual endlich ein Ende hat. Irgendwie bleibt ein Gedanke zurück: „Es war gut, dass ich dabei war“. Ein Film der unter die Haut geht.

Ulrike Schirm


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"SUNDOWN - Geheimnisse in Acapulco" Thriller von Michel Franco (Mexiko / Frankreich / Schweden). Mit Tim Roth, Charlotte Gainsbourg, Iazua Larios u.a. seit 9. Juni 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeths Filmkritik:

Einst wurde die mexikanische Küstenstadt Acapulco berühmt, weil die Reichen und Berühmten den Ort für sich auserkoren hatten. Die Kriminalität in der von Armut der Einheimischen geprägten Realität machte den nun zum Touristenziel avancierten Ort wiederum berüchtigt. Die Familie Bennett residiert in einem Luxushotel mit eigenem abgelegenen Strand. Rundum Versorgung und Bedienung lassen keinen Zweifel aufkommen, die Bennetts haben Geld. Viel Geld. Alice (Charlotte Gainsbourg) und ihre zwei fast erwachsenen Kinder werden von Neil (Tim Roth), Bruder und Onkel, begleitet.

Neil ist hier die Hauptfigur und bereits in der ersten Szene wirkt er entrückt. Neil ist dabei kein faszinierender Charakter. Oder vielleicht doch, denn so leicht wird man diese Figur in ihrer lasziven Trägheit, die nichts zu kümmern scheint und die scheinbar nichts kümmern muss, nicht mehr los. Dabei vorneweg, der mexikanische Regisseur Michel Franco, der bereits mit Tim Roth in "Chronic" (2015) zusammen gearbeitet hatte, zeigt eine präzise Charakterstudie, die jedoch auf jeden Zuschauer, jede Zuschauerin anders wirken wird.

Es ist ein Anruf, der einen Trauerfall verkündet, der diesen Urlaub abrupt beendet. Mit dem ersten Flieger muss es wieder nach Hause gehen. Am Flughafen stellt Neil fest, dass sein Reisepass nicht auffindbar ist. Sicherlich liegt der noch im Hotel. Nein, leider kann er nicht mitfliegen. Versprochen, mit der nächsten Maschine kommt er nach. So ein Schuft, denkt man sich, da lässt er seine Familie mit all der Trauerarbeit alleine. Kein Stück weit glaubt man ihm das mit dem Reisepass. Was denkt der sich eigentlich?

Neil denkt nicht. Das heißt, es wirkt so, als würde er sich gar nichts denken. Als sei ihm alles egal. Seine Familie, die Trauer, sein Platz im Familienunternehmen, der Ort, wo er sich befindet. Kein Wunder, ist er doch so privilegiert, dass er die Option hat, diesen Platz in seinem Leben abzulehnen. Franco spielt mit seinem Publikum und bietet eine Blaupause für all die Erwartungen, die man mitbringt und mit der man vor allem die Hauptfigur liest und bewertet. Dabei bekommt man die Informationen über Zusammenhänge nur bruchstückhaft oder anders gesagt, man setzt sie gemäß der eigenen Lesart des Filmes zusammen. Franco bewertet gar nichts, er gibt nur etwas vor, das genauso gut ein Rätsel sein kann, als auch nicht.

Neil setzt sich in ein Taxi und checkt in irgendeinem letztklassigen Hotel ein, das ihm der nicht ganz saubere Taxifahrer empfiehlt. Es spielt keine Rolle, wo er unterkommt. Und was seine Familie gerade durchmacht? Das ist weit weg. Sein Weg führt ihn an den Strand. Hier lässt er sich in einen Plastiksitz nieder und bewegt sich nicht mehr. Die Getränke werden ihm gebracht. Was fällt dem denn ein? Natürlich passiert noch eine ganze Menge, aber das muss man vorher gar nicht wissen. Neil sitzt am Strand und er sitzt am Strand und er sitzt am Strand. Er hängt mit dem Taxifahrer ab und er lässt eine Frau an sich heran. Und wieder ist es der Zuschauer, die Zuschauerin, die die Szene bewertet und antizipiert, wer welche Beweggründe und Intentionen ganz gewiss haben muss.

