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Erste Filmkritiken im September 2021

Zwei Spielfilme und zwei Dokumentarfilme heute in unseren Filmbesprechungen.



"RÄUBERHÄNDE" Jugendrama von İlker Çatak (Deutschland). Mit Emil von Schönfels, Mekyas Mulugeta, Katharina Behrens u.a. seit 2. September 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:
(Auf einem Road-Trip nach Istanbul versuchen zwei Teenager-Jungen, ihre Freundschaft zu retten.)

Janik (Emil von Schönfels) und Samuel (Mekyas Mulugeta) sind beste Freunde, die wie Brüder aufgewachsen sind. Sie sind gerade dabei ihr Abi zu machen. Während Janik perfekte Eltern hat, hütet Samuel ein Geheimnis. Er schämt sich seiner alkoholkranken Mutter. Janiks Eltern haben Samuel wie einen Sohn, bei sich zu Hause aufgenommen. Samuel, weiß im Gegensatz zu Janik, genau, was er will: So schnell wie möglich, weg von seiner ständig zugedröhnten und lebensuntüchtigen Mutter. Janik sehnt sich nach Chaos und Samuel nach Ordnung. In ihrer gemeinsamen Gartenlaube “Stanbul“ schmieden die beiden Zukunftspläne. Nach dem Abitur wollen sie einen Roadtrip nach Istanbul machen, wo angeblich Samuels Vater wohnt und Janik will dem bürgerlichen Leben und dem, was seine Eltern von ihm erwarten, entfliehen. Auch wenn beide unterschiedliche Meinungen haben und sich gerne kabbeln, zerreißt so schnell nichts ihre tiefe Freundschaft.

Samuel: „Komm, wir hauen ab und lassen den ganzen Scheiß hinter uns“.

Doch kurz vor ihrer Abreise wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Zwischen Janik und Samuels Mutter Irene (Katharina Behrends) kommt es zu einer unverzeihlichen Begegnung. Samuel ist tief verletzt. Hals über Kopf treten sie ihre Reise, die Neuanfang und Spurensuche zugleich ist, trotzdem an. Doch die verläuft nun anders als geplant.

Mit „Räuberhände“ hat Ilker Çatak („Es gilt das gesprochene Wort“) den Erfolgsroman von Finn-Ole Heinrich verfilmt. Das Buch avancierte nach seiner Erstveröffentlichung 2007 zum Bestseller, gilt heute an vielen Schulen als Pflichtlektüre und wurde in seiner Bühnenfassung am Hamburger Thalia Theater über 100 mal aufgeführt.

In Istanbul beginnt für die beiden unterschiedlichen Jungen eine Zeit des Erwachsenwerdens. Samuel ist auf der Suche nach seinen Wurzeln und einem Neubeginn. Er ist extrem gut darin, seine Ziele zu verfolgen, auch wenn sich ihm Schwierigkeiten in den Weg stellen. Janik will sich von seinen Eltern abgrenzen, auch wenn sie alles richtig gemacht haben. Wenn er nicht alles anders macht als sie, woher soll er dann wissen, ob dieses Leben wirklich seines ist. An erster Stelle steht jedoch, die Rettung ihrer Freundschaft. Ihr Plan war, ihr Leben zusammen zu bestreiten. Doch noch wissen sie nicht, wie sie ihren Konflikt lösen können. Ihnen fehlen die richtigen Worte und das richtige „Handwerkszeug“, was zu ungewollten Spannungen führt. Besonders Janik erlebt, wie zerbrechlich Vertrauen und Freundschaft sind und das es Grenzen gibt, deren Überschreitung vieles in Frage stellt und dass das sehr schmerzhaft sein kann. Wahrhaftig und einfühlsam erzählt Çatak vom einzigartigen Lebensgefühl der 18-jährigen Freunde, die sich in einer Zeit des Aufbruchs befinden, in der alle Möglichkeiten noch offen zu sein scheinen. Mit beeindruckender Authentizität machen sich die beiden Schauspieler auf die Suche nach Freiheit, Identität und Heimat.

Ulrike Schirm


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"Bekenntnisse des Hochstaplers FELIX KRULL" Dramödie von Detlev Buck (Deutschland). Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann aus dem Jahre 1954. Mit Jannis Niewöhner, Liv Lisa Fries, David Kross u.a. seit 2. September 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Pötzlich schießen Romanverfilmungen wie Pilze aus dem Boden. Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, Erich Kästners „Fabian“, Stefan Zweigs „Schachnovelle“ und jetzt ganz aktuell Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Schon zweimal wurde der Roman verfilmt. 1957 von Kurt Hoffmann mit Horst Buchholz in der Titelrolle und dann noch einmal1982 als fünfteilige Miniserie von Bernhard Sinkel und nun von Detlef Buck, der gemeinsam mit Daniel Kehl das Drehbuch für die Adaption des Stoffes schrieb. „Fabian“ und „Berlin Alexanderplatz“ glänzen durch gelungene Neuinterpretationen des bekannten Stoffes, das heißt, man hat eine aktuelle Modernisierung gewagt.

