„Seit 60 Jahren werden mit dem Grimme-Preis herausragende und vorbildliche TV-Qualitätsproduktionen ausgezeichnet. Auch in diesem Jubiläumsjahr zeigen unsere Preisträger*innen, was das Fernsehen in seiner Vielfalt für unterschiedlichste Zielgruppen und auf diversen Plattformen leisten kann“, so Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach.
„Der Grimme-Preis bietet als unabhängiger Qualitätswettbewerb kontinuierlich Orientierung und liefert einen wesentlichen Beitrag in der deutschen Medienbranche, indem beispielhaften Produktionen in Form und Inhalt eine gebührende Bühne geboten wird.“
"Das Team von 'Haus Kummerveldt' ist einzigartig. Die meisten von uns sind seit Tag eins im Jahr 2018 dabei und haben sämtliche Schritte des Projekts miterlebt, jede und jeder konnte eigene Visionen einbringen. Anfangs hatten wir gar kein Geld, dann ein bisschen und schließlich wenig. Noch immer sind wir nicht beim Standard einer normalen Produktion angekommen, sondern im Low-Budget-Bereich unterwegs.
'Haus Kummerveldt' hat uns zusammengeschweißt, wir sind eine Filmfamilie geworden. Und obwohl dies unser Beruf ist, sieht niemand das Projekt als einen Job von vielen. Wir motivieren uns gegenseitig", so Lotte Ruf im Interview zur Nominierung.
"Mehr als dreißig Jahre nach der Wende ist mit diesem in allen Bereichen stimmig inszenierten Film ein neues Kapitel weit aufgeschlagen für Geschichten über deutsch-deutsche Identitäten unter neuen Vorzeichen. Mit Blick auf die aktuellen politischen Verhältnisse ist dies drängender denn je", so aus dem Urteil der Jury.
Der Dokumentarfilm "eröffnet eine neue Perspektive auf die musikalische Kultur türkischer Gastarbeiter*innen ... und richtet den Blick auf Themen wie Heimat, Identität und Partizipation".
“Im Wettbewerb abendfüllender Dokumentarfilm bereichern viele der jungen Regisseur*innen mit ihrer filmkünstlerischen Vielfalt und thematischen Tiefe das Genre. Sie zeigen ein rebellisches Aufbegehren wie auch das Hinterfragen gesellschaftlicher Normen und Normalitäten. Sensibel und aufmerksam beleuchten sie brisante Themen, außergewöhnliche Communities und Einzelschicksale, dokumentieren und befragen gesellschaftliche Realitäten, Formen von Gerechtigkeit, Lebens- und Sehnsuchtsräume bzw. deren Bedrohung. Das Privileg des Wohlstands und der Sicherheit gilt nicht für alle Menschen gleichermaßen. Darauf richten viele Filme ihr Augenmerk und führen uns dabei an nahe und unbekannte Orte anhand oftmals übersehener Geschichten“, so Regina Kräh und Sebastian Brose, Leiter*innen des Festivals.
Übrigens wurde die EARLY BIRD AKKREDITIERUNG bis zum heutigen Tag verlängert. Alle Filmschaffenden und Fachbesucher*innen, die sich zum Early Bird Tarif bis 17. März 2024 akkreditieren, erhalten kostenfreien Zugang zu allen Kinosälen während des Festivals, den Veranstaltungen der achtung berlin Branchentage, zur Preisverleihung im Babylon und vielem mehr.
Unsere Kurzkritik:
In ihrem Dokumentarfilm begleitet die Regisseurin Judith Beuth über einen Zeitraum von zehn Jahren das Liebespaar Maria und Christiane mit der Kamera.
Maria ist aufgrund eines Unfalls querschnittgelähmt und wird von der etwas älteren, aber erfahrenen Krankenschwester Christiane von Anfang an gepflegt. Aus der Abhängigkeit entsteht nicht nur eine emotionale Liebesbeziehung, sondern erwächst bald auch ein Kinderwunsch.
Eine Adoption wird verworfen. Es soll ein eigenes, gemeinsames Kind werden. Doch wer von den beiden Frauen soll die Vaterrolle übernehmen? Vor allem weil der Samenspender möglichst unbekannt bleiben soll. Darüber hinaus erwachsen quälend lange Diskussionen, wer das Kind austragen soll.
Die Ärzte lehnen eine Schwangerschaft von Maria ab. Zu risikoreich sei die Geburt bei der Schwerbehinderten. Zudem stellt das deutsche Gesundheitssystem ein paar weitere Hürden in den Weg, sodass die Beziehung der beiden unter Druck gerät.
Inzwischen scheint auch die biologische Uhr von Christiane abgelaufen zu sein, denn eine künstliche Befruchtung scheitert, obwohl der eigene Kinderwunsch unverändert bestehen bleibt...
W.F.
Elisabeths Filmkritik:
Franz Kafka lernt an der Ostsee die Erzieherin Dora Diamant kennen. Sie betreut eine Gruppe jüdischer Kinder. Er ist bei seiner Schwester zu Besuch. In einer Einstellung erzählt Kafka den Kindern eine Fabel, die nicht gut ausgeht. Es geht auch um den Tod. Man hält die Luft an. Aber: Die Kinder sind begeistert.
Sicherlich hat das Publikum die eine oder andere Kafka-Erzählung im Hinterkopf und auch seine Lebensgeschichte blitzt im Hinterkopf auf. Die Biografie, die der Regisseur Georg Maas ("Zwei Leben") und in Co-Regie die Kamerafrau Judith Kaufmann ("Räuberhände", "Das Lehrerzimmer") hier erzählen, ist eigentlich eine Universelle.
Franz Kafka, gespielt von Sabin Tambrea, und Dora Diamant, sie wird von Henriette Confurius dargestellt, lernen sich kennen und sie verlieben sich, ohne Umschweife. Der Fokus liegt dabei auf der Kraft der Liebe angesichts einer Zukunftslosigkeit des Lebens. Franz Kafka ist bereits todkrank. Er litt an Tuberkulose. Das hindert die Beiden nicht, aus der verbliebenen Zeit das Beste herauszuholen. Dabei ist "Die Herrlichkeit des Lebens" zwar mit berühmten Figuren bevölkert, aber die eigentliche Geschichte wirkt von den Persönlichkeiten losgelöst.
Vorlage für die Verfilmung ist der gleichnamige Roman von Michael Kumpfmüller von 2011, der diese Liebesbeziehung, die in der Kafka-Forschung kaum mehr als eine Randnotiz ist, anhand von Tagebüchern und Briefen ausgearbeitet hatte.
