Skip to content

Bewegende Filme seit Donnerstag im Kino, März 2022, Teil 2

Mit Krieg in Europa sowie sexistischen, manchmal frauenverachtenden Übergriffen, hat die Welt sich wahrlich ins Negative verändert.



"THE CASE YOU - Ein Fall von Vielen" Erschütternde #MeToo - Dokumentation von Alison Kuhn zum Thema Missbrauch und dessen Auswirkungen (Deutschland). Mit Gabriela Burkhardt, Milena Straube, Aileen Lakatos, Isabelle Bertges und Lisa Marie Stojčev. Seit 10. März 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeth' Filmkritik:

Eine Gruppe junger Frauen kommt auf einer leeren, dunklen Bühne zusammen. Nichts lenkt hier ab. Die jungen Frauen, Schauspielerinnen, erarbeiten gemeinsam eine Rekonstruktion eines Vorfalls, der vor ein paar Jahren stattgefunden hatte. Sie zeigen uns den Ablauf eines Castings. Sie heißen Alison Kuhn, Isabelle Bertges, Gabriela Burkhardt, Aileen Lakatos, Lisa Marie Stojčev und Milena Straube. Sie hatten alle für die gleiche Rolle vorgesprochen. Sie waren jung, teils noch minderjährig, sie hatten Ambitionen, sie hatten Träume. In dem Casting kam es zu massiven Grenzüberschreitungen. Sie trafen auf eine Produktion, die ihre Träume ausnutzte, sie bedrängte und manipulierte. Sich auszuziehen sei nicht Bedingung, wäre aber erwünscht. Beim Vorsprechen wurden sie dann jedoch sogar an der Scham angegrabscht. Gehörte das zur Rolle? Muss das etwa sein? Die Frauen fühlten Angst, Ohnmacht, sie fühlten den Instinkt, da stimmt was nicht. Aber niemand der damals Anwesenden griff ein. Sie rissen sich zusammen.

Wie es so weit kommen konnte, warum die Frauen mit sich machen ließen, was sie gar nicht wollten, das müssen sie auch erst einmal begreifen. Alison Kuhn begann 2018 ein Regiestudium an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Es gab einen Film, den sie machen musste, möglichst bald, unbedingt. Darin wollte sie aufarbeiten, was damals passiert war. Und so treten fünf Frauen vor die Kamera, die Regisseurin bleibt hinter dieser Kamera, aber präsent. Sie stellen sich vor, sie berichten, was sie sich erhofft hatten und schildern, was das, was passiert war, mit ihnen gemacht hat. Sie nutzen diesen Raum und stellen mit einfachsten Mitteln die Geschehnisse nach.

Wahrscheinlich hätten sie dieses Casting, Scham behaftet, weiter verdrängt. Immerhin sind ihre Erfahrungen keine Einzelschicksale. Ihr Fall ist nur einer von vielen. Wobei jeder Fall einer zu viel ist. Aber es passierte folgendes. Aus dem Material, das bei dem Casting mit gefilmt wurde, hat der Regisseur und sein Team einen Dokumentarfilm über den Prozess des Castings zusammengeschnitten. Ohne die Beteiligten zu fragen, die nun Teil eines Filmes waren, für den sie nicht vorgesprochen hatten. Kunst also. Kunst darf doch alles, nicht wahr. Was moralisch ziemlich eindeutig ist, ist juristisch komplizierter. Auch darauf gehen Alison Kuhn und ihre Mitstreiterinnen ein. Sie verklagten die Produktionsfirma.

