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Die Sundance Gewinner und vier aktuelle Filmkritiken im Jan. 2022, Teil 6

Die Hauptpreise des von Robert Redford gegründeten Sundance Independent Filmfestivals in den Wintersportorten Park City und Salt Lake City des US-Bundesstaates Utah.



Der Thriller "Nanny" hat den Hauptpreis beim Sundance Film Festival gewonnen. Das Spielfilm-Regiedebüt der US-Filmemacherin Nikyatu Jusu dreht sich um eine illegale Einwanderin aus dem Senegal, die als Kindermädchen in New York arbeitet.

Hier ein Statement der Regisseurin mit Filmausschnitten:



Der US-Regiepreis ging an Jamie Dack für “Palm Trees and Power Lines”. Der Regiepreis für einen internationalen Spielfilm ging an die türkisch-ukrainische Ko-Produktion “Klondike” unter der Regie von Maryna Er Gorbach. Das atemberaubende, traurige Drama erzählt den hochaktuellen Konflikt an der russisch-ukrainischen Grenze an Hand persönlicher Erlebnisse. Der Film wird auch in der Sektion Panorama der Berlinale zu sehen sein.

Die Auszeichnung für die beste US-Doku ging an "The Exiles" von Ben Klein & Violet Columbus über drei Anführer des Tiananmen-Aufstandes 1989 in Peking. Fast zeitgleich mit der Verleihung an diesen Film hat die älteste Universität in Hongkong einen Schriftzug zum Gedenken an die Opfer der Niederschlagung der Proteste mit Metallplatten zugedeckt. Die Sonderverwaltungszone Hongkong war jahrzehntelang der einzige Ort in China, an dem ein Gedenken an die Toten auf dem Tiananmen-Platz noch toleriert wurde. Ob das Gedenken dauerhaft entfernt werden soll, dazu wollte sich die Universität nicht äußern.

In der Sparte »World Cinema« wählte die Jury Alejandro Loayza Grisis "Utama" aus Bolivien zum Gewinner, als bester internationaler Dokumentationsfilm siegte "All That Breathes" von Shaunak Sen aus Indien.

Die Zuschauer zeichneten zudem die US-Doku "Navalny" von Daniel Roher aus sowie das jüdische US-Spielfilmdrama "Cha Cha Real Smooth" von Cooper Raiff, um einen 22-Jährigen, der zwar als Moderator von Bar-Mizwa-Partys geeignet ist, aber ansonsten am Collage außer Saufen und Feiern kaum was dazugelernt hat. Darüber hinaus wurde in der internationalen World Cinema Dramatic Sektion der finnische Coming-of Age Beitrag “Girl Picture” von Regisseur Alli Haapasalo gelobt. Dieser beschreibt drei junge Frauen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Unter dem Titel "Tytöt, tytöt, tytöt" (Girls, gils, girls) wird der Film zwischen dem 10. - 20. Februar 2022 in der Berlinale Sektion Generation 14plus zu sehen sein.

Hier der Trailer:



Wegen der Corona-Pandemie musste das vom 20. - 30. Januar 2022 in den USA physisch geplante Festival virtuell ins Internet verlegt werden.

Link: www.sundance.org

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Von den Cannes Filmfestspielen, die 2021 bereits einige brutal harte Werke wie "Titane" geliefert haben, kam am letzten Donnerstag mit "Are You Lonesome Tonight?" ein Regiedebüt aus China in unsere Kinos. Der Thriller war beim „Fantasy Filmfest“ 2021 einer der Publikumslieblinge und errang sicherlich durch seine meisterhaften Bildkompositionen den zweiten Platz beim »Fresh Blood Award«.

"ARE YOU LONESOME TONIGHT?" Neo Noir Triller von Shipei Wen (China). Mit Eddie Peng, Sylvia Chang, Yanhui Wang, u.a. seit 27. Januar 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Eine Frau (Sylvia Chang) gibt eine Vermisstenanzeige auf. Ihr Mann ist verschwunden. Sie identifiziert seinen toten Körper bei der Polizei. Er wurde von einem Auto überfahren.

