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Neue Filmstarts - neue Filmkritiken im April, Teil 4

Trotz rückläufiger Besucherzahlen und einer weiteren Kinoschließung in Berlin, heute wieder aktuelle Filmbesprechungen von Ulrike Schirm.



Zunächst eine weniger erfreuliche Meldung. Am Gründonnerstag vor Ostern schloss in Berlin-Friedrichshain nach 110 Jahren das Ladenkino "Intimes" an der Boxhagener Straße. Nach dem KLICK Kino in der Charlottenburger Windscheidstraße und dem Eiszeit Kino in Berlin-Kreuzberg ist dies bereits die dritte Kinoschließung innerhalb eines Jahres in Berlin.

Zwar wird nach einer Lösung für einen Weiterbetrieb des "Intimes" gesucht, doch in Zeiten von Netflix & Co. wird es für kleine Leinwände immer schwieriger, sich gegen modernes Heimkino mit übergroßen Flachbildschirmen zu behaupten. So fiel der letzte Vorhang am 18.04.2019 zum vielleicht aller letzten Mal.

Wegen Sparmaßnahmen und aufgrund der hohen Kosten war die fantastische Neon-Leuchtschrift über dem Eingang schon seit längerer Zeit jeden Abend nur kurzfristig in Betrieb, in der Regel von der Dunkelheit bis zum Beginn der Spätvorstellung.

Das sehr kleine und karge Foyer bot nur wenig Platz. Für ein gemütlicheres Beisammensein vor oder nach dem Film bot sich jedoch das hübsche Café direkt neben dem Kinoeingang an. Doch worüber diskutieren, wenn keine Filme mehr gezeigt werden?

Den sieben Mitarbeitern, davon sechs studentische Hilfskräfte ist vom Kinobetreiber gekündigt worden. Neben den Tilsiter Lichtspielen, die 1908 gegründet wurden, war das "Intimes" bis heute das einzige erhaltene Ladenkino im Kiez.

In den letzten Jahren war die Anzahl der Kinos und Leinwände trotz sinkender Besucherzahlen nicht nur konstant geblieben, sondern sogar gestiegen. Allerdings nahm die Anzahl der Sitzplätze zugunsten von mehr Komfort ab. Das wurde vor allem von älteren Zuschauern im Arthouse-Kino goutiert.

Quellen: Tagesspiegel | Kinokompendium

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Wir danken auch Ulrike Schirm für ihr Engagement, uns fast jede Woche neue Filmkritiken zur Verfügung zustellen. Zwar bleibt uns die Arbeit von kleinen Korrekturen und Ergänzungen sowie das Hinzufügen der Trailer nicht erspart, dennoch sind uns ihre Besprechungen eine große Hilfe, denn wir sind bereits dabei, die Berichte zu den Filmfestivals FilmPolska sowie den Sehsüchten in Potsdam vorzubereiten, die beide am 24. April 2019 starten.

"VAN GOGH – An der Schwelle zu Ewigkeit" Biopic-Drama von Julian Schnabel (Frankreich). Mit Willem Dafoe, Rupert Friend, Oscar Isaac u.a. seit 18. April 2019 im Kino. Hier der Trailer.



Ulrikes Filmkritik:

Vincent van Gogh (30. März – 29. Juli 1890): „Mancher Mensch hat ein grosses Feuer in seiner Seele, und niemand kommt, um sich daran zu wärmen“.

Der Künstler und Filmemacher Julian Schnabel, hat ein erschütterndes Portrait über Vincent van Gogh gedreht. Beschränkt hat er sich auf die beiden letzten Lebensjahre dieses großartigen Künstlers, der als Begründer der modernen Kunst gilt. Er schuf etwa 900 Gemälde und über 1000 Zeichnungen.

In der Rolle van Goghs brilliert William Dafoe, der für seine Rolle, unter Schnabels Anleitung, so gut malen gelernt hat, dass man als Zuschauer nicht unterscheiden kann, ob es echte van Goghs sind oder Kunstwerke des begnadeten Schauspielers. Vincent: „Ich möchte Gemälde erschaffen, mit einem ganz besonderen Licht, leuchtend, die noch niemand gesehen hat“.

Wer kennt sie nicht, die goldgelb strahlenden Sonnenblumen.

Schnabels Anliegen war es, einen Film zu machen über nicht weniger als „wie es ist, ein Künstler zu sein“. Es geht ihm mehr ums Fühlen und Sehen, als um Fakten. „Was ich sehe“, so spricht van Gogh, „kann niemand sonst sehen“.

