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Zwei Filmkritiken sowie »Neues« von der 72. BERLINALE

Trotz neuer COVID-Warnungen setzt die Berlinale in 2022 wieder auf Präsenzveranstaltung.



Liebe Leser,
noch sind die Uhren nicht wieder zurückgestellt worden, obwohl das nasskalte Wetter keinen Zweifel aufkommen lässt, das der Herbst naht und das Jahr zu Ende geht. In den Arztpraxen häufen sich die Erkältungskrankheiten und die Virologen warnen vor wieder steigenden Corona-Infektionen.

Die SPIO, die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft, hat bereits die Konsequenzen gezogen und wird wegen der weiterhin bestehenden Pandemierisiken den Deutschen Filmball, eine der bekanntesten Veranstaltungen der Branche, im Januar 2022 in München ausfallen lassen.

Die Berlinale dagegen lässt sich noch nicht beirren und fokussiert mit den 72. Internationalen Filmfestspielen Berlin, die vom 10. bis 20. Februar 2022 angesetzt sind, weiter auf eine Präsenzveranstaltung mit Publikum.

Das CinemaxX am Potsdamer Platz, eines der zentralen Festivalkinos der Berlinale, verlangt derzeit aber noch Maskenpflicht und Abstand auf den Sitzplätzen, sogar bei Pressevorführungen. Die Durchführung der 72. Berlinale im nächsten Jahr dürfte mit solchen Auflagen aber schwerlich problemlos gelingen. Der Platzbedarf mit reduziertem Sitzangebot wird nicht ausreichen, es sei denn, man führt konsequent die 2G-Regel (nur geimpft oder genesen) ein.

Weniger gelungen empfanden wir auch die Übertragung des Deutschen Filmpreises. In Hollywood hat man schon Konsequenzen bei der Verleihung der Oscars gezogen und setzt deswegen keinen Moderator mehr ein, damit aus einer ernstgemeinten Veranstaltung keine Comedy entsteht.

Unsere Kollegin Ulrike war enttäuscht, dass ihr Favorit, nämlich die Literaturverfilmung "Die Schachnovelle" so schlecht bei der Vergabe der LOLAS (siehe hier) abgeschnitten hat und nur einen Preis für das »Beste Kostümbild« erhielt.

Wenigstens hat die AG Kino - Gilde deutscher Filmkunsttheater, bei der Filmkunstmesse Leipzig anders entschieden und Philipp Stölzls Interpretation von Stefan Zweigs Novelle als »Besten nationalen Film« ausgezeichnet, auch wenn er unserer Meinung nach manche Schwächen aufweist und im internationalen Rang nur an einigen Stellen mithalten kann, dann aber großartiges Kinovergnügen bereitet.

Der Kinostart liegt schon zwei Wochen zurück, dennoch wollen wir Ulrikes Rezension heute nachholen.



"SCHACHNOVELLE" Literaturverfilmungs-Drama von Philip Stölzl (Deutschland). Mit Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Rolf Lassgard, Samuel Finzi u. a. seit 23. September 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Wien 1938. Die Nationalsozialisten sind in Österreich einmarschiert. Der Notar und Treuhänder Dr. Josef Bartok (Oliver Masucci) und seine Frau Anna (Birgit Minichmayr) wollen mit dem Schiff nach New York reisen, um der drohenden Gefahr zu entkommen.

Die Straßen sind voller Menschen, die den Anschluss an Nazideutschland fordern. Bartok wird am 12. März 1938 in seinem Büro von der Gestapo verhaftet und in das Hotel Metropol gebracht. Anna fährt voraus. Der Gestapo-Chef Böhm (Albrecht Schuch) erhofft sich, von ihm Informationen und Zugang zu den Vermögenswerten derer, die zu den besseren Kreisen Österreichs gehören, zu bekommen. Die Codes für die Konten befinden sich allein in Bartoks Kopf.

Er wird unter Hausarrest gestellt, isoliert und verhört. Um in der Isolationshaft nicht den Verstand zu verlieren und Informationen zu verraten, stiehlt er ein kleines Buch. Es ist ein Schachbuch. Erst ist er enttäuscht, doch dann beginnt er, sich mit den Partien und Zügen zu beschäftigen. So gelingt es ihm die Isolationsfolter und die Verhöre zu überstehen. Später beginnt er das gesamte Buch auswendig zu lernen und spielt die in dem Buch beschriebenen Züge, mit aus Brotresten geformten Figuren nach. Das Spiel wird zu seinem Rettungsanker. Er wird gleichzeitig zum Spieler und Gegner in einer Person, was im Verlauf seiner Haft zu einer erheblichen psychischen Störung seiner Persönlichkeit führt.