Schon zu oft hat Xueming (Eddie Peng) erzählt, weshalb er im Gefängnis sitzt. Er ist sich seiner Erinnerung nicht mehr sicher. „Im Knast ist jeder Tag gleich. Auch die Albträume sind immer gleich“ sagt er.

Ein Ochse hat sich in der Nacht mitten auf die Straße gesetzt. Xueming muß dem Tier ausweichen und sich mit seinem Kleinbus einen anderen Weg suchen. Er zündet ich auf der einsamen Straße eine Zigarette an, ist kurz abgelenkt und überfährt einen Mann. Er zögert, ist sich dann aber sicher, dass er den Mann umgebracht hat, steigt aus und zerrt den verletzten Mann an den Straßenrand und lässt ihn liegen. Dann begeht er Fahrerflucht. Von Gewissensbissen geplagt, stellt er sich der Polizei. Als der Beamte kurz abgelenkt ist, verschwindet er. Seine Schuld lässt ihn jedoch nicht zur Ruhe kommen.

Er stellt der Witwe Liang nach, stellt sich ihr als Techniker vor und repariert ihre Klimaanlage kostenlos. Er bekommt mit, wie die Frauen aus der Nachbarschaft Liang besuchen, um sie zu trösten. Xueming übt vor seinem Spiegel, wie er Liang am besten die Wahrheit sagt. Immer wieder zieht es ihn zu ihr. Er freundet sich mit ihr an, getrieben von seinem Drang nach Vergebung.

Liangs Mann scheint jedoch in üble Geschäfte verstrickt gewesen zu sein. Xueming schlägt zwei Männer in die Flucht, die Geld von ihr wollen. Wirkliche Trauer empfindet die Witwe nicht. Sie macht ihren Mann für den Tod ihres Sohnes verantwortlich. Immer wieder hört sie sich auf der Jukebox ihres Sohnes „Are You Lonesome Tonight?“ an und versinkt in Erinnerungen. Der Song setzt sich nun auch in Xuemings Kopf fest.

Es wird immer mysteriöser. Ein Polizist schaltet sich ein. Es geht um eine Tasche voller Geld, die sich Liangs Mann unter den Nagel gerissen hat und wegen der er in besagter Nacht verfolgt wurde. Noch immer ist der Eigenbrötler Xueming von seiner Schuld zerfressen. Eines Tages fragt er Liang, ob sie der Person, die ihren Mann überfahren hat, verzeihen könnte. „Nein“ antwortet diese. Xueming verstummt. Langsam verschwinden seine Erinnerungen, je mehr die Polizei ermittelt. Sein persönliches Drama ist nur ein Puzzleteil in einem sich nach und nach entwirrenden Neo-Noir-Thriller.

Das Regiedebüt des Chinesen Wen Shipei macht es dem Zuschauer nicht leicht. Shipei nähert sich der Wahrheit mit Rückblenden und Erinnerungsfetzen, zeigt das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven, so dass sich manche Zusammenhänge erst später erschließen.

Draußen herrscht eine fiebrige Atmosphäre. Es ist heiß im südchinesischen Guangzhou. Die Protagonisten atmen schwer unter der nächtlichen Hitze. Shipei zeigt verschachtelte Räume, albtraumhafte Schatten aus Wohnhäusern, getaucht in knalliges Rot. Die Wege von Verfolgern und Verfolgten kreuzen sich im grellbunten, überkochenden Dickicht der Stadt. Ein blinder Barsänger taucht auf und singt für seine letzten Gäste: „Are You Lonesome Tonight?“.

Für den aufmerksamen Zuschauer, der das Geschehen konzentriert verfolgt, ist der Film "ARE YOU LONESOME TONIGHT?" ein mitreißender Mix aus Drama und Neo-Noir mit überraschenden Wendungen. „Wir müssen uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen, wenn wir in der Gegenwart leben wollen“, ist die Erkenntnis, die wir mit nach Hause nehmen.

