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71. Berlinale - Filmkritiken zweiter Teil und ein nahezu unmögliches Kinoeröffnungsszenario

Mit dem zweiten Teil unserer Berlinale Filmkritiken wollen wir möglichst wieder alle Sektionen der 71. Ausgabe 2021 abdecken.



Multimedial wollten wir auch den zweiten Teil unserer Berlinale Filmkritiken fortfahren, aber ohne Trailer ist das gar nicht so einfach.

Normalerweise hat die Berichterstattung im Internet den Vorteil gegenüber einer Tagesszeitung, dass man Trailer oder Filmauszüge zu den Besprechungen zeigen kann, denn ein Sprichwort besagt: "Bilder sagen mehr als 1000 Worte".

In unseren gestrigen Besprechungen zu einem Wettbewerbsfilm sowie drei Filmkritiken zur Sektion »Perspektive deutscher Film« hat das noch gut geklappt. Bei den anderen Sektionen ist das schon schwieriger. In den letzten Jahren hatten unsere Leser wenigstens die Möglichkeit gehabt, sich die Filme im Kino anzusehen, um unsere Kritiken mit ihrer eigenen Meinung zu vergleichen.

Doch diesmal sind die Kino geschlossen und nur wenige Journalisten haben die Möglichkeit, die Berlinale Filme im Stream zu Hause anzusehen.

Nach Aussage des Umweltbundesamtes und der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (BKM) könnte dieser Zustand auch noch einige Zeit andauern, denn die Inzidenzzahlen der Corona-Pandemie sind eher wieder am Steigen, denn am Sinken. Zudem wäre eine Wiedereröffnung des Kulturbetriebs unter Pandemiebedingungen erst bei einer Inzidenz unter 50 und guter Belüftung der Theater und Kinos möglich, aber nur bei halbvollen Sälen und mit dem permanentem Tragen von FFP2-Masken am Platz während der gesamten Vorstellung.

Die Kinobetreiber lehnen dies jedoch ab, weil erst durch Getränke- und Popcorn-Verkauf genügend Geld in die Kinokassen fließen, sodass sich eine Öffnung lohnen würde. Mit Maske während der Vorstellung ist aber ein Verzehr unmöglich. Darüber hinaus würden Selbsttests (da nicht nachprüfbar) als alternativer Nachweis der Corona-Unbedenklichkeit nicht ausreichen, genauso wenig wie Impfpässe, die bisher erst an über 80-Jährige ausgestellt wurden und somit wahrlich nicht mehr zur großen Kinozuschauer-Klientel zählen.

Christine Berg vom HDF Kinoverband ergänzt, dass Schnelltests vor den Theatern und Kinos zu zeitraubenden langen Warteschlangen führen würden, die bei einem anschließenden nur 90 Minuten langem Programm absurd wären.

"From the Wild Sea" Doku von Robin Petré

Sektion Generation 14plus
Dokumentarfilm: Dänemark 2021
Regie: Robin Petré
Drehbuch: Robin Petré
Bildgestaltung: Robin Petré, Marí­a Grazia Goya
Montage: Charlotte Munch Bengtsen
Musik: Ismaí«l Colombani
Ton: Robin Petré, Thomas Pape

Hier ein Interview:



Elisabeth' Filmkritik:

Die Natur ist aus dem Gleichgewicht. Der Mensch entzieht den Tieren ihren Lebensraum, drückt ihm gewissermaßen seine Vorstellung von Existenz auf. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber angesichts der Auswirkungen der Sars-2-Pandemie hoch aktuell. Die Meere sind voller Plastik, immer wieder passiert es, dass aus Tankern Öl austritt und die Meere verschmutzt. Die Tiere leiden nicht nur darunter, sie werden tödliche bedroht. Die dänische Regisseurin Robin Petré arbeitete mit der Mitarbeitern der European Environment Agency, den British Divers Marine Life Rescue- und dem Seal Rescue Ireland-Team zusammen, um uns das Ausmaß auf die Leinwand zu bringen. Sie studierte zuerst Journalismus und wechselte dann in die Dokumentarfilmregie, studierte im Doc-Nomads-Programm an verschiedenen Lehrstätten in Portugal, Ungarn und Belgien.

Bereits in ihrem Kurzfilm "Pulse", über eine Hirschfarm in Ungarn, widmete sie sich der Beziehung zwischen Mensch und Tier. Im Mittelpunkt von "From the Wild Sea" steht das Meer, das Wetter und die Tiere. Auch wenn die Kameraaufnahmen von Marí­a Grazia Goya und Robin Petré diese Sicht für das Publikum filtern. Ein wenig ähnelt ihr Ansatz dabei den Filmen der Harvard Sensory Ethnography Lab, da fällt mir "Levithian" von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel ein.