Wenn es überhaupt eine Kraft gibt, die die Figuren voran bringt, dann ist es eine gewaltsame. Franco zieht so manchen grausamen Schachzug, mit dem er das Publikum dazu bringt, Dinge neu zu bewerten. Und doch steht immer wieder Neil im Mittelpunkt, der uns kein Stück näher an sich heran lässt. Welch ein Affront. Tim Roth spielt Neil mit einer konzentrierten Lässigkeit. Er schlurft durch die Szenen und hat nur ein Begehr. Er will seine Ruhe, er will nur am Strand sitzen und nichts tun. Die Frage ist Warum. Muss es darauf eine Antwort geben? "Sundown", der ursprünglich mal den Arbeitstitel "Driftwood", also auf Deutsch: Treibholz, hatte, fordert zuerst und wirkt dann nach, wirkt lange nach, sehr lange.

Elisabeth Nagy


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"FRANCE" bitterböse Mediensatire von Bruno Dumont (Frankreich / Deutschland / Belgien / Italien, 2021). Mit Léa Seydoux und ihrer vielleicht bisher besten Performance sowie mit Juliane Köhler, Benjamin Biolay, Blanche Gardin, Emanuele Arioli u.a. seit 9. Juni 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

France de Meurs (Léa Seydoux) ist eine beliebte Starreporterin, perfekt geschminkt, teuer gekleidet. Sie hat ihre eigene Fernsehsendung: Ein Blick auf die Welt. In ihren Reportagen stellt sie sich gerne in den Mittelpunkt und der Wahrheitsaspekt ihrer Berichte ist fragwürdig. Wenn sie mit ihrem Team in Krisengebieten unterwegs ist, um über die Einmischung Frankreichs im Kampf gegen den IS zu berichten, werden Interviews so hingebogen, wie sie sie gern hätte und die Bilder werden von ihrem Kameramann nach ihren Vorstellungen inszeniert. Alles nur Show..

Am Anfang sieht man sie und ihre Produzentin Lou (Blanche Gardin) bei einer Pressekonferenz mit Emmanuel Macron im Élysée-Palast, wo er France persönlich anspricht. Mit einer Frage führt sie ihn vor. Bei seiner Antwort, dass er viele Fehler gemacht habe, hört sie schon gar nicht mehr hin, sondern amüsiert sich über die obszönen Zeichen, die ihr Lou aus dem Hintergrund gibt. Beide amüsieren sich köstlich.

Wichtig ist nicht was der Präsident zu sagen hat, sondern, dass die Zuschauer sie am Abend in ihrer Sendung mit ihm sehen. Sie selbst ist zu einem Star geworden. Perfekt bewegt sie sich auf roten Teppichen, gibt Autogramme und lächelt für Selfies.

Ihre perfekte Selbstdarstellung bekommt einen Riss, als sie im Moment der Unaufmerksamkeit aus Versehen, einen Mopedfahrer anfährt. Der Mann, Baptiste, ein Migrant, ist verletzt. Er wird für drei Monate arbeitsunfähig geschrieben und kann nun seine Familie nicht ernähren. Zum ersten Mal erscheinen negative Schlagzeilen über France in den Medien. Sie besucht die Familie und verspricht, sich um sie finanziell zu kümmern. Besonders die Mutter fühlt sich geehrt, dass Madame France sie besucht. „Sie ist ein Engel“, sagt sie gerührt.

Ob ihr Verhalten wirklich ehrlich ist, weiß man nicht so recht. Jedenfalls ist diese Situation kein Fake.

Frankreich braucht eine neue sozialpolitische Unterstützung. Bei einer politischen Veranstaltung fragt eine Autogrammjägerin France, ob sie rechts oder links sei. France weiß keine Antwort. Sie hat den Tränen in den Augen: „Ich habe alles um glücklich zu sein. Aber ich bin unglücklich“.

Nach und nach werden Stimmen laut die ihr Vorwerfen, sich in ihren Reportagen selbst zu inszenieren.

Ihre Ehe funktioniert auch nicht mehr. Ihr Mann (Benjamin Biolay) macht ihr Vorwürfe, weil sie der Familie von Baptiste 3000 Franc geschenkt hat. Auch den Draht zu ihrem Sohn Jojo verliert sie langsam. Ihre coole Fassade beginnt zu bröckeln.

„Der Bericht über ein Regime, das die Bevölkerung umbringt, ist heute meine letzte Sendung“ sagt sie unter Tränen. Von den Armen wird sie als Tussi aus dem Fernsehen beschimpft.

France begibt sich in einen berühmten Kurort, steigt in einem Hotel ab, in dem berühmte und reiche Leute absteigen, sogar die deutsche Kanzlerin ist da. Von der Terrasse hat sie einen herrlichen Blick auf die schneebedeckten Alpen.