Ulrike Schirm


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"LICORICE PIZZA" Romanze von Paul Thomas Anderson. (USA). Mit Alana Haim, Cooper Hoffman, Bradley Cooper u.a. seit 27. Januar 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Unsere Kurzkritik:

Außerdem gestartet ist am letzten Donnerstag mit "Licorice Pizza" von Regisseur Paul Thomas Anderson eine Teenager Romanze, die an einem US-Collage nahe Los Angeles spielt. Dumm nur, dass mit Cooper Hoffman ein viel zu großer und übergewichtiger 20-Jähriger gecastet wurde, der einen frühreifen 15-Jährigen Kinderdarsteller mimen soll. Beim Casting soll er angeblich erst 17 Jahre alt gewesen sein. Seine 14-15-jährigen Klassenkameraden überragt er dennoch fast um die Hälfte.

Bei einem Fotoshooting lernt er eine 10 Jahre ältere Fotoassistentin kennen, die im realen Leben sogar schon 30 Jahre alt und ist deshalb - unserer Meinung nach - als seine spätere Freundin ziemlich fehlbesetzt wurde. Zudem erleben die beiden eher unrealistische Dinge, die auch als Komödie nicht mehr in die heutige Zeit aufgeschlossener Teenager passen.

Zugute halten kann man dem Film nur, dass er in den 1970er Jahren spielt, in der seichte unterhaltsame, aber vom Inhalt eher unterbelichtete Werke noch beliebt waren. Dass Regisseur Paul Thomas Anderson das Drehbuch nicht für Cooper geschrieben hat, sondern für Hauptdarstellerin Alana Haim, die eine ziellose, unentschlossene und ständig den Job wechselnde Person darstellt, merkt man dem Film an.

Während der in New York aufgewachsene Hoffman, Sohn des großen Schauspielers Philip Seymour Hoffman, der 2014 an Drogensucht verstarb, sein offensichtlich vom Vater vererbtes Talent zeigt. Für einen Preis bei den Golden Globes hat es für den mehrfach nominiert Film dennoch nicht gereicht, was uns bei dem merkwürdig, verkorksten Drehbuch um eine nicht existierende Lakritze Pizza auch kaum verwundert.

Das Synonym für die titelgebende Lakritze Pizza war in den 1970er Jahren mitnichten eine Pizzabäckerei, sondern die Vinyl-Schallplatte, tiefschwarz wie Lakritze und rund wie eine Pizza, von der nun der Soundtrack des Films mit manch bekanntem Lied erzählt. Erst Anfang der 1980er Jahre kam übrigens die Compact Disc (CD) als erster digitaler Tonträger von Philips/PolyGram und Sony auf den Markt.

W.F.


Auch wenn wir von dem Film nicht sonderlich begeistert waren, stellen wir unseren Lesern gern eine zweite Meinung vor.

Ulrikes Filmkritik:
(Mit seiner Teenager-Lovestory setzt Paul Thomas Anderson dem kalifornischen Lebensgefühl der frühen 1970er-Jahre ein hinreißendes Denkmal.)

Regisseur Paul Thomas Anderson („Magnolia“, „There Will Be Blood“) führt uns mit seinem herzergreifenden Feel-good-Movie „Licorice Pizza“ nach San Fernando Valley in Kalifornien 1973, dem sonnendurchflutenden Hippi-Paradis für Möchte-gern-Aufsteiger.

Der fünfzehnjährige Schüler Gary Valentine (Cooper Hoffman) verliebt sich auf dem Schulhof Hals über Kopf in die zehn Jahre ältere Alana Kane (Alana Haim), die gerade einen Aushilfsjob beim Fotografieren der Schüler hat. Auf seine Anmache reagiert Alana etwas von oben herab, ist aber neugierig, wie er sie mit seinem Taschengeld zum Essen einladen will.