Was fällt einem bei dem Namen Kafka ein? Sicherlich nicht eine Liebesgeschichte, und genau diese Facette beleuchtet der Roman. Die Verfilmung haucht, auch mit einer stimmigen Besetzung, diesen Figuren Leben ein. Das Drehbuch-Autorenteam Michael Gutmann und Georg Maas streichen die Gegensätze heraus und geben diesem Lebensbejahenden Abschnitt einer Biografie, die man gemeinhin von der düsteren Seite wahrnimmt, einen Raum.
Er ist der Introvertierte, der linkisch und komplett unpassend gekleidet am Strand steht. Sie ist die fröhliche, patente Lebendigkeit. Zwischen ihnen liegen viele Jahre, er ist 40 und sie 25. Andererseits ist sie die Unabhängige und er bräuchte dringend eine Abnabelung. Nicht nur ihr Temperament, auch ihre Herkunft und ihre Lebenssituation könnten nicht unterschiedlicher sein.
Ein ähnlich großer Gegensatz herrscht zwischen der Luftigkeit und Helle an der Ostsee und der kalten Tristesse in der Hauptstadt. Berlin ist hier nur ein zugiges Zimmer mit misstrauischer Wirtin, einem Kohleofen und der Armut der Wirtschaftskrise rundum. Vom Berlin in den Jahren 1923 und 1924 erkennt man kaum etwas und auch die Zwänge und Selbstzweifel, denen Kafka, abseits seiner Erkrankung ausgesetzt ist, kommen etwas zu kurz. Er ist finanziell von seiner Familie abhängig, die diese Beziehung nicht gutheißt. Sie dagegen übt einen Beruf aus und steht mit beiden Beinen fest im Leben.
Was er an ihr fasziniert haben mag, kann man nachvollziehen. Was sie an ihm fand, der hier wahrlich nicht als Autor von Weltliteratur gezeichnet wird, ist schon schwieriger zu deuten. Das schwierige Verhältnis Kafkas zu seiner Familie wird nicht näher beleuchtet und auch die Beziehung zu seinem Freund Max Brod (Manuel Rubey), der sich über seinen letzten Wunsch, seine Texte zu vernichten, hinweggesetzt hatte, bleibt vage. "Die Herrlichkeit des Lebens", eine deutsch-österreichische Produktion, wirkt darum doch eher wie ein gut abgestimmtes Melodram für das Kafka-Jahr.
Elisabeth Nagy
Ulrikes Filmkritik:
Leila (Layla Mohmmadi) ist eine iranisch-amerikanische Filmemacherin in New York deren Lebenswandel ihrer Mutter Shireen (Niousha Noor) sehr missfällt. Leila lebt in der neuen Welt ihre Mutter in der alten. Das führt zu Spannungen.
Der Film beginnt mit einer LGBTQI-Halloweenparty von Hipstern in New York. Die Matriarchin des Familien-Clans, der aus einem herzkranken Ehemann, acht Söhnen und Leila besteht, duldet die sexuellen Beziehungen ihrer Tochter absolut nicht.
Wann immer Mutter und Tochter aufeinandertreffen gibt es Streit. Tochter Leila (Layla Mohammadi) vermeidet es nach Möglichkeit, die Mutter und ihre acht Brüder zu sehen. Erst als ihre Großmutter Mamanjoon (Bella Warda) ihr so Einiges aus dem Leben der Vergangenheit im Iran erzählt, kann Leila die Mutter besser verstehen.
Ihre Eltern gingen in die USA, weil man während des Vietnamkrieges Ärzte brauchte.
Erst als der Vater ein neues Herz bekommt reist Leila nach New Jersey, wird aber von Shireen aus dem Krankenhaus verbannt mit der Begründung, sie solle sich zu Hause um die Großmutter kümmern. Die Geschichte der Großmutter ist mehr als traurig. Mit 13 hat sie geheiratet, ein Kind nach dem anderen bekommen, ihr Becken war viel zu eng, eine Tochter wurde tot geboren.
Leila beginnt ein Script über ihre Mutter zu schreiben in dem sie über die Vergangenheit schreibt, während die Gegenwart mit Hochzeit, Krankenhaus und ungewollter Schwangerschaft gefüllt ist, aber auch mit Entertainment und Partys à la Bollywood.
„The Persion Version“ erzählt die Geschichte von starken Frauen, die sich aus dem Korsett von patriarchalischer und religiöser Unterdrückung befreien und das mit knallbuntem Humor und Energie, im Genre einer Komödie.
Regisseurin Maryam Keshavarz erhielt für die turbulente Familiengeschichte den Publikumspreis des renommierten Sundance- Film-Festivals 2023.
Ulrike Schirm
Elisabeths Filmkritik:
Eine Anekdote: Noel Gallagher kommt nach Hause und seine Tochter fragt ihn, wo er denn gewesen wäre. Er wäre auf einem Meeting gewesen, antwortete er. Auf was für ein Meeting müsse er denn gehen, fragte die Tochter. Es wäre um ein Cover gegangen. Was ist denn ein Cover?
Wie erklärt man einem Kind in der heutigen Zeit, was ein Cover ist? Das kleine Bild auf deinem Telefon, sagte er also. Ach und für so etwas gibt es Meetings? Um es gleich vorwegzunehmen: Noel Gallagher ist zwar Teil der Runde, die in "Squaring the Circle" interviewt werden und die dann hauptsächlich Anekdoten erzählen. Aber eigentlich ist er gar nicht Teil der Geschichte.
Es bleibt Anton Corbijns Geheimnis, warum ein Spätgeborener in der illustren Runde von Altstars wie Jimmy Page, Roger Waters, Paul McCartney und so weiter, alles Kunden bzw. Auftraggeber der Grafik-Design-Firma »Hipgnosis«, dabei sein darf. Oasis, die Band, die Noel Gallagher berühmt machte, wurde erst 1991 gegründet. »Hipgnosis« war ein Kind der 60er und war Mitte der 80er bereits Schnee von gestern. Die Musikszene erfindet sich schließlich immer wieder neu.
