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Zwei weitere Filmkritiken zu Kinostarts im September 2020

Den wichtigsten Kinostart im September hatten wir schon vor 10 Tagen, anlässlich des polnischen Filmfestivals, filmPOLSKA, veröffentlicht.



"CORPUS CHRISTI" Drama von Jan Komasa

Noch vor dem offiziellen deutschen Kinostart, präsentierte das polnische Filmfestival, filmPOLSKA, in Berlin zwischen dem 27. und 30.08.2020 dreimal die Originalfassung des Films "Corpus Christi" vom polnischen Regisseur Jan Komasa.

Nun ist seit dem 3. September 2020 auch die deutsche Fassung in unseren Kinos gestartet, zu der wir bereits am 26.08.2020 eine ausführliche Kritik beigesteuert hatten.

Hier noch einmal der Trailer des entlarvenden Dramas von Jan Komasa über das urkatholische Polen, inspiriert von wahren Ereignissen.



Der Film läuft u.a. in den Berliner Kinos der Yorck Kinogruppe noch unter den alten Hygieneregelungen mit mindestens 1,5 m Sicherheitsabstand, sodass dort während der Vorführungen keine Coronamasken getragen werden müssen. Der Mund- und Nasenschutz ist in diesem Fall nur beim Verlassen des Platzes sowie im Empfangsbereich erforderlich.

In einigen anderen Kinos wurde der Sicherheitsabstand auf einen Meter reduziert. Dort ist die Masken-Benutzung jedoch zwingend auch während der ganzen Filmvorstellung vorgeschrieben. Da dies jedoch vor allem bei langen Filmen als äußerst lästig empfunden wird, unterlassen die meisten potentiellen Zuschauer derzeit noch die Kinobesuche, was auf Dauer für die Filmwirtschaft fatal werden könnte, weil die erforderlichen Umsätze so nicht erreicht werden können.

Allerdings ist auch bei größeren Sicherheitsabständen eine effektive Auslastung der Kinos nicht gegeben, sodass für manche Kinos das Überleben auf Dauer kritisch werden kann.

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"DREI TAGE UND EIN LEBEN" Ein Krimi-Drama über Schuld und ihre Vergänglichkeit von Nicolas Boukhrief (Frankreich). Mit Sandrine Bonnaire, Pablo Pauly, Jeremy Senez u.a. seit dem 3. September 2020 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

In einem kleinen Dorf in den Ardennen, nahe am Waldrand, lebt der 12-jährige Antoine (Jérémy Senez) mit seiner Mutter (Sandrine Bonaire).

1999, die Schüler haben Weihnachtsferien und Antoine vertreibt sich die Zeit mit Èmilie, der Nachbarstochter von nebenan und ihrem sechsjährigen Bruder Rémi (Léo Lévy). Meistens treffen sie sich in Antoines selbst gebauter Hütte im Wald. Niemand ahnt, dass Antoine in das Mädchen verliebt ist. Nicht mal Èmilie hat die leiseste Ahnung. Als Antoine beobachtet wie sie einen anderen Jungen küsst, rennt er enttäuscht nach Hause.

Schon am Tag zuvor hat sich ein tragischer Unglücksfall ereignet. Als Antoine aus versehen einen Ball auf die Straße wirft, rennt Rémis Hund hinterher und kommt unter ein Auto. Émilies Vater erschießt den schwer verletzten Hund, um ihn von seinen Qualen zu erlösen. Antoine fühlt sich schuldig. Er muss erst einmal zur Ruhe kommen und das kann er am besten in seiner Hütte im Wald, die er aber voller Trauer und Wut kurz und klein schlägt.

Wie schon so oft, der kleine Rémis läuft ihm hinterher. Eine Verkettung tragischer Umstände verändern Antoines Leben, ab dem Moment, für immer. Als Rémis nicht nach Hause kommt, machen sich die Dorfbewohner auf die Suche. Nur der Zuschauer und Antoine wissen, was wirklich passiert ist. Durch einen Jahrhundertsturm, der über das Dorf hinwegfegt und den Wald verwüstet, muss die Suche abgebrochen werden. Antoine hat die Suche heimlich beobachtet. Den Kindern wurde verboten, daran teilzunehmen. Die Kamera bleibt nah bei dem Jungen. Es schnürt einem fast den Hals zu, seine Panik und seine Angst vor der Wahrheit in seinem Gesichtsausdruck mitzuerleben. Nicht nur er, auch die Dorfbewohner sind verzweifelt. Sie erinnern sich an die Taten des belgischen Mörders und Sexualstraftäters Marc Dutroux, der 1996 festgenommen wurde und fürchten einen Nachahmer. Wie lange hält der Junge sein Schweigen noch aus?