Die Dramaturgie des Dokumentarfilms folgt dem Prozess der Tierrettung und durchläuft eine Wintersaison. Eine Robbe wird gefüttert und die Kamera hält auf die Schnauze, die Handgriffe der Menschen ist alles, was wir von den Helfern zuerst sehen. Schwäne werden vom Öl gesäubert, Tierärzte untersuchen Tiere und so weiter. Der Mensch, so sehr er auch hilft, muss für die Tiere grotesk sein. Auch dafür findet Petré ein Bild, das auf uns zurückschaut.

"From the Wild Sea" ist ihr erster Langdokumentarfilm. Zwar verweist das Begleitmaterial auf eine poetische Bildsprache, doch liegt diese im Auge des Betrachters. Deutlich wird, was der Mensch der Natur antut. Im abgespeckten Berlinale-Programm wird "From the Wild Sea" in der Sektion Generation 14plus gezeigt. Zu der Entscheidung wird sicherlich der Wunsch der Kuratoren beigetragen haben, dass junge Menschen sicherlich offen für diesen Prozess sind, mit dem man sonst nur die bereits Überzeugten erreichen kann.

Elisabeth Nagy


"Bis ans Ende der Welt" Drama von Jong chak yeok.

"Short Vakation"
Sektion Generation Kplus
Südkorea 2020
Regie Kwon Min-pyo, Seo Hansol
Drehbuch Kwon Min-pyo, Seo Hansol
Bildgestaltung Park Jae-man
Montage Kwon Min-pyo, Seo Hansol

Filmstill: Short Vacation © Berlinale


Elisabeth' Filmkritik:

Ein Smartphone hat viele praktische Funktionen. Mit dem Licht, das man als Taschenlampe zuschalten kann, kann man auch schon mal eine herunter gefallene Kontaktlinse suchen und finden. Uh! Der Boden ist ziemlich dreckig, stellt eines der Mädchen aus dem Fotografie-Club der Schule fest. Manche Dinge sieht man halt erst, wenn man hin guckt. Das Smartphone ist längst für viele die erste Wahl um Bilder zu machen und auch die Schülerinnen, denen wir über knapp 80 Minuten lang folgen, haben nur ein solches. Ihr Lehrer gibt ihnen jetzt kleine Ritsch-Ratsch-Knipsen mit auf den Weg. Er erklärt den Prozess, drehen und draufdrücken, es bleiben 27 Bilder. 27 Bilder, die wohl überlegt sein wollen. Das Thema lautet: Das Ende der Welt.

Was soll sich ein junger Mensch mit 13 Jahren darunter vorstellen? Kwon Min-pyo und Seo Hansol, beide studierten an der Dankook University, beobachten ihrem Langspielfilmdebüt vier junge Mädchen während sie sich auf die Suche nach dem "Ende der Welt" begeben. Eine von ihnen schlägt vor, zur Endhaltestelle der Seoul Metropolitan Linie 1 zu fahren. Eines der Mädchen ist neu in der Schule und somit müssen die vier sich auch erst einmal kennen lernen. Die für sie unbekannte Umgebung fordert sie heraus. Eigentlich sind sie noch Kinder, andererseits fühlen sie sich schon als junge Erwachsene. Sie müssen sich nun im Unbekannten zurecht finden, sich bewähren und etwas über ihre Welt herausfinden. Durch ihre Augen und die Kameraarbeit von Park Jae-man nehmen wir all die Alltagsszenen wahr, als wären sie auch für uns Ältere neu und inspirierend.

Dabei haben die beiden Regisseure viel mit Improvisation gearbeitet. Das Skript gab Situationen vor, in denen die jungen Darstellerinnen dann agieren konnten. Viel passiert allerdings nicht. "Bis ans Ende der Welt" ist eine Reise, aber kein Roadmovie. Die vier Schülerinnen kommen nirgendwo an, es ist, als hätten sie sich verirrt, aber der Weg hat kein Ende und die Welt auch nicht. Die Erkenntnisse fließen kaum merkbar ein. Die Dramaturgie ist ruhig, unaufgeregt, fast eintönig, Musik hat man gleich ganz weg gelassen. Darüber hinaus hat das Team sich dafür entschieden, einzelne geknipste Fotos als Standbild einzufügen. Was den Flow immer wieder ins Stocken bringt. Auch wenn die Entwicklung, was die Schülerinnen knipsen und was sie schließlich fotografieren eine Entwicklung durchmacht.