Eigentlich ist dieser charmante Felix Krull gar kein Hochstapler sondern eher ein gewiefter Schelm, der es versteht, ohne großen Aufwand sich durch das Leben zu schlängeln. Schon in frühester Kindheit, hatte er großen Spaß an Rollenspielen und Verwandlungskünsten. Auf seine Musterung hat er sich perfekt vorbereitet. Unverblümt erzählt er dem Stabsarzt (Detlef Buck) wie sehr er sich darauf freut, gegnerische Soldaten totzuschießen. Es dauert nicht lange und er wird vom Militärdienst befreit. Sein Ziel hat er erreicht.

Als sich ihm nach einigen Schicksalsschlägen, die Verschwendungssucht seines Vaters hat die Familie in den Bankrott getrieben, bietet sich ihm die Möglichkeit, als Liftboy in einem Pariser Luxushotel zu arbeiten. Auch hier ist es ihm ein leichtes, sich den Gegebenheiten anzupassen und rasch zum Oberkellner aufzusteigen. Und da er nicht nur ein guter Schauspieler ist, sondern auch als Liebhaber eine besondere Begabung hat, gepaart mit seinem Charme, fahren die weiblichen Gäste auf ihn ab. Besonders die lüsterne, mondäne Madame Houpflé (Maria Furtwängler) Gattin eines Kloschüsselfabrikanten, die ihn in ihre Suite bittet und ihn für seine Liebesdienste mit Schmuck bezahlt. Bei Krulls Zusammentreffen mit dem unglücklich verliebten Marquis Louis de Venosta kommen die beiden auf die Idee, ihre Identität zu tauschen, um dem Marquis eine Heirat mit der freizügigen Zaza ( Liv Lisa Fries) zu ermöglichen. Sie ist die Freundin von Krull, die ihm nach Paris gefolgt ist, weil sie emporkommen will und sich als falsche Dame dem reichen Marquis anbietet und für die gute Partie Felix Krull aufgibt. Krull verliert seine große Liebe, darf dafür in seiner neuen Identität in der Welt herumreisen.

Die Szenen beim portugiesischen König (Christian Friedel), wo Krull sein „Meisterstück als Hochstapler“ celebrieren kann, kommen im Buch gar nicht vor. Auch der Oberkellner Stanko (Nicholas Ofczarek) ist im Film eine zwielichtige Gestalt, die alle Hotelangestellten zu krummen Taten zwingt.

Dem Film fehlt die feine Ironie, die Doppelbödigkeit und die Leichtigkeit mit der Krull nur zugreifen muss, was das Leben ihm bietet und der Welt vorgaukelt, was sie zu sehen wünscht. Das Spiel mit Illusionen. Ich bin, was ihr in mir seht. Hier sehen wir einen Krull, der mit aller Macht von ganz unten nach ganz oben will und das mit allen Mitteln.

Im Roman ist er eine schillernde Persönlichkeit, in die sich alle verlieben. Es entsteht der Eindruck, dass Buck mit dem Roman nicht viel anfangen konnte. Da der Film im Jahr 1905 spielt, setzt er auf Kostüm, Champagner und prunkvolle Ausstattung. Man hat das Gefühl, dass die Schauspieler spielen durften wie sie wollten. Einigen ist es gelungen, einige wurden zur Karikatur oder blieben blutleer, sowie David Kross in seiner Rolle als Marquis. Frau Furtwängler liefert eine Selbstdarstellungsnummer nach dem Motto: „Schaut alle her, ich kann auch Nymphomanin“. Leider fehlbesetzt. Jannis Niewöhner darf in seiner Musterungsszene wild chargieren, was den Ernst seines Bluffs kaputt macht, obwohl der Regisseur in der Rolle des Stabsarztes sein Gegenüber ist.

Man fragt sich warum die beiden, Buck und Kehlmann, diesen Stoff nicht modernisiert haben und in unsere Zeit der Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken, übertragen haben, dem alltäglichen Spiel mit Identitäten und Illusionen und dem Spagat zwischen Wirklichkeit und Fiktion.

Stattdessen wird aus dem schillernden Blender Krull, ein Typ dem nichts näher steht, als sich von unten nach oben zu boxen und wo die Antwort auf Liebe oder Karriere, Karriere lautet.

Das Augenzwinkernde und Flirrende und die feine Ironie der Geschichte ist hier leider nicht zu spüren. Ich zitiere rbb Moderator Knut Elstermann: „Es fehlt die Seele des Buches“. Besser kann man es nicht ausdrücken.