Bei dem G in »Hipgnosis« handelt es sich nicht um einen Tippfehler. Das Wort setzt sich aus Hip und Gnosis zusammen. Einmal kurz nachschlagen, Gnosis heißt Wissen. Wie »Hipgnosis« zu seinem Namen gekommen ist, wird natürlich erzählt. Ich möchte aber nicht alles vorwegnehmen. Wobei "Squaring the Circle" wahrscheinlich gerade das Publikum anspricht, das deren Output kennt. Dazu gehört sicherlich auch Anton Corbijn, der ja nicht nur Photograph ist, sondern selbst Bands photographiert hat und somit Plattencover verantwortet. Zum Beispiel von der Band U2.
Fangen wir anders an. Was für eine Musik vermutet man, wenn auf dem Cover eine Kuh steht? Und sonst nichts. Ehrlich gesagt, kann man das gar nicht beantworten, denn die Nachgeborenen denken gleich an Pink Floyd. Damals muss der Einfall, eine Kuh auf den Plattenumschlag zu setzen ungleich erschütternder gewesen sein. Die Kuh auf dem Album "Atom Heart Mother" (1970) war auch eher ein Non-Cover. Es gab keinen Bezug zu der Musik. Pink Floyd wollte jedoch ein Artwork, dass sie aus der psychedelischen Ecke herausholte. »Hipgnosis« spielte mit Collagen, mit Doppelbelichtungen, mit chemischen Prozessen. Zu ihren Einflüssen zählten die surrealistischen Künstler.
Damals, dieses ominöse Damals, waren Plattencover geradezu Kunst. Man hielt das Cover noch in den Händen, während die Platte sich drehte. Über die Verbindung von dem Bild mit der sich die Band und der oder die Interpreten sich präsentierten, gab es einen Zusammenhang oder auch nicht.
Im Vordergrund stand stets die Idee, die dem Publikum vermittelt wird. Anton Corbijn, der seit seinem Film über Ian Curtis von Joy Division ("Control", 2007) auch im Regie-Fach anerkannt wird, lässt nicht nur die allseits bekannten Musiker zu Wort kommen. Wie gesagt: Roger Waters, Paul McCartney, Robert Plant, Peter Gabriel, sondern er holt auch die Leute vom Fach vor die Kamera. Photographen, Photographinnen, Art-Designer, Graphik-Designer und so weiter.
Allen voran Aubrey Powell, die eine Hälfte von »Hipgnosis«. Er und Storm Thorgerson hatten die Firma auf die Beine gestellt. Storm Thorgerson, der mehr für die Vision und Integrität verantwortlich war, ist bereits verstorben. Die Beiden gingen damals, Mitte der 80er, nicht im Guten auseinander, aber Corbijn war der künstlerische Output und die Bedeutung von Plattencovern allgemein wichtiger, als etwas aufzuarbeiten, an dem eh nur noch einer der Beteiligten etwas dazu sagen kann.
Vielleicht fehlt etwas die Einordnung der Bedeutung von Plattencovern im Hier und Heute. Vielleicht ist "Squaring the Circle", der Zusatz "Die Geschichte von Hipgnosis" fehlt in der deutschen Auswertung, auch etwas zu zahm. Die Anekdoten, soweit man sie nicht kennt, machen das aber über die moderate Filmlänge wieder wett und die offene, ehrliche Art von Aubrey Powell ist erfrischend.
Corbijn arbeitete viel mit Archivmaterial. Nicht alles an Aufnahmen war nach heutigem Standard ausreichend. Corbijn behalf sich. Er hält seine Dokumentation weitgehend in Schwarz-Weiß. Er behält aber die Plattencover in Farbe. Ein Effekt, der genau das hervorhebt, worauf es ihm ankommt. Eine Bewunderung für die Zeit, die »Hipgnosis« ermöglichte und die deren Kunst um der Kunst und der Freude daran aufleben lässt, ist sicherlich spürbar. Corbijn hält sich aber zurück. Der Umbruch in den 80ern mit Einsätzen der Synthiepop-Bands wie Depeche Mode wird noch mit eingeflochten. Eine Anekdote, dass damit auch Cobijns Zeit als Photograph von Depeche Mode anbrach, muss noch erzählt werden.
Elisabeth Nagy
Synopsis:
Milchzähne ist nicht einfach eine merkwürdige Geschichte über ein fremdes Kind, sondern ein Mysterythriller nach dem gleichnamigen Roman von Helene Bukowski, über eine merkwürdige Dorfgemeinschaft, bei der Aberglaube und Misstrauen vorherrschen. Diese Menschen hausen in einer nicht allzu fernen Zukunft irgendwo im Wald und schirmen sich ab, um alleine zu bleiben, autonom und unbelastet von Außen.
"Insgesamt ein sehr kreativer, filmisch herausfordernder Wettbewerb“, so Regina Kräh und Sebastian Brose, Leiter*innen des achtung berlin Filmfestival zum diesjährigen Spielfilm-Wettbewerb.
Elisabeths Filmkritik:
Irgendwo in den Bergen. Hier ist eine Seilbahn Dreh- und Angelpunkt für Begegnung, Verbindung und die Liebe. Zwei Gondeln fahren stetig hoch und runter zwischen einem Dorf oben in den Bergen und einem Dorf unten im Tal. Als der alte Seilbahnschaffner stirbt, trägt diese auch seinen Sarg hinunter in die Tiefe. Seine Tochter, die aus der Fremde zurückkehrt, übernimmt, aber da es nun einmal zwei Gondeln sind, braucht es noch einen zweiten Mitarbeiter oder eine zweite Mitarbeiterin. Die Entscheidung fällt für die Person, der die Uniform passt. Und so lernt das Publikum Iva (Mathilde Irrmann) und Nino (Nini Soselia) kennen, zwei junge Frauen, die fortan die Gondeln betätigen werden. "Gondola" von dem deutschen Regisseur Veit Helmer ist ein Kino-Märchen, zeitlos und verspielt. Humorvoll und aufmüpfig.
Viele Regisseure und Regisseurinnen haben eine unverkennbare Handschrift. So auch Veit Helmer. Schon in seinem ersten Kurzfilm. In "Surprise" (1995) erzählte er seine Geschichten ohne Dialoge. Sein erster Langspielfilm, "Tuvalu" (1999) spielte in einem verfallenen Schwimmbad. Anton, der Bademeister und Martha, die Kassiererin, verwenden allerlei Tricks, um Antons blindem Vater den Eindruck zu vermitteln, das Schwimmbad wäre voller tobender Kinder. Eine Eifersuchtsgeschichte und eine Liebesgeschichte gibt es natürlich auch. Schon damals war für Veit Helmer ein Film mit Dialogen zu wenig Kino.