Ein Festival hatte diesen Film aufs Programm gesetzt. Diesen Film, der das Material diverser Überschreitungen als künstlerische Arbeit eines Regisseurs vermarktete. Als es nach der Programmankündigung zu einer Gegenwehr in den "sozialen" Medien kam, nahm dieses Festival den Titel aus dem Programm, setzte stattdessen aber ein Panel an, wo über diesen Vorfall, also die Absetzung, gesprochen wurde. Alison Kuhn nennt weder den Namen des Regisseurs noch der Produktion und auch nicht den der Produzentin, die an der Seite des Regisseurs am Missbrauch mitgewirkt hatte. Denn, um es noch einmal zu betonen, es geht nicht nur um einen Fall, sondern um ein System, das Machtmissbrauch begünstigt. Und dann auch noch mit Kunstfreiheit kommt. Es braucht nicht viel Recherche, falls man wissen will, um wen es sich handelt.

"The Case You" baut aus dem Zusammenkommen von fünf Frauen auf der leeren Theaterbühne der Filmuniversität in Potsdam Spannung auf, der man sich schwer entziehen kann. Nicht nur Empathie, sondern Wut kommt auf. Die jungen Frauen erobern sich ihre Geschichte zurück. Wenn die Kamera ihnen jetzt nahe kommt, tut sie das auf Augenhöhe.

Elisabeth Nagy


+++++++++++++++

"BLUE BAYOU" ausländerfeindliches Abschiebungs-Drama in den USA von Justin Chon (Vereinigte Staaten / Kanada). Mit Justin Chon, Alicia Vikander, Sydney Kowalske, Linh Dan Pham, Mark O´Brien. Seit 10. März 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Plötzlich illegal.

Es geht um Antonio LeBlanc, der in einem kleinen Tattoo-Studio arbeitet aber einen besser bezahlten Job sucht, der seine Frau Kathy (Alicia Vikander), die ein Kind von ihm erwartet liebt und der eine innige Beziehung zu Kathys etwa 7-jähriger Tochter Jessie (Sydney Kowalske) hat, die er behandelt wie sein eigenes Kind.

Auf die Welt gekommen ist er in Korea und wurde als kleines Kind von weißen Südstaaten-Amerikanern adoptiert. Nach einem Streit im Supermarkt wird der vorbestrafte Antonio wegen einer Lappalie von der Polizei verhaftet, bei der auch Kathys Ex (Marc O´ Brien), Polizist, der ihm aus Eifersucht das Leben schwer macht, eine Rolle spielt. Es droht ihm die Abschiebung zurück nach Korea, aufgrund einer Klausel im US-Einwanderungssystem, das beinhaltet: Wurde ein Kind illegaler Immigranten vor 2000 von US- Amerikanern adoptiert, hat es keine automatische Aufenthaltsgarantie. Eine Tatsache, die sich in den USA fast täglich auf ähnliche Weise abspielt.

Wegen dieser Gesetzeslücke kann Antonio abgeschoben werden auch wenn er als Kind amerikanischer Eltern aufgewachsen ist und nicht den geringsten Bezug zu Korea hat. Die einzige Chance die er hat, ist zu beweisen, dass er ein „anständiger und wertvoller“ Mitbürger ist. Nicht einfach, wenn man vorbestraft ist. Außerdem hat er den Kontakt zu seinen schwierigen , missbräuchlichen Adoptiveltern abgebrochen und woher soll er das Geld für einen Anwalt nehmen?

Seine Chancen stehen schlecht.

Mit seinem Film „Blue Bayou“ will Regisseur Justin Chon, der selbst die Rolle des Antonio LeBlanc spielt, „eine ehrliche Diskussion darüber anstoßen, wie moralisch es ist, jemanden zu deportieren, der ohne je seine Zustimmung gegeben zu haben als Kind in die USA gebracht wurde und der, wie sein Protagonist als Bürger zweiter Klasse in Louisiana aufgewachsen ist“.

Eindringlich erzählt Chon von Antonios Wut, seiner Verzweiflung, der Angst der kleinen Jessie ihren Stiefvater zu verlieren aber auch Momente, in denen er kein Außenseiter ist und sich wie ein ganz normaler Amerikaner fühlt. Wenn er nicht mehr weiterweiß, hockt er sich auf sein Motorrad und rast durch die Nacht.