Ulrike Schirm


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"DIE WELT JENSEITS DER STILLE" Dokumentarfilm zur Corona-Pandemie von Manuel Fenn (Deutschland) mit 12 Geschichten aus aller Welt von 12 Regisseuren. Seit 2. September 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

Mitte März 2020 beschließen der Regisseur und Grimme-Preisträger Manuel Fenn und die Produzenten Renée Frotscher und Thomas Jeschner einen Film über das Leben von ganz normalen Menschen während des Lockdowns zu drehen. Zwölf Filmteams machen sich auf den Weg und erkunden eine Welt im Ausnahmezustand. Eine Krise - zwölf Erzählungen aus zwölf Ländern, die da sind: Brasilien, Deutschland, Bolivien, Israel, Malysia, Großbritannien, Russland, Iran, Kenia, USA, Brasilien und Italien. Überall auf der Welt spielt sich das Gleiche ab: Leere Straßen, leere Plätze, leere Strände, Stille. Menschen sind voneinander getrennt, Kommunikation ist nur noch über das Internet und Telefon möglich, maskierte Gesichter. Die Welt, wie wir sie kennen, steht auf einmal still.

Meister Li, ein Kung-Fu Lehrer, der durch das Training mit seinen Schülern Halt in der Fremde findet, fühlt sich einsam. Ein Ehepaar mit zwei Kindern ist aufgrund der Pandemie „eingesperrt“ und das in ihrer schlimmsten Ehekrise. Ein indigener Stamm im Amazonasgebiet versucht mit allen Mitteln, das Virus aus ihrem Dorf fernzuhalten und baut vorsorglich ein Haus für Infizierte. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen.

Eine Altenpflegerin trägt in einem fremden Land eine alte Frau zu Grabe. Ein blinder Mann bewegt sich plötzlich in einer stilleren Welt. Ein DJ schreibt Songs über den Weltuntergang und ist so kreativ wie nie zuvor. Ein Krankenhauspfleger separiert sich aus Sorge um seinen Freund und pflegt seine Patienten. Eine Mutter erlebt während des Ausgangsverbots die ersten Schritte ihres Babys und vermisst ihre Familie. Ein obdachloser Pizzabote, der seinen Beruf und Coca Cola liebt, ist auf der Suche nach einer Wohnung. Eine junge Frau kehrt zu ihrer ultraorthodoxen Familie zurück. Die Portraitierten erzählen wie es ihnen geht, wie verzweifelt sie sind und trotzdem das Beste aus dieser Situation machen. Aus der Vogelperspektive treiben Schäfer jeden Tag unbeirrt ihre Herde zu einer Quelle.

Über alle Grenzen hinweg, vereint uns alle dasselbe: Die Verletzbarkeit unseres gewohnten Daseins. Emotional und authentisch. Wut und Trauer wurden in dieser Dokumentation ausgespart.

Ulrike Schirm


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"VICTORIA" Dokumentarfilm von Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer, Isabelle Tollenaere (Belgien). Der Film feierte seine Weltpremiere im Forum der 70. Berlinale 2020. Seit 2. September 2021 im Kino. Hier der Trailer:



Elisabeth' Filmkritik:

Drei Regisseurinnen, Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer und Isabelle Tollenaere, überquerten den Ozean und zogen in die Ferne und kamen mit einem Film zurück. Drei Belgierinnen, Jahrgang 1984 und 1985, verschlug es in die Mojave Wüste. Genauer gesagt nach California City. Eine Stadt, die eigentlich keine ist. Eine Stadt, die eine werden wollte und nicht wurde. Vor etwa 60 Jahren hatte sich jemand einen Traum von einer Wüstenstadt ausgedacht. Es gibt Schlangen, eine Schildkröte, Steppenläufer werden vom Wind durchs Bild gerollt. Neugierde brachte das Trio in dieses Niemandsland und genauso hielten sie es visuell fest. Es gibt Straßen, jede Menge Straßen. Google Maps zeigt den Reißbrettcharakter gut auf. Es gibt sehr vereinzelt auch Häuser, hier leben auch Leute, Pioniere könnte man sagen, und doch wirkt es, als wäre dieser unvollendete Ort Fiktion.

Die drei, das Glück spielte ihnen in die Hände, trafen auch einen jungen Mann, Lashay Terrell Warren, mit dem sie sich auf Anhieb gut verstanden. Er wird zu ihrem und des Publikums Stadt- und Wüstenführer. Er, der Los Angeles und seine Vergangenheit eben dort hinter sich gelassen hatte, um in California City neu anzufangen, erzählt aus dem Off. Die Regisseurinnen dokumentieren zum einen und das über einen Zeitraum von einigen Jahren hinweg, aber lassen sich zum anderen auf ein Essay ein, den sie selbst angestoßen haben. Sie baten ihren Protagonisten darum Tagebuch zu führen. Aus diesem Tagebuch liest Lashay, dieser kluge, nachdenkliche und auch lebenslustige Beobachter, aus dem Off vor und entführt uns damit in seine Gegenwarts- und Zukunftsträume.

Elisabeth Nagy


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