Eine Erzählung ohne Dialoge erfordere auch vom Publikum viel mehr Aufmerksamkeit, das war und ist sein Motto und er versucht stets, alle im Kinosaal mitzunehmen. Ohne Dialoge standen und stehen ihm auch alle Schauspieler und Schauspielerinnen zur Verfügung, ungeachtet ihrer Nationalität und ihrer Sprachkünste. Schon in "Tuvalu" wählte Helmer einen internationalen Cast. Er besetzte einen Franzosen, eine Rumänin und eine Tatarin. Die Möglichkeiten waren grenzenlos. Aber Helmer zog es doch immer wieder in den Osten. Die Drehorte von "Tuvalu" fand er damals in Bulgarien. Nach "Absurdistan" (2008), den er in Aserbaidschan, oder nach "Baikonur" (2011), den er in Kasachstan drehte, folgt jetzt "Gondola", dessen Drehort, unschwer erkennbar durch die Hausaufschriften, in Georgien gedreht worden ist.
Hier fand Veit Helmer tatsächlich eine Seilbahn, die ihn zu einer Geschichte über zwei Frauen, die sich immer nur begegnen, wenn ihre Gondoln sich auf gleicher Höhe treffen, inspirierte. All die Einfälle, auf die die Beiden kommen, um die Aufmerksamkeit des jeweils anderen zu erlangen, möchte ich gar nicht aufzählen. Sicherlich ist die Form hier für den Spielfilm prägend und die Form bestimmt den Inhalt. Viel passiert da gar nicht. Veit Helmers Liebe zum "Analogen" im Gegensatz zu dem "Digitalen", den man allgemein den Fortschritt zuschreibt, ermöglicht hier die kurze Begegnung. In einer Moderne, in der Seilbahnen viel schneller fahren würden, würde eine Begegnung, und sei sie noch so kurz, gar nicht stattfinden können.
Zudem es gibt noch den Seilbahnaufseher (Zviad Papuashvili), der die Gondeln in Betrieb hält, und der ist gar nicht erfreut, dass die zwei jungen Schaffnerinnen ihn so schnöde ignorieren. Ganz der Platzhirsch, versucht er es mit den tradiierten Mitteln, um dann ganz wütend auch mal das Spiel der beiden Frauen zu sabotieren. Da Veit Helmer gerne Liebesgeschichten erzählt, die sich aus ihrer Unschuld heraus entwickeln, fügt er der Geschichte noch zwei Kinder hinzu. Ein Junge sucht die Aufmerksamkeit eines gleichaltrigen Mädchens, die ihn erst einmal abweist. Aber auch hier geht es mehr um das Wie, als um das Warum. Helmer bleibt sich treu, auch wenn manche ihm vorwerfen mögen, sich nicht weiterzuentwickeln.
Veit Helmer glaubt mit unbändiger Kraft an diese Magie, die wir Kino nennen, und die sich auch nur dort entfalten kann. Er ist ein Träumer, für den das Stummfilmkino und der Slapstick der frühen Kinojahre die Welt bedeuten. Der magische Raum der engen Gondel weiß er mit Einfällen zu öffnen, die nicht nur der Phantasie Raum geben, sondern die Figuren auch nie in Passiviität erstarren lassen. Helmers Figuren in "Gondola" sind klug und geschickt und gewitzt. Sie tauschen sich nicht nur in Blicken und Gesten aus, sondern sie hämmern und schweißen und man könnte denken, die Gondoln lösen sich von den Seilen und gleiten über die Berge hinweg, so wie sich Iva und Nino das erträumen, aber dann ist es nur die angeregte Phantasie, die hier auf teils absurde Einfälle reagiert. "Gondola" will das Kino gar nicht ändern, nur einen Raum zum Träumen schaffen.
Elisabeth Nagy
Ulrikes Filmkritik:
Die französische Regisseurin und Autorin Laetitia Colombani hat mit ihrem gleichnamigen Roman "Der Zopf" einen Bestseller geschrieben, den sie auch verfilmt hat. Er handelt von drei Frauen, deren Leben nicht nur miteinander verbunden ist, sondern einen Wirtschaftskrimi par Excellence widerspiegelt.
In Indien träumt Smita (Mia Maelzer), die zur Kaste der „Unberührbaren“ gehört, von einer besseren Zukunft für ihre Tochter. Die Unberührbaren dürfen nicht zur Schule gehen, denn Kinder von armen Familien werden wieder zurückgeschickt. Sie müssen sogar mit einem Besen ihre Spuren verwischen, damit andere nicht von ihrem Dreck angesteckt werden.
In Italien hatte Giulias (Fotinì Peluso) Vater, von dem sie sich gerade noch fröhlich verabschiedet hat, einen Unfall und liegt auf der Intensivstation. Nun muss sie sich um die verschuldete Perückenwerkstatt kümmern und alles tun, um diese zu retten.
In Kanada erfährt eine ehrgeizige, aufstrebende Anwältin Sarah (Kim Raver), dass sie an Krebs erkrankt ist und durch die Chemotherapie ihr Haar verlieren wird.
Der Titel "Der Zopf" steht für drei miteinander verwobene Frauenschicksale, deren oberstes Gebot ist, sich bloß nicht unterkriegen zu lassen und den Kampf aufzunehmen. Zugleich wird aber unterschwellig deutlich, wie Wirtschaft durch weltweite Ausbeutung funktioniert und alles miteinander zusammenhängt.
Smita muss gegen ein unmenschliches System aufbegehren, dass ihrer Tochter und ihrer Familie Bildung und berufliches Fortkommen verwehrt und macht sich mit ihrer kleinen Tochter auf einen Ortswechsel auf, wo es die „Unberührbaren besser haben. Tagelang sind sie unterwegs, bisher musste sie die Fäkalien ihrer Nachbarn entsorgen.
Giulia muss sich gegen konservative, katholische Wertevorstellungen in der italienischen Community wehren und muss Insolvenz anmelden, wenn die Schulden nicht bezahlt werden.
Die alleinerziehende Sarah muss mit ihrer Krebskrankheit umgehen, berufliche Abstriche machen und sich überlegen, was ihr wichtiger ist. Ihre Karriere oder ihre Kinder. Ihrer Firma tischt sie Lügen auf, dass sie ihren Vater pflegen muss, obwohl sie selbst fast zum Pflegefall wird. Wenigstens hat sie genügend Geld, um sich eine Echthaarperücke zu leisten, wie sie die italienische Firma von Giuilias Vater herstellt.