Elisabeth Nagy


"Esquí­ - Ski" Dokufiktion von Manque La Banca

Forum
Dokumentarfilm, Hybrid.
Argentinien / Brasilien 2021
Regie: Manque La Banca
Drehbuch: Manque La Banca
Bildgestaltung: Florencia Mamberti
Montage: Manuel Embalse, Manque La Banca
Musik: Antu La Banca
Szenenbild: Macarena Iara Fernandez Sanchez
Ton: Hernán Biasotti, César Borra

Filmstill: Esquí­ - Ski (Montage) © Berlinale


Elisabeth' Filmkritik:

Auf viele Pisten führt uns der Langfilmdebütant Manque La Banca. Mit dem Kurzfilm "T.R.A.P" war er 2018 im Berlinale Shorts-Wettbewerb. "Esquí­" wird dieses Jahr in der Sektion Forum gezeigt. Freunde des Forums werden ahnen, das hier kein narrativer Spielfilm gezeigt wird. Andere werden vielleicht gleich abwinken. Manque La Banca macht es dem Publikum auch nicht leicht. Ist das nun ein Spiel- oder ein Dokumentarfilm? Die Berlinale ordnet gar nichts ein. Unser Problem, wenn wir unbedingt Schubladen wollen. Die Berlinale Talents-Seite gibt an, sein Projekt sei ein Hybrid. Da kommen wir der Sache schon näher. Manque La Banca interessiert sich für Filmgeschichte, Filmarchivierung, Menschenrechte, Philosophie und so weiter.

All das bringt er in seinem Debüt tatsächlich unter. Allerdings muss das Publikum da erst mal durch. Denn im Kurzinhalt heißt es, es ginge um ein Monster, das im Nahuel-Huapi-See wohnt. Und um ein anderes Monster, dass Capa Negra, also schwarzer Umhang, genannt wird. Das ist nachts auf den Skiposten um Bariloche unterwegs. Manque La Banca kommt aus Bariloche. Angeblich der größte Skiurlaubsort in Argentinien. Vom Skifahren verstehe ich nichts und als mir ein alter Deutsch sprechender Herr von seinen Bemühungen um den Sport vor Ort erzählt, kann ich das als Information verbuchen, oder ich sollte, angesichts der Tatsache, dass dies doch ein Hybrid sein soll, Zweifel bewahren. Und das ist die Schwierigkeit mit Hybrid-Formen. Es ist nicht der Umstand, dass ich es gerne einfach hätte, sondern dass ich dem Filmteam vertrauen möchte. Und hier weiß ich so gar nicht, wohin ich geführt werden soll. Wobei der Umstand, dass ich den Film auf der digitalen Berlinale wahrgenommen habe, außerhalb eines Kinosaales, das eine ganz andere Konzentration ermöglicht, eine Rolle spielen könnte.

Ursprünglich, so steht es im Pressematerial, wollte der Regisseur eine beobachtende Dokumentation drehen. Die innere Wahrheit fängt man aber sicherlich auch ein, wenn man diesen Pfad verlässt. Was den Regisseur veranlasst hat, die Richtung zu ändern, ob es an ihm oder an dem Material lag, ich weiß es nicht. Wenn ich La Banca richtig verstehe, wollte er die Dualität, die er hier herausarbeitet, den Alltag eines Skilift-Mitarbeiters und der Touristen, die kommen und gehen, die Armut der Bevölkerung und den Reichtum der Urlauber, auf einer noch tiefschichtigeren Ebene visualisieren. Ein bisschen hapert es da an der Dramaturgie, oder an einer vom Berlinale-Sichtungsmarathon strapazierten Aufnahmefähigkeit, dass ich nicht ganz am Ball bleiben kann.

Dabei legt La Banca einen Finger in die Wunde. Auch wenn er aus dem Off eine konstruktive Kritik einer frühen Schnittfassung einspielt, die die Relevanz zu Tage fördert. Die Erzählung des alten weißen Mannes wären doch Unsinn. Der Staat hätte die lokale Bevölkerung der Mapuche und Tehuelche von ihrem Land vertrieben, um diese den europäischen Einwanderern zu geben, und, sofern sie nicht ermordet wurden, zu billigen Arbeitskräften gemacht. Die Geschichte würde sich heute wiederholen, obwohl es doch ein demokratisches Regime gäbe. Sie spricht den Filmemacher und damit auch dem Publikum ins Gewissen, dass man, auch im Film, Haltung zeigen müsse, sonst mache man sich mitschuldig. La Banca wirft zwar viel an Material ganz unterschiedliche Zeit und Qualität ein, aber er wählt da schon die richtige Piste.

Elisabeth Nagy


Link: www.berlinale.de

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