Im Februar 1888 verlässt Vincent Paris auf Anraten seines Freundes Paul Gauguin (Oscar Isaac) und begibt sich nach Arles, wo er im Licht der Provence 75 Bilder in 80 Tagen malt. Finanziell wird er von seinem Bruder Theo unterstützt (Rupert Friend), einem Kunsthändler, der vergeblich versucht, Vincents Bilder zu verkaufen. Die beiden Brüder stehen sich sehr nah.

Eine bedrückende Szene am Anfang zeigt, wie der Wirt eines Pariser Cafés, Vincents Bilder von der Wand abhängt, mit den Worten: „Die Bilder müssen weg. Sie vertreiben die Gäste“.

Von da an begleitet Schnabel den zu Lebzeiten verkannten Künstler mit schwankender Kamera durch die Natur. Schnabel gelingt es, das Fühlen und Sehen des rastlosen Malers, der sich im Zustand von Genie und Wahnsinn befindet, auf den Zuschauer zu übertragen. Jede seiner Bewegungen nimmt die Kamera mit. Er läuft über Wiesen und Felder und entdeckt, verharrt und malt. Fast wie in einem Fiebertraum. Er hat Angst, seinen Verstand zu verlieren. Eine Leidenschaft, die Leiden schafft und ihn für einige Zeit in die Psychiatrie verbannt. Nach einem intensiven Gespräch mit dem Pfarrer (Mads Mikkelsen) darf er die Klinik verlassen.

In rauschhaften Bildern gleiten seine Bewusstseinszustände am Zuschauer vorbei. Es klingt vielleicht pathetisch, Dafoe spielt sich die Seele aus dem Leib. Der von Dämonen getriebene Künstler nahm sich mit nur 37 Jahren das Leben. Aufgebahrt zwischen seinen Bildern fand er seine letzte Ruhe. Julian Schnabel hat ihm ein berührendes Denkmal gesetzt. Man könnte es auch anders sagen: „Schnabel hat sich an dem Feuer seiner Seele erwärmt“.

Ulrike Schirm


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"DER FALL COLLINI" Gerichts-Drama von Marco Kreuzpaintner (Deutschland). Mit Elyas M'Barek, Alexandra Maria Lara, Heiner Lauterbach u.a. seit 18. April 2019 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

„Der Fall Collini“, verfilmt von Marco Kreuzpaintner nach dem Bestseller von Ferdinand von Schirach. In dem gleichnamigen Roman geht es um die Verjährung von NS-Verbrechen.

2001 wird der Großindustrielle Hans Meyer (Manfred Zapatka) von dem Italiener Fabrizio Collini (Franco Nero) ermordet. Sein Motiv bleibt rätselhaft. Ein junger Anwalt, Caspar Leinen, (Elyas M’Barek) übernimmt die Verteidigung. Es ist sein erster Fall. Die Situation gestaltet sich äußerst schwierig. Das Opfer ist der Großvater seiner Jugendliebe Johanna ( Alexandra Maria Lara) und Leinen selber ging im Hause Meyer ein und aus und wurde wie ein eigenes Kind behandelt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Angeklagte schweigt. Doch Leinen hält an seinem Mandat fest.

Sein Gegner vor Gericht ist der spitzfindige ehemalige Strafrechtsprofessor Richard Mattinger, herrlich schmierig gespielt von Heiner Lauterbach, der Johannas Familie vertritt und der Leinen siegessicher nicht ganz für voll nimmt. Doch Leinen lässt sich nicht beirren. Er recherchiert auf eigene Faust. Seine Recherche führt ihn nach Italien. Dort hört er zum ersten Mal den Begriff: Dreher-Gesetz.

Es ist ein Gesetz, dass nach dem zweiten Weltkrieg eingeführt wurde. Seine Auswirkung war, dass viele Mordgehilfen jetzt wie Totschläger bestraft werden sollen und somit verjährten ihre Straftaten. Damals versuchte Collini Hans Meyer auf legalem Wege anzuzeigen. Die Anklage wurde abgewiesen. Sein Verbrechen war bereits verjährt. Es gelingt Leinen die Wahrheit über den Grund des Mordes an Meyer herauszufinden. In erschütternden Rückblenden schildert Kreuzpaintner den fatalen Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit. Ein Justizthriller, der ein zutiefst beschämendes Licht auf die deutsche Geschichte wirft.