Obwohl die drei Frauen kilometerweit auseinander sind, kämpfen sie mit ähnlichen Problemen. Der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Locations und Kulturen sorgt einerseits für Spannung, anderer verdeutlicht er auch die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen.
Laetitia Colombanis Film ist mehr als nur eine Hommage an die Frauen. (Passend zum 8. März, der zum Frauenfeiertag ernannt wurde.)
Ulrike Schirm
Ulrikes Filmkritik:
„Sultanas Traum“ ist ein spanischer Zeichentrickfilm, der auf einer 1905 veröffentlichten Science-Fiction-Kurzgeschichte der bengalischen Schriftstellerin und Aktivistin Rokeya Hussein basiert, die später eine Berufsschule für Muslima gründete.
Der Animationsfilm folgt einer Künstlerin Sultana auf ihrer Suche nach einem utopischen Land, in dem Frauen frei von Unterdrückung leben können, einem Ladyland, in dem es keine Männer gibt.
Sultana findet sich in einer Welt wieder in der die Frauen keine Schleier mehr tragen müssen und von Männern beherrscht werden und in der die Männer zum Wohlergehen der Frauen verstoßen wurden. Die Frauen kommen gut alleine zurecht und können sich in Freiheit behaupten, alle öffentlichen Ämter bekleiden und angstfrei leben, während die Männer den häuslichen Bereich nicht verlassen dürfen. In Ladyland sind die Männer out.
Es lebt sich wie im Paradies, keine Kriege, keine Kriminalität. Frauen lenken den Staat und die Wissenschaft.
Die Autorin der Buchvorlage musste selber eine Purdah tragen, eine bengalische Burka. Sie träumt von einer Welt, in der die Menschen mit der Natur in Einklang leben. Sie ahnte schon damals, was für miserablen Techniken sich in der Welt etablieren werden. Das ist filmisch wunderschön umgesetzt, in einem künstlerisch, abwechslungsreichen und fantasievollen Zeichnungsstil, hinter dem eine reale Leidenschaft steckt. Träume haben die Macht, Dinge zu verändern.
Ein visueller Traum, aufgeteilt in drei parallele Geschichten über die Künstlerin:
1.) One and a thousand of silences.
2.) Meine Schritte zurück verfolgen.
3.) Eine Blume im Winter.
„Sultanas Traum“ ist nicht nur für Indien anzuwenden, sondern universell.
Ulrike Schirm
• zum neuen Festival Centre
• zum Animated Video Market (auf Anfrage): Mediathek mit allen Festivalfilmen
• zur Meet Up Area auf dem Open Air
• zur Konferenz der Animation Production Days
• zu allen Wettbewerbsfilmen, Special Programmes & Insights
• zu allen Events wie Eröffnungsgala und Preisverleihung (mit vorheriger Anmeldung)
• zu einer exklusiven LinkedIn-Gruppe zum digitalen Vernetzen
Die Politik und die Berlinale, ein Resümee von Regina Roland, zweiter Teil.
Die Berlinale ist ein politisches Filmfestival, das wird immer wieder betont, und das ist gut so! Filmfestivals sind Foren des Austauschs und der Diskussion. Doch dieses Jahr war das Festival überschattet von politischen Auseinandersetzungen, die zu einem medialen Orkan zu werden drohten.
Schon die Eröffnungsgala war beeinträchtigt von einer Debatte über die Ein-und Wiederausladung von AFD-Politikern.
Da die Berlinale als multikulturelles Festival auch Filme aus dem Nahen Osten im Programm hatte, wurden Demonstrationen und Tumulte befürchtet, nicht umsonst hatte die Leitung umsichtig ein rollendes „Tiny Haus“ am Potsdamer Platz eingerichtet, einen Ort, an dem ein israelischer und ein palästinensischer Moderator dazu einluden, über die politischen Konflikte und Meinungen zu diskutieren. Erfreulicherweise blieb die Stimmung friedlich. Die Gala zur Preisverleihung löste dann jedoch einen Sturm der Empörung in der Öffentlichkeit aus. Warum, was war geschehen?
Bei der Preisverleihung bekam der Film "NO OTHER LAND" den silbernen Bären als bester Dokumentarfilm. Das gemeinsame Werk des israelischen Filmemachers und Journalisten Yuval Abraham und seines palästinensischen Kollegen Basel Adra zeigt die gewaltsame Vertreibung von Palästinensern durch das israelische Militär im Westjordanland - ein eindrücklicher, wichtiger Film. In ihrer Dankesrede forderten die Regisseure einen Waffenstillstand in Gaza und äußerten ihre Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung.
Basel Adra bezog sich in seiner Dankesrede auf den aktuellen bewaffneten Konflikt im Gazastreifen:
„Es ist für mich sehr schwer zu feiern, wenn Zehntausende meines Volkes in Gaza gerade durch Israel abgeschlachtet werden“. Sein israelischer Kollege Yuval Abraham sprach von „Apartheid im Westjordanland“.
Es folgten pro-palästinensische Bekundungen von dem französisch-amerikanischen Regieduo Guillaume Cailleau und Ben Russel, die für ihre Dokumentation "DIRECT ACTION" (über eine der bekanntesten Aktivist*innengruppen Frankreichs), den Preis für den besten Film in der Reihe Encounters gewonnen hatten. Und auch Mati Diop, die Gewinnerin des goldenen Bären für "DAHOMEY", bekannte sich zur Solidarität mit Palästina.
Aus dem Publikum gab es lauten Applaus und später in den Medien heftige Kritik mit dem Vorwurf des Antisemitismus.
Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek sorgte jedoch gleich am Anfang des Abends in ihrer Eingangsrede für eine politische Einordnung. Rissenbeek verurteilte ausdrücklich die mörderische Attacke der Hamas vom 7. Oktober 2024 und forderte die Freilassung der Geiseln, gleichzeitig erinnerte sie an das Leid aller Opfer der Gewalt in Israel und in Gaza. Ein ausgewogenes Statement, das eine klare Haltung bekundet.
Die Debatten zum Vorwurf des Antisemitismus auf Social-Media und in der Presse schäumten.
So war von einem „menschenverachtenden Applaus“ die Rede, von der „Aberkennung von Preisen“ von „Islamisten importiertem Antisemitismus, der hier zu sehen gewesen sei“.