Unter den vielen Literaturverfilmungen dieses Jahres sticht „Schachnovelle“ durch herausragende schauspielerische Leistungen hervor. Fast alle Schauspieler verfügen über Theatererfahrungen, was ihnen in diesem dichten und beklemmend authentisch erzählten Kammerspiel zugute kommt.

Schuch spielt den Gestapotypen mit süffisanter Höflichkeit und erschreckend diabolischen Zügen. Ihm gegenüber Masucci, er brilliert als Wiener Weltbürger, der verzweifelt und dem Wahn verfällt. Ein großartiges Schauspieler-Duell, was sich die beiden da liefern. Zug um Zug.

Regisseur Philipp Stölzl findet dazu zutiefst bewegende Bilder. Ganz großartig auch, wie er Wien 1938 bildreich nachgestaltet. Stölzl hat die literarische Vorlage von Stefan Zweig etwas umgestaltet, in dem er die Haftzeit in den Vordergrund gerückt hat und nicht die Schiffsüberfahrt in die USA, die Bartok nach seiner Haftentlassung angetreten hat und bei der er auf den amtierenden Schachweltmeister trifft. Sie verwickeln sich in ein dämonisches Spiel, ohne Sieger.

Ganz große Kinobilder, ganz großes Schauspiel. Auch Birgit Minichmayr, präsent wie immer.

Ulrike Schirm


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"TÖCHTER" Drama von Nana Neul (Deutschland). Mit Birgit Minchimayr, Alexandra Maria Lara, Josef Bierbichler, Giorgio Colangeli, Gundi Ellert u. a. seit 7. Oktober 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Marthas (Alexandra Maria Lara) Verhältnis zu ihrem Vater Kurt (Josef Bierbichler) ist mehr als angeknackst. Dass er zum Sterben in die Schweiz fahren will, ist für sie kein Problem. Dafür braucht er nicht nur das Geld seiner erfolgreichen Tochter, sondern auch eine Mitfahrgelegenheit. Sie soll ihn in seinem klapprigen Golf dort hinbringen. Für Martha eine Zumutung, da sie seit einem traumatischen Unfall nicht mehr hinter dem Steuer gesessen hat. Sie bittet ihre beste Freundin Betty (die wunderbare Birgit Minichmayr), die gerade in Rom verweilt, weil sie dachte, es sei für sie hilfreich, religiös zu werden, ihren krebskranken Vater in die Schweiz zu kutschieren. „Das Einzige, was er wirklich in seinem Leben geplant hat, ist sein Tod“. Also holen sie ihn aus seiner verräucherten Wohnung, setzen ihn auf die Rückbank seines mit leeren Bierdosen vermüllten Autos und fahren los.

Betty, die nach einem Zusammenbruch Antidepressiva schluckt, hat auch ein Vaterproblem. Ihr Stiefvater Ernesto ist einfach abgehauen als sie noch ein Kind war und liegt angeblich begraben in einem Bergdorf in Italien. Ihre Mutter hat ständig neue Männer angeschleppt.

Während der Fahrt grantelt Kurt vor sich hin, schimpft auf emanzipierte Frauen, schwärmt davon, dass das Beste an den Hafenstädten die Nutten seien und die Toten sind die besten, weil sie ganz entspannt sind. Der Roadtrip Richtung Suizid ist gepflastert mit so einigen Überraschungen. Es stellt sich heraus, dass Kurt seine Tochter aufs übelste belogen hat, sein Todestermin in der Schweiz stimmt nicht, er wollte einen Gratistrip zu seiner früheren großen Liebe nach Stresa, am Lago Maggiore.

Sie setzen ihn dort ab und starten auf eigene Faust durch. Sogar Martha setzt sich wieder ans Steuer. Der in den verwinkelten, italienischen Gassen demolierte Golf steckt auf einer Mauer fest. Martha nutzt das Desaster, um wenigstens Italien kennenzulernen. Die beiden „Töchter“ trennen sich. Betty macht sich auf die Suche nach Ernestos Grabstelle, da sie sich damals nicht von ihm verabschieden konnte. Ihre Reise führt sie bis auf die ägäische Insel Amorgos, wo sie ihren totgeglaubten Vater aufspürt. Auch Kurt und Martha tauchen plötzlich auf.

„Töchter“ basiert auf dem gleichnamigen Bestsellerroman von Lucy Fricke, die mit der Regisseurin Nana Neul auch das Drehbuch schrieb. Eine tragikomische Reise zweier Frauen um die 40, vereint durch das Versagen ihrer Väter und dem damit verbundenen Schmerz, auf der Suche nach ihren Wurzeln. Der „Menschenfeind“ Kurt und die chronisch missmutige Betty, unterhalten, trotz aller Dramatik, mit pointierten Wortgefechten.

Ulrike Schirm


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