Man kann es als Schachzug bezeichnen, denn mit der Besetzung von M'Barak, der bei den jugendlichen Zuschauern ganz hoch im Kurs steht und sie sich seinetwegen diesen Film ansehen werden, erfahren sie etwas über die Ungeheuerlichkeit, wie die damalige Justiz mit NS-Tätern wohlwollend umgegangen ist. In dem kunstvoll ausgeleuchteten Gerichtsdrama macht M'Barak in seiner ernsten Rolle eine durchaus gute Figur. Es kann weiß-Gott-nicht-schaden, diese Gräuel in Erinnerung zu rufen.

Ulrike Schirm


Sogar unserer Filmpolitikerin Katharina Dockhorn, die auch bei der Filmbewertungsstelle ein Wörtchen mitreden darf, gefiel der Film ausgesprochen gut, als einer der wenigen sehr empfehlenswerten Werke aus Deutschland. Die Jury zeigte sich beeindruckt von der pointierten und bis in die Einzelheiten genauen Erzählung mit der "DER FALL COLLINI" die Suche nach einem Motiv für die Tötung schildert. Der Film ist gut austariert und vermag mit extremer Klarheit eine an sich komplizierte Thematik vermitteln. Dafür gab es von der FBW das Prädikat: Besonders wertvoll.

Auch die der nächste von Ulrike Schirm besprochene Film hat ein Prädikat der FBW bekommen, allerdings nur mit "wertvoll".

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"GOLIATH 96" Drama von Marcus Richardt (Deutschland). Mit Katja Riemann, Nils Rovira-Muñoz, Elisa Schlott u.a. seit 18. April 2019 im Kino. Hier der Trailer:



Ulrikes Filmkritik:

In Japan ist es bereits ein Massenphänomen, genannt „Hikikomori“. Zahlreiche junge Leute verschanzen sich jahrelang in ihren Zimmern, um dem sozialen Druck zu entfliehen. Bereits Isabel Prahls Film "1000 ARTEN REGEN ZU BESCHREIBEN" hat sich diesem Phänomen gewidmet, doch Marcus Richardt wählt mit "GOLIATH96" einen anderen erzählerischen Ansatz.

Seit zwei Jahren haben der etwa 20-jährige David (Nils Rovira-Munoz) und seine Mutter (Katja Riemann) kein einziges Wort miteinander gesprochen. Verzweifelt versucht sie, durch die geschlossene Tür Kontakt mit ihm aufzunehmen. Genau so gut könnte sie Selbstgespräche führen. David verlässt sein Zimmer nur, wenn er absolut sicher ist, seiner Mutter nicht zu begegnen.

Das funktioniert nicht immer. Immer wiederkehrende Fragen nach ihrem Sohn, beantwortet sie lapidar mit dem Satz, dass er in Texas studiert. Auch sie hat sich schrittweise von der Außenwelt abgeschottet. Man sieht sie fast nur noch im Supermarkt, wo sie unter anderem stapelweise Pizzen einkauft und später die leeren Kartons wieder einsammelt. Alles ändert sich, als sie durch Zufall entdeckt, dass David unter dem Nickname „Goliath 96“ in einem Internetforum unterwegs ist.

Sie gibt sich den Namen „cinderella 97“ und beginnt mit ihm zu chatten. Dabei erfährt sie, dass seine Leidenschaft dem Drachensteigen gilt. In einem speziellen Geschäft informiert sie sich über alle Raffinessen, die damit zusammenhängen und wird so immer mehr zu einer Expertin. Im Laufe der Zeit entwickelt sich zwischen Mutter und Sohn eine Freundschaft, die Fragen Davids werden immer privater, er erzählt von seinen Ängsten und verliebt sich in die unbekannte Seelentrösterin. Als er ein Foto von ihr sehen will, wird es brenzlig. Jetzt ist der Moment gekommen, wo das Drama eine ungeheure Spannung entwickelt.

Eingeblendete Rückblenden zeigen die glücklichen Tage zwischen Mutter und dem kleinen Sohn am Meer. Man erfährt, dass der Vater sie verlassen hat und das er durch ihn zu einem Drachenexperten wurde.

Das Hauptaugenmerk in Marcus Richardts Erstlingsfilms liegt in der Entfremdung und dem sich langsam entwickelten Vertrauen zweier Menschen, die sich näher sind, als der eine von beiden mit unvorhergesehenen Folgen ahnt.

Berührend und gleichzeitig spannend wie ein Krimi.

Ulrike Schirm










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