Nichts leichter als das. Gary ist ein bekannter Kinderdarsteller in einer TV-Serie und verdient gut. Total ernst erzählt er seinem jüngeren Bruder, dass er seine künftige Frau getroffen hat. Alana, die nicht so recht weiß was sie zukünftig machen soll, begleitet ihn als Anstandsdame zu einem öffentlichen Bühnenauftritt, macht ihm aber klar, Freundschaft ja aber verliebt sei sie nicht.

Durch seine Pubertät ist Gary als Kinderstar bald nicht mehr tragfähig und wartet auf den Wechsel in ältere Rollen. Da die nicht vom Himmel fallen, muss sich der etwas ungelenke, pummlige, picklige aber selbstbewusste Junge, um etwas anderes kümmern. Wasserbetten (die jahrelang in den USA verboten waren) sind der letzte Schrei. Also versucht er, in das Geschäft einzusteigen.

Als die Ölkrise den Rohstoffnachschub für Plastik beeinträchtigt, steigt der rührend umtriebige Junge einfach auf Flipperautomaten um. Nebenbei kämpft er noch unermüdlich um Alana. Mal kommen sie sich nahe, dann wieder nicht, dann machen sie sich gegenseitig eifersüchtig, indem sie absichtlich mit anderen flirten. Eine Episode reiht sich an die nächste, gespickt mit humorvollen Dialogen, herrlichen Peinlichkeiten und einem nostalgischen Soundtrack aus der damaligen Zeit. Ein ungleiches Paar auf den verschlungenen Pfaden einer Liebesbeziehung. Kein Song kann die Liebesgeschichte der beiden besser beschreiben als „Our Love Is Alive And So We Begin“, gesungen von Suzi Quatro und Chris Norman.

In Gastrollen tauchen Tom Waits, Sean Penn als eitler Filmstar William Holden und Bradley Cooper als durchgeknallter Filmproduzent und damaliger Geliebter Jon Peters von Barbara Streisand, auf. Die beiden Hauptfiguren spielen Cooper Hoffman, der Sohn des verstorbenen Oscar-Preisträgers Philipp Semour Hoffman und Alana Haim, Sängerin des Folkpop-Trios Haim, deren gesamte Familie auch in Nebenrollen auftritt. Ihr Spiel lebt von einer unverbrauchten Frische und Authentizität, da beide nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen.

Anderson schenkt uns einen Blick in das Lebensgefühl einer unbeschwerten Zeit: California Dreaming. Die Watergate- Affaire und die Ölkrise werden nur kurz erwähnt.

Ulrike Schirm


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MONOBLOC Dokumentation von Regisseur Hauke Wendler (Deutschland) über den aus Polypropylen gefertigten, meistverkauften Plastikstuhl der Welt. Seit 27. Januar 2022 im Kino. Hier der Trailer:



Unsere Kurzkritik:

Der Monobloc, insbesondere das Modell „Fauteuil 300“, ist ein seit den frühen 1970er Jahren gefertigtes stapelbares Kunststoffsitzmöbel. Namensgebend ist die vom französische Ingenieur Henry Massonnet erfundene Spritzgussfertigung aus Polypropylen in einem Stück (monobloc) und einem Arbeitsgang.

Der Bremer Dokumentarfilmer und Fernsehjournalist Hauke Wendler ist um die ganze Welt gereist und hat das Plastikmöbel überall nicht nur wiederentdeckt, sondern seinen Weg von der Fertigung bis zur Entsorgung begleitet. Vor allem in ärmeren Ländern ist der Stuhl massenhaft zu finden, wird dort aber auch oft zweckentfremdet und zum Rollstuhl umgebaut. Mit einer Spritzgussform ließen sich in 24 Stunden bis zu 1500 Stühle produzieren, die Kosten für die Herstellung betrugen dann nur noch in etwa so viel, wie ein einzelner Stuhl wog: 2,50 Euro für 2,5 kg Kunststoffgranulat.

Allerdings altert Plastik und ist dann nicht mehr so stabil, sondern leicht zerbrechlich, was ein Risiko bedeuten kann. Es gibt Schätzungen, wonach es dennoch auf der ganzen Welt mindestens eine Milliarde Exemplare dieses Stuhls gibt.

W.F.

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