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Fernsehpreis für einen Tatort-Krimi

Auszeichnung für ein Drehbuch und eine Regiearbeit in Babelsberg.



Im BAF-Blog vom 21. Juni hatten wir die Verleihung des mit je 7.500 Euro dotierten ver.di Filmpreises bereits angekündigt. Da die Veranstaltung spannender wurde als erwartet, lohnt eine zweite Berichterstattung.

Um es vorwegzunehmen, morgen Abend - Freitag, den 9. Juli 2010 wiederholt die ARD um 21:45 den mit dem Drehbuchpreis ausgezeichneten 90 Minuten langen "Tatort Kassensturz".

Auf einer Mülldeponie wird die Leiche von Boris Blaschke gefunden, der bis zu seinem Ableben Gebietsleiter bei der Discount-Kette Billy für Ludwigshafen war. Als Lena Odenthal und Mario Kopper in den dortigen Filialen die Ermittlungen aufnehmen, bekommen sie Einblick in eine Branche, in der extremer Druck auf die Angestellten ausgeübt wird. Immer höheres Arbeitstempo und unbezahlte Überstunden sind an der Tagesordnung, und selbst vor der Beobachtung der Angestellten durch eine Detektei schreckt ein Gebietsleiter wie Blaschke nicht zurück. Am Abend vor seinem Tod hatte er Gisela Dullenkopf, Beate Schütz und andere Frauen aus einer seiner Filialen bei einem Treffen am Feierabend aufgespürt, bei dem sie die Gründung eines Betriebsrats planen wollten. In dieser Atmosphäre des Misstrauens, der Kontrolle und der unterdrückten Wut finden Lena und Kopper etliche Mitarbeiter mit potenziellen Mordmotiven. Blaschkes Nachfolger Günter Novak, der offensichtlich wenig von seinem ehemaligen Kollegen hielt, versucht zu verhindern, dass Angestellte mit den Kommissaren kooperieren. Trotzdem finden die beiden Kommissare heraus, dass sich wenige Monate zuvor Gisela Dullenkopfs Sohn Jan, der ebenfalls bei Billy arbeitete, umgebracht hat. Nun rückt seine Mutter in den Fokus der Ermittlungen ...

Vier Jahre lang hatten die Autoren Stephan Falk und Lars Montag recherchiert und geschrieben. Grundlage waren die in der Presse bekannt gewordenen, skandalösen Praktiken der Discount Großmärkte, insbesondere die von Lidl und Schlecker. Unter teilweise menschunwürdigen Bedingungen werden die Angestellten drangsaliert. Trotz Arbeitszeitordnung werden immer wieder nicht genehmigte Überstunden angeordnet. Wer nicht pariert, muss mit Kündigung rechnen. Wenn im Film mit leeren Plastik-Pfandflaschen nach Mitarbeitern geworfen wird, so ist das noch harmlos. In der Realität greifen Vorgesetzte gern schon mal zu verdorbenem Obst. Dabei muss mann wissen, dass für die Reinigung der Arbeitskleidung das Personal selber aufkommen muss. Hinzu kommen Video-Überwachungen, die nicht nur am Arbeitsplatz z.B. an der Kasse Usus sind, sondern auch vor dem stillen Örtchen nicht haltmachen. Vor Kurzem konnte erst die vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gerade noch verhindern, dass Schlecker seine Mitarbeiter an eine externe Dienstleistungsgesellschaft auslagert, um die zuvor vereinbarten Flächenlöhne doch noch zu unterlaufen.

So gesehen zeigt der Krimi die Realität im Niedriglohnsektor recht genau auf. Ein Dokumentarspielfilm ohne effekthascherischen Mord wäre uns zwar lieber gewesen, um die Missstände noch mehr in den Vordergrund rücken zu können. Genau diesen Weg ging Connie Walther mit dem Fernsehfilm "Frau Böhm sagt nein" und erhielt dafür den ebenfalls mit 7.500 Euro dotierten Regiepreis. Leider wird der Film mit der wunderbaren Senta Berger als Frau Böhm in der Hauptrolle zurzeit nicht wiederholt. Er lief am 21. Oktober 2009 im Mittwochskino der ARD.

Auch in diesem Qualitätsfilm geht es um Großkonzerne und ihre Machenschaften. Vorlage für den Film war der Kauf des ehemaligen Mobilfunkanbieters Mannesmann, den die englische Vodafone Company in einer beispielslosen Übernahmeschlacht geschluckt hat. Dabei hatten sich die noch nicht vereidigten Vorstände eigenmächtig Geld in die Schuhe schieben wollen. Eine verantwortliche Sachbearbeiterin brachte mit ihrem "Nein" zur illegalen Geldanweisung eine Lawine polizeilicher Ermittlungen ins Rollen, an dessen Ende die Vorstandsvorsitzenden ihren Hut nehmen mussten. Um Spekulationen zu real existierenden Personen zu vermeiden, wurden wie üblich alle Namen geändert.

Bei der Verleihung wurde eines deutlich. Gute Filme und Qualitätsfernsehen sind machbar, aber leider auch nur auf Kosten von Überstunden. Während früher durchschnittlich 30 Drehtage angesetzt waren, sind es heute oft nur noch 21 Tage. Dabei soll die Qualität nicht leiden, sondern meist nochmals gesteigert werden. Gerade erfuhren wir, dass Roland Emmerichs Spielfilm "Anonymous", der soeben als Drama um den vermeintlichen Dichter Shakespeare in Babelsberg abgedreht wurde, ebenfalls nur unter enormen Zeitdruck entstanden ist. Aus zuverlässiger Quelle erfuhren wir, dass mindestens in einer Nacht sich Dutzende von Statisten - nach fast 18 Stunden Dienstzeit - weigerten, weiter zu arbeiten. Sie waren einfach zu erschöpft. Der Dreh soll nach endlosen Diskussionen spät in der Nacht, abgebrochen und vertagt worden sein. Meine Kollegin war danach erst um vier Uhr morgens wieder in Berlin zu Hause. Die Gewerkschaft ver.di will diesen Vorkommnissen auf den Grund gehen und plant eventuell diese deutliche Überschreitung der Arbeitszeit zum Zentralthema der nächsten Großveranstaltung auf der Berlinale 2011 zu machen.


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Kommentare

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Jen am :

Also ich war Komparse bei "Anonymous" und habe nicht davon bemerkt, dass sich irgendwer geweigert hat, weiterzudrehen. Und ich war immerhin bei einem Großteil der Dreharbeiten in Babelsberg dabei.

FilmFan (Chefredakteur) am :

Vielen Dank für die Info.

Wir haben unsere Kollegin nochmals befragt, die in der besagten Nacht des Abbruchs erst gegen vier Uhr Morgens wieder Zuhause in Berlin war: Angeblich wurde der Dreh nach endlosen Diskussionen abgebrochen und auf den nächsten Tag verschoben.

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