Die Berlinale äußerte sich sowohl zu der Verbreitung antisemitischer Posts auf dem Instagram Kanal der Berlinale Sektion »Panorama«, die sofort gelöscht wurden, als auch zu den Äußerungen der Preisträger*innen:
“Die teils einseitigen und aktivistischen Äußerungen von Preisträgerinnen waren Ausdruck individueller, persönlicher Meinungen. Sie geben in keiner Form die Haltung des Festivals wieder“, betonte die Berlinale.
Das war wichtig, denn die emotionalen Dankesbekundung der genannten Preisträger für die palästinensische Sache waren problematisch, da mit keinem Wort das Leid der israelischen Geiseln durch die Hamas und die Forderung der Freilassung der Geiseln miteinbezogen wurde.
Der scheidende Berlinale Chef Carlo Chatrian warnte aber auch davor, Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen.
„Unabhängig von unseren eigenen politischen Ansichten und Überzeugungen sollten wir alle bedenken, dass die Meinungsfreiheit ein entscheidender Teil davon ist, was Demokratie ausmacht“, schrieb er vor einigen Tagen auf Instagram.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat eine Sondersitzung des Aufsichtsrats einberufen. Dort sollen Fragen diskutiert werden wie:
„Welche Filme werden ausgewählt, und wie werden die Jurys besetzt“. Im Interview mit dem Magazin Spiegel bekundet sie aber auch: “Der so notwendige Kampf gegen Antisemitismus darf nicht dazu führen, dass der Staat in eine Rolle kommt, zu sagen, welche Kunst und Kultur sein darf und welche nicht … Und ich glaube auch, dass es wichtig ist, zwischen einem Künstler und seinem Schaffen und einem Künstler und seinen politischen Äußerungen zu unterscheiden“.
Was ist geblieben? Nach Debatten, Kontroversen, der Aufregung in den Medien?
Die Dankesreden der Preisträger pauschal als Hetze zu verunglimpfen, ist zu einfach. Es wäre aber unbedingt nötig gewesen, dass eine Moderation nach den einseitigen, pro-palästinensischen Dankeskommentaren korrigierend eingegriffen hätte.
Der Vorwurf, die deutschen Kulturschaffenden hätten bei den israelkritischen Reden der Preisträger tosend applaudiert, ist fragwürdig. Vielleicht sollte man sich vergegenwärtigen, dass es nicht nur der deutsche Kulturbetrieb war, der Applaus gespendet hat, sondern Filmschaffende aus ganz Europa im Publikum saßen. In ihren Ländern wird zum Teil deutlich anders auf den Krieg im Gaza geschaut als in Deutschland.
Fazit: Spontane Dankesreden auf der Bühne der Berlinale sollten auch in Zukunft weiter möglich sein. Denn, wo stehen wir sonst? Wenn Dankesreden im Vorab politisch zensiert werden und ein Dialog auf der Bühne nicht mehr entstehen kann, weil kontroverse Meinungen und Widerspruch nicht mehr geduldet werden? Wo bleiben dann die Freiheit der Kunst, die Vielfalt der Meinungen, die Demokratie?
Maron Mendel, Publizist, Historiker und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank fasst die kontroverse Debatte in einem Interview mit der dpa treffend zusammen:
„Es wäre falsch, alle diejenigen, die Israel einseitig und mit zum Teil auch radikalen Positionen kritisieren, als Antisemiten zu bezeichnen. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen lernen, solche Debatten auszuhalten.“
Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)
HINWEIS:
Wir stellen diese zuletzt hier oben angegebenen beiden Links zur Diskussion, ohne uns damit vollumfänglich selbst zu identifizieren. Sie sollen Denkanstöße bieten, um den aufgebauschten Eklat auf der Berlinale wieder in ruhige Fahrwasser zu lenken.
W.F.
Berlinale Resümee
Und wieder gewinnt ein Dokumentarfilm den wichtigsten Preis der Berlinale, den goldenen Bären. Wie kam es zu dieser Entscheidung, gab es keine adäquaten Fictionfilme, die diesen Preis verdient hätten? War die Auswahl der 20 Filme, die im Wettbewerb um den goldenen Bären konkurrierten, so mittelmäßig?
Es war ein durchmischtes, aber auch durchaus interessantes Jahr im Wettbewerb. Neben einigen bekannten Namen der europäischen A- Festivals wie Oliver Assayes, Hong Sang-soo, Abderrahmane Sissako und Andreas Dresen gab es viele Regisseure, die ihren zweiten oder dritten Film präsentierten. Doch das große Highlight war auch in diesem Jahr nicht auszumachen. Die Grenzen der Filmpositionierungen zwischen dem Wettbewerb, der Reihe Encounters und der Sektion Panorama waren nicht immer nachvollziehbar. Die Sektion »Encounters« ist eine Erfindung von Carlo Chatrian, er wollte eine Plattform schaffen „für ästhetisch und strukturell wagemutige Arbeiten von unabhängigen Filmschaffenden“. Ob die Reihe unter der neuen zukünftigen Festivalchefin Tricia Tuttle bestehen bleibt, ist fraglich.
Der goldene Bär der 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin ging also zum zweiten Mal in Folge (nach dem Hauptpreis für Nicolas Philiberts Dokumentarfilm "AUF DER ADAMENT" im letzten Jahr) an eine Dokumentation: "DAHOMEY", ein Film der französisch- senegalesischen Filmemacherin Mati Diop. Zweifellos ein wichtiger Film mit einem aktuellen Thema, das seit Jahren in der Diskussion steht: Raubkunst aus Afrika und ihre überfällige Rückgabe.
Mati Diop schildert den Weg von 26 geraubten Objekten aus dem ehemaligen Königreich Dahomey zurück in ihr Heimatland Benin. 2021 gab Frankreich die Kunstobjekte an das Land zurück. Insgesamt wurden vor rund 130 Jahren ca. 7000 Kunstwerke gestohlen, die meisten befinden sich bis heute in Frankreich.
Diop begleitet die Reise der Kunstwerke, zeigt die Verpackung in Frankreich, den Transport, die Ankunft am Flughafen in Benin, Begrüßungskomitees, die Reaktion der Menschen.
Im Film hat die geraubte Statue des Königs Gezo eine eigene Stimme im Off - dieser Regieeinfall Diops verleiht der Doku eine poetische Komponente. So sinniert Gezo über die Verlorenheit und über das Fremdsein: In Paris aber auch in Benin!