„Seit ich hier bin, habe ich nicht mehr das Verlangen, berühmt zu sein“, gesteht sie ihrem Therapeuten. Sie lernt Charles Gastro (Emanuele Arioli) kennen, einen Lateinlehrer , der sie erheitert. Sie verliebt sich in ihn. Doch Gastro ist nicht der, den er vorgibt zu sein. Er ist ein Journalist, der vor hat, eine Story über sie zu schreiben und so tut, als ob er sie nicht kennt. France ist zutiefst gekränkt, was man ihr zum ersten Mal wirklich glaubt.

France ist zurück im Sender. Doch was sie mit ihrem Team und ihrem getreuen Kameramann diesmal inszeniert, ist dermaßen perfide und wird von ihr moderiert. Von ihrer Produzentin und Freundin erhält sie höchstes Lob. „Ausgezeichnet“, beteuert sie. Durch eine Fahrlässigkeit wird der Schwindel entdeckt. Der Fake ist nicht mehr zu retten. Ein ganz böser Moment in Bruno Dumonts Satire und Medienkritik . Aber auch ein Melodrama über eine geltungssüchtige Starjournalistin, deren Leben auf teilweise groteske Weise, aus dem Ruder zu laufen scheint.

Ein Film über Selbstdarstellung und Sensationslust, die in der heutigen Medienlandschaft Gang und Gebe sind. Überzeugend gespielt von Léa Seydoux.

Ulrike Schirm


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"EIN GROSSES VERSPRECHEN" Drama von Wendla Nölle (Deutschland, 2021). Mit Dagmar Manzel, Rolf Lassgard, Wolfram Koch, Anna Blomeier u.a. seit 9. Juni 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik
über das bittere Zerwürfnis eines Ehepaares:

Seit 30 Jahren sind Juditha und Erik Bergsström ein Paar. Beide freuen sich auf ihr bevorstehendes gemeinsames Rentnerdasein, das sie genießen wollen. Der Universitätsprofessor wird gerade jetzt pensioniert, als seine Frau, die an Multipler Sklerose erkrankt ist, einen heftigen Schub erleidet.

Juditha will einfach nicht wahr haben, dass sie in vielem auf Hilfe angewiesen ist. Mehr aus Verzweiflung als aus Boshaftigkeit verweigert sie jegliche Hilfe anderer. Sie will keine Haushaltshilfe, auch keine Pflegekraft, auch nicht den Rollstuhl, den Ihr Mann ihr besorgt. Die Physiotherapie lehnt sie auch ab. Da ihr Mann ja nun genügend Zeit hat, kann er sich doch um sie kümmern. Doch alles was er macht, ist falsch.

Erik hatte vor, noch ein Seniorenstudium anzufangen und hat nun ein schlechtes Gewissen. In ihrer Hilflosigkeit entwickelt Juditha einen kindlichen Trotz. All das, worauf sie sich gefreut hat, macht die Scheißkrankheit zu Nichte. Auch bei Erik macht sich Verzweiflung breit. Er weiß nicht mehr wie er ihr und immer mehr auch sich, noch helfen kann. Seine Frau verfällt in Depression und er hält den Zustand nicht mehr aus. Was wird aus dem gemeinsamen Versprechen... in guten wie in schlechten Tagen?

In ihrem Debütfilm verarbeitet die Regisseurin Wendla Nölle die persönliche Erfahrung ihrer Eltern mit der MS – Erkrankung.

Können zwei Menschen ein Paar bleiben, wenn sich ihre Lebenssituation plötzlich so schwerwiegend ändert und ihr Leben sich unterschiedlich entwickelt? Wie viele Kompromisse soll ich machen, um nicht selbst zu zerbrechen? Was schulde ich meinem Partner*in und was mir selbst?

Fragen, die auch Wendla Nölle in ihrem berührenden Film, mit seinen beklemmenden Bildern, nicht beantworten kann. Sie überlässt es dem eindringlichen Spiel ihrer beiden Hauptdarsteller Rolf Lassgard, der 14 Jahre den depressiven Kommissar Wallander gespielt hat und der vielseitigen Dagmar Manzel, deren Gefühlslage in dem ungeschönten, ehrlichen Drama, durchaus verständlich ist. Letztendlich ist es auch ein Film über die LIEBE.

Ulrike Schirm

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