Sein Film ist eine wütende und zutiefst berührende Anklage gegen polizeiliche Willkür und eine absurde, unmenschliche Gesetzeslage, die in eine aussichtslose Situation führt, inszeniert mit großer, emotionaler Wucht, die einem fast das Herz bricht. Ergreifend, wenn Kathy bei einer vietnamesischen Familienfeier für eine an Krebs erkrankte Freundin von Antonius den Song „Blue Bayou“ singt.

Ulrike Schirm


+++++++++++++++

"DER SCHNEELEOPARD" sehenswerte Dokumentation von Marie Amiguet & Vincent Munier (Frankreich) mit phantastischen Aufnahmen zu Sylvain Tessons gleichnamigen Bestseller „Der Schneeleopard“. Mit Sylvain Tesson und Vincent Munier sowie mit Musik von Warren Ellis und Nick Cave. Seit 10. März 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Vincent Munier, Natur- und Wildlife-Fotograf, und Sylvain Tesson, weitgereister Schriftsteller, sind ins tibetische Hochland gereist, um sich auf die Suche nach einem der letzten in Freiheit lebenden Schneeleoparden zu machen. Nur noch ganz wenige dieser scheuen Raubkatzen sind in freier Wildbahn anzutreffen. Die beiden Männer durchstreifen zerklüftete Felsformationen, steile Pässe, lesen Spuren, treffen auf Pallaskatzen, wilde Yaks und Tibetfüchse. Bisher noch keine Spur des Tieres, das sie suchen. Es ist bitterkalt. Sie brechen zum Gipfel auf, in der Hoffnung dahinter die Heimat des Schneeleoparden zu entdecken. Sie müssen die richtigen Pfade finden, durch die der Leopard kommt. Die Leoparden bevorzugen Gegenden, wo es Felsen gibt, wo sie sich verstecken können. Beim Aufstieg entdecken sie in einer Höhle eine Bärenbehausung, die es schon seit Jahren gibt. Beim Untersuchen der Höhle entdecken sie auch Leopardenspuren. Munier hat schon öfter Spuren gefunden aber noch nie ist es ihm gelungen, das scheue Tier vor die Kamera zu bekommen. Nun sind alle Sinne bei ihm geweckt. Sie bauen das Equipment auf und legen sich auf die Lauer.

Tesson bewundert den Fotografen um seine Geduld, seine Leidenschaft für die Tiere und wie er mit dem Teleobjektiv alles absucht, um den Leoparden zu finden.

Munier: „Die Lauer ist eine Wette. Man setzt auf ein Tier und riskiert enttäuscht zu werden. Für einige Menschen ist das Warten eine Last.“

Geduldig harren die beiden Freunde aus, werden eins mit der Landschaft. Während Munier unermüdlich die Landschaft beobachtet, staunt Tesson über Munier, beobachtet ihn und sich selbst und reflektiert darüber, was diese Eindrücke mit ihm machen. So entwickelt sich die Suche nach dem Leoparden zu einer meditativen Reise über die Schönheit der unberührten Natur und dem Verlust mit ihr in Einklang zu leben. Für Munier verkörpert der Leopard alles, was wir Menschen aufgegeben haben: Freiheit, Eigenständigkeit und die perfekte Kenntnis der Umgebung.

Während der wochenlangen Warterei hat Tesson begriffen, dass die Geduld die höchste Tugend war, die meist vergessene, die half, die Welt zu lieben.

„Der Schneeleopard“ besticht nicht nur mit seinen beeindruckenden Naturaufnahmen sondern wie sich die beiden unterschiedlichen Männer der unberührten Natur anpassen und der Sprecher das Sehen lernt und der Seher das Sprechen. In magischen Bildern und poetischen Worten halten sie fest, was womöglich bald nicht mehr existent sein wird. Und dann singt Nick Cave: “We are not alone“. Vielleicht taucht er ja noch auf : „Der schöne Geist des Felsengebietes“.