In einer von der Regisseurin inszenierten Diskussion im Film streiten überwiegend junge Menschen in Benin darüber, welche Rolle die Rückgabe der Raubkunst für die kulturelle Identität des Landes heute spielt. So werden auch die aktuellen Probleme des jungen Benin, die Armut und der Bildungsnotstand deutlich. 67 Minuten ist der Film lang und damit das kürzeste Werk, das jemals den goldenen Bären bekommen hat. Eine kluge Analyse über Raubkunst, ihre Folgen und die immense Aufgabe ihrer Rückführung. Aber ein goldener Bär, also der herausragendste Film des Wettbewerbs?
Doch es gab auch Juryentscheidungen, die ich gut nachvollziehen kann.
So wurde der zweitwichtigste Preis, der silberne Bär der großen Jury an den koreanischen Regisseur Hong Sang-soo verliehen. Sang-soo ist quasi Stammgast auf der Berlinale und hat mit seinen Filmen schon mehrere Preise gewonnen. Der große, stille Bildermacher und Beobachter des koreanischen Kinos hat mich auch mit seinem neuen Werk überzeugt.
Es ist seine dritte Zusammenarbeit mit Schauspielerin Isabelle Huppert. Mädchenhaft und doch nicht mehr jung, spielt sie eine Französin, die meistens allein durch Seoul streift. Die Vergangenheit dieser Figur bleibt verborgen, wir beobachten sie im Hier und Jetzt - wie sie im Park sitzt und Blockflöte spielt, wie sie auf einem Felsen liegt, durch das Wasser watet und wie sie in ihrer sehr eigenen Methode Koreanerinnen Französisch-Unterricht gibt.
Vieles an dieser Frau bleibt rätselhaft. Isabelle Huppert sagte auf der Pressekonferenz, der Film sei ein philosophisches Statement über das Leben:
„…was es heißt am Leben zu sein, ein Mensch zu sein, allein zu sein und was es heißt, gemeinsam mit anderen zu sein.“
Ein, leiser und poetischer Film, der vom Leben, dem unaufhaltsamen Altern und von Einsamkeit erzählt, mit einer immer wieder faszinierenden Hauptdarstellerin.
Der silberne Bär ging an "L' EMPIRE" von Bruno Dumonts, einer der umstrittensten Filme des Festivals. Ein intergalaktisches Abenteuer, diesmal nicht angesiedelt in fernen Welten, sondern in einem nord-französischen Fischerdorf in der Normandie. Gut gegen Böse, Außerirdische schlüpfen in die Körper junger Menschen und kämpfen um die Herrschaft auf der Erde. Raumschiffe in Gestalt von Kathedralen, geistern über die Leinwand, ein Kleinkind ist die Verkörperung des Bösen. Was eine Parodie auf Science-Fiction-Filme wie "STAR WARS" werden sollte, entpuppt sich als unsinnig, sexistisch, dramaturgisch schwach und visuell aufgeblasen.
Irritierend und gleichzeitig erstaunlich ist "PEPE". Regisseur Nelson Carlos de los Santos Arias aus der dominikanischen Republik bekam den Preis für die beste Regie.
Der Film erzählt aus der Perspektive eines Nilpferds von seiner Verschleppung aus seiner Heimat Ostafrika nach Kolumbien, organisiert vom Drogenbaron Pablo Escobar für seinen Privatzoo, soweit die verbürgten Fakten. Es folgt eine wilde Kollage aus TV-und Archivausschnitten, Filmaufnahmen, Cartoontakes und Neudrehs in Afrika und in Lateinamerika. Pepe, als Stellvertreter all derer, die Opfer der Kolonialisierung und ihrer Folgen waren und sind, erzählt uns in Afrikaans, Spanisch und Mbukushu seine Geschichte. Formal ziemlich gewagt, ein wenig durchgeknallt, so dachte ich anfangs, dann beschäftigte mich dieser Hybridfilm noch viele Stunden. Santos Arias zeigt mit seinem Werk ungewohnte, aber überraschende Perspektiven des Kinos auf.
Der Preis für das beste Drehbuch scheint mir passend für den Film "STERBEN" von Matthias Glasner. Vor 12 Jahren war er mit seinem Werk "GNADE" im Wettbewerb. "STERBEN" ist ein Ensemblefilm mit deutscher Schauspielprominenz: Corinna Harfouch, Lars Eidinger und Lilith Stangenberg. Es ist Glasners bisher persönlichster Film. Er verarbeitet in dem Werk die schwierige Beziehung zu seiner Familie, den Tod seiner Eltern und zeichnet in 5 Kapiteln ein beängstigendes, knallhartes, aber in Teilen auch humorvolles Bild einer dysfunktionalen Familie. Kompromisslos und in gewohnter Intensität lotet Glasner (wie schon in GNADE) die Untiefen des Lebens aus.
Eine rätselhafte Juryentscheidung war der genderneutrale Darstellerpreis. Er ging an den rumänisch-amerikanischen Schauspieler und Marvel-Star Sebastian Stan. In dem Film "A DIFFERRENT MAN" von Aaron Schimberg ist sein Gesicht lange Zeit unter einer dicken Maske verborgen. Zudem gab es unter den weiblichen Schauspielerinnen vielversprechende Anwärterinnen wie Liv Lisa Fries als Hilde Kopi in Andreas Dresens Film "IN LIEBE, HILDE" oder Anja Plaschg im österreichischen Historiendrama "DES TEUFELS BAD" als depressive, junge Frau der Unterschicht im 18. Jahrhhundert.
Neben den Ausgezeichneten gab es Werke, die auffielen, auf Preise hoffen ließen und von der Wettbewerbs-Jury ignoriert wurden. So der iranische Film "MY FAVORITE CAKE" des Regie Duos Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, die schon 2021 mit ihrem mutigen Politdrama "DIE BALLADE VON DER WIEISSEN KUH" große Anerkennung ernteten.
Ihr neuer Film hätte einen der großen Preise verdient, meiner Meinung nach auch den Goldenen Bären. Eine Komödie über eine 70-jährige Frau im Iran, die sich über alle politischen und moralischen Grenzen hinwegsetzt. Im Alter entdeckt sie noch einmal die Liebe und das Leben, lernt einem Mann kennen, den sie anspricht! Und dann in ihr Haus einlädt!
Ein Film der sich mutig über die Tabus und Verbote des autoritären Gottes- Staates Iran hinwegsetzt, angefangen bei dem fehlenden Kopftuch bis zu kritischen Äußerungen gegen das Mullah Regime und die Sittenpolizei.