Als er fünfzehn Jahre später, wieder in der Weihnachtszeit, nach der Beendigung seines Medizinstudiums zurückkehrt, haben Waldarbeiter damit begonnen, die damaligen Sturmschäden zu beseitigen. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Antoines Geheimnis entdeckt wird.

"Drei Tage und ein Leben" beruht auf dem gleichnamigen Roman des mit dem französischen Literaturpreis ausgezeichneten Autors Pierre Lemaitre, der auch das Drehbuch zu diesem Film schrieb.

Regisseur Nicolas Boukhrief hat das Drama atmosphärisch dicht und spannend inszeniert, bis hin zu den gegenseitigen Verdächtigungen der Dorfgemeinschaft. Herausragend, der junge Jérémy Senez in der Rolle Antoines, der seine innere Zerrissenheit unglaublich berührend spielt.

Länge: 120 Minuten In weiteren Rollen: Pablo Pauly, Charles Berling, Philippe Torreton, Margot Bancilhon, Arben Bajraktaraj.

Ulrike Schirm


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"DER FLÜSSIGE SPIEGEL" (OT: Vif-ARGENT) „Ein moderner Orpheus balanciert auf dem dünnen Seil des fantastischen Realismus, ohne jemals zu fallen. Ein aufregender Debüt-Film“* von Stéphane Batut. (Frankreich, 104 Min.) Mit Thimotée Robart, Judith Chemla, Saadia Bentaïeb u.a. seit dem 3. September 2020 im Kino. Hier der Trailer:



*Quelle: Les Fiches du Cinéma

Ulrikes Filmkritik:

Stéphane Batuts poetisches Fantasy- Märchen „Der flüssige Spiegel“ erinnert an Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“. Ein für die Menschen unsichtbarer Engel verliebt sich in eine Trapezkünstlerin und bittet darum, seine Unsterblichkeit aufzugeben, um nochmal als Mensch auf die Erde zu kommen.

Juste (Thimotée Robart) streift fast unbemerkt durch die Straßen von Paris. Menschen, die ihn sehen können, bittet er, ihm eine Erinnerung an ihr Leben zu erzählen, dann begleitet er sie auf ihrem letzten Weg.

Als er nach einem Sturz in ein Krankenhaus eingeliefert wird und er nach seinen Personalien befragt wird, kann er sich an nichts erinnern. Er hat nur einen Wunsch, er möchte wieder „normal“ sein und nicht als Geist umherirren. Als er einen Bus verlässt, folgt ihm eine junge Frau. Die Ähnlichkeit mit Guillaumes, ihrer ersten großen Liebe ist verblüffend. Vor einigen Jahren haben sie sich in den Ferien getroffen. Es folgten noch einige Postkarten, dann war er aus ihrem Leben verschwunden. Eine dunkle Ahnung keimt in Juste auf. Agatha (Judith Chemla) hat sich in ihn verliebt, als er noch ein Mensch war. Er weiß, wenn sie ihn sehen kann, muss er sie nach ihrer Erinnerung befragen und sie danach in eine andere Welt begleiten. Sein Schicksal nimmt eine ungeahnte Wendung. Dass er in Agathes Erinnerung ist, darauf hat man ihn nicht vorbereitet. Darf er sich in sie verlieben? Juste wurde zu einem letzten Begleiter für die Verstorbenen, weil er keine Erinnerung an sein Leben erzählen konnte. Ohne Erinnerung, kann er die Welt nicht endgültig verlassen.

Juste bewegt sich zwischen Leben und Tod. Eben noch steht er vor einem verbrannten Motorrad und etwas später begleitet er das Unfallopfer durch eine Schneelandschaft und lässt sich dessen letzte Erinnerung erzählen.

Die Einheit zwischen Ort und Zeit bleibt verwischt. So auch in den wunderschön fotografierten Liebesszenen zwischen ihm und Agatha. Bei ihrem ersten Sex ist er noch physisch anwesend, etwas später berührt er sie als Geist, was Agatha in einem erotischen Traum spürt. Es sind die melodramatischsten Szenen in diesem Film. Frei von jeglicher Schwülstigkeit, reicht ihre Liebe weit über den Tod hinaus, gezeichnet von einer betörenden Poesie.

Le Figaro: „Auch Geister haben ein Recht darauf, geliebt zu werden“.

„Der flüssige Spiegel“ ist Stéphane Batuts erster Langfilm und Thimotée Robarts erste Langfilmrolle. Agatha, die fragile und sensible junge Frau und Juste, beide auf der Suche nach der verlorenen Zeit, überzeugen als Paar.

Die Vorstellung, da ist jemand, der uns beim Übergang vom Diesseits ins Jenseits an die Hand nimmt und uns beim Hinübergleiten beiseite steht, ist fast zu schön, um wahr zu sein.

Ulrike Schirm


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