Ulrike Schirm


+++++++++++++++

"PARALLELE MÜTTER" Drama von Pedro Almodóvar (Spanien), Mit Penélope Cruz, Milena Smit, Israel Elejalde u.a. seit 10. März 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik
(Die Geschichte einer tragischen Verwechslung)

In seinem neusten Werk "Parallele Mütter" beweist Regietalent Pedro Almodóvar mal wieder, dass er ein Experte für Frauenfiguren ist.

Ana (Milena Smit) und Janis (Penélope Cruz) lernen sich auf der Geburtsstation kennen. Beide warten auf die Geburt ihrer Kinder. Für beide war die Schwangerschaft ein „Unfall“. Während sich Janis auf das Baby freut, fühlt sich die 17-jährige Ana von der Situation überfordert. Es sind zwei ungleiche Mütter, die im Mittelpunkt des Dramas stehen.

Die Fotografin Janis, Tochter einer Hippie-Mutter, die das Mädchen nach Janis Joplin benannte und mit 27 Jahren starb, so wie die amerikanische Rockröhre, bittet den Forensiker und Anthropologen Arturo (Israel Elejalde) um Hilfe. Kennengelernt haben sie sich bei einem Foto-Shooting. Sie möchte das Massengrab finden, in dem die Leiche ihres Urgroßvaters verscharrt ist, der im spanischen Bürgerkrieg ermordet wurde. Sie möchte ihn exhumieren lassen.

Arturo und Janis haben eine Affäre, Janis wird schwanger und da er verheiratet ist und sich um seine kranke Frau kümmert, beschließt sie, ihr Baby alleine zu bekommen.

Ana, die von einer Gruppe gleichaltriger Jungen zum Sex gezwungen wurde, lebt bei ihrer Mutter Teresa, einer Theaterschauspielerin (Aitana Sánchez-Gijón), die endlich ihre große Chance auf eine Rolle im Tournee-Theater wittert.

Nach einigen Monaten treffen sich beide Frauen durch einen Zufall wieder. Janis erfährt, dass Anas Baby kurze Zeit nach der Geburt gestorben ist und sie bei ihrer Mutter ausgezogen ist. Janis hat sich von Arturo gelöst. Er zweifelt daran, der Vater ihres Kindes zu sein. Ana zieht bei Janis ein. Es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Es dauert, bis Janis endlich mit der Wahrheit herausrückt. Ein Gentest besagt, dass sie nicht die Mutter des kleinen Mädchens ist und alles dafür spricht, dass die Neugeborenen vertauscht wurden und Ana die Mutter ihrer Tochter ist.

Eine bittere Wahrheit, die nicht leicht zu verarbeiten ist.

Es überrascht, wie geschickt Almodóvar die Verbrechen der Franco-Ära mit der Lebenssituation seiner weiblichen Protagonisten verknüpft, in dem er bedeutsame Fragen stellt wie „Was ist eigentlich Familie?“, „Was macht eine Mutter aus?“ und „Wie weit bestimmt die Vergangenheit unsere Gegenwart?“

Parallele Mütter – das sind nicht nur Janis und Ana, sondern auch Anas Mutter Teresa und auch Janis Mutter und Großmutter, die wie sie, alleinerziehend waren.

Almodóvars Film fasziniert durch seine Vielschichtigkeit und die Besonnenheit und Ruhe mit der die beiden Frauen diese fast schon irrsinnigen Zufälligkeiten meistern.

Auch schauspielerisch ist sein Film ganz großes Kino. Es ist die siebte Zusammenarbeit zwischen ihm und Penélope Cruz. Es könnte durchaus sein, dass die Newcomerin Milena Smit in Almodóvars Casting-Liste einen festen Platz bekommt, bei dem Mann, der immer wieder beweist, dass er die Frauen liebt. Sie hätte es verdient.

Ulrike Schirm


Anzeige