Das Regieduo dürfte nicht nach Berlin kommen - sie erhielten keine Ausreisegenehmigung aus dem Iran. Vertreten wurden sie von den beiden Hauptdarstellern Lily Fahrradtour und Esmail Mehrabi. Immerhin bekam der Film, der nicht nur über Liebe im Alter, sondern auch über Mut, Zivilcourage und Widerstand erzählt, den Preis der ökumenischen Jury.
Ein weiterer Film, der von der internationalen Jury nicht gewürdigt wurde ist "BLACK TEA" des mauretanischen Regisseurs Abderrahmane Sissako. Es ist die transkulturelle Liebesgeschichte zwischen einer ivorischen Frau (Nina Mélo) von der Elfenbeinküste und einem chinesischen Teehausbesitzer (Chang Han) - ein faszinierendes, fast futuristisches Filmgemälde über ein friedliches und tolerantes Miteinander der Menschen. (Mehr dazu in meinem Artikel »Focus Afrika« vom 24. Februar 2024.)
Und auch Andreas Dresens Film "IN LIEBE, HILDE", ein Drama aus der NS-Zeit über die Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« und die stille, zähe Kämpferin Hilde Kopi hätte einen Preis verdient. Einer der wenigen Filme aus dieser Zeit, die auf Hakenkreuze, große Aufmärsche und die gängigen NS-Klischee-Kinobilder verzichten und dicht bei den Menschen das Drama von Verhaftung und Tod erzählen.
Eine Ära geht zu Ende - nach fünf Jahren war es die letzte Berlinale unter der Leitung des Duos Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian.
Wie diese Entscheidung zu Stande kam, ist nicht gerade rühmlich. Nachdem die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek im letzten Jahr ihren Ausstieg für 2025 verkündet hatte, wurde Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter ebenfalls geschasst. Trotz prominenter Proteste in der internationalen Filmszene, allen voran Martin Scorsese.
Dieser Eklat war im Programm der 74. Berlinale nicht zu spüren - ein vielseitiges Wettbewerbsprogramm, unterschiedliche Genre vom gesellschaftskritischen Essay, über filmische Ausflüge in exotische Regionen, Science-Fiction, Thriller, bis zum Historienfilm. Bekannte Namen und interessante Newcomer, die in der Filmszene bereits einen Ruf erworben haben.
Auch bei der 74. Berlinale stand die Filmkunst deutlich im Vordergrund, ohne dass die Stars auf dem roten Teppich gefehlt hätten. Ein Höhepunkt: Martin Scorcese und die Verleihung des goldenen Ehrenbären an den großen Filmmeister, aber auch Stars wie Matt Damon, Kristen Stewart, Adam Sandler, Sharon Stone und Isabelle Huppert kamen nach Berlin.
Der Ruf der Berlinale als größtes Publikumsfestival hat sich wieder bestätigt, 270.000 Tickets wurden bis zum Festivalmittwoch verkauft, die Auslastung lag bei 90 Prozent, auch dieses Jahr strömten die Besucher wieder ins Kino, Zahlen wie vor der Pandemie. Die Begeisterung des Publikums für das Festival ist ungebrochen.
Grund für Zuversicht bei der neuen Leiterin der Berlinale Tricia Tuttlle, die fünf Jahre sehr erfolgreich das London Filmfestival geführt hat. Sie übernimmt im April und große Erwartungen stehen für 2025 im Raum, u.a. eine breitere Filmauswahl im Wettbewerb, noch mehr Glanz und Glamour auf dem roten Teppich.
Auch Tuttle wird mit den strukturellen Problemen des Festivals zu kämpfen haben, denn der frühe Termin der Berlinale im Februar kurz vor der Verleihung der Oscars bleibt ein Problem. Die wichtigen US-Filme samt Prominenz werden kurz vor dem bedeutendsten Ereignis der amerikanischen, ja der globalen Filmbranche von der Berlinale fernbleiben, um dann lieber im Mai oder September nach Cannes oder nach Venedig zu reisen.
Dazu kommt der Sparzwang der Berlinale, Sponsoren ziehen sich zurück und auch das Problem des Standorts und der Spielstätten stehen im Raum. Mit dem Umzug des Filmhaus Arsenal fehlt dem Potsdamer Platz ein wichtiger Berlinale-Player, zudem werden die Veranstaltungsorte des Festivals in der Stadt dezentraler. 2025 ist auch das letzte Jahr für den Berlinale Palast am Potsdamer Platz.
Dennoch, das Geschäft geht weiter und ein Wechsel bringt auf jeden Fall neue, frische Impulse und Veränderungen. Es wird spannend mit der neuen Chefin Tricia Tuttle - ich blicke mit viel Vorfreude auf das 75. Jubiläum der Berlinale.
Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)
Wenn Interesse geweckt wurde, senden Sie bitte Ihre aussagekräftigen und vollständigen Bewerbungsunterlagen spätestens bis zum 10.03.2024 (per Mail Eingangsdatum bzw. Poststempel) im PDF-Format als eine Datei an:
bewerbungen@deutsche-kinemathek.de
Jobbeschreibung Projektmanager*in (m/w/d):
Die Bereiche internationale und nationale Programme umfassen eine Reihe unterschiedlichster Weiterbildungsprojekte und Veranstaltungen für die deutsche und europäische Medienbranche, mit dem Schwerpunkt Bewegtbild. Dazu gehören halbtägige Online-Seminare, mehrtägige Präsenzworkshops, vorproduzierte Online-Kurse und Konferenzen für eine breite Zielgruppe Filmschaffender. Autor:*innen, Produzent*innen, Line Producer, drehende Gewerke, Fachanwält*innen, Legal Counsel und Executives gehören genauso dazu wie Quereinsteigende.
Für unsere Teams suchen wir ab sofort Verstärkung im Projektmanagement internationale und nationale Programme in Vollzeit oder Teilzeit, zunächst befristet für ein Jahr. Eine Verlängerung wird angestrebt.
Sende uns Deine schriftliche und aussagekräftige Bewerbung (unter Angabe Deiner Gehaltsvorstellung, der gewünschten Wochenstundenzahl und des möglichen Starttermins) schnellstmöglich und bis spätestens 01.03.2024.
Das Bewerbungsformular gibt es hier
Bei Fragen erreichst Du Maleen Harten unter +49 (0) 331-76 99 15-08 oder über jobs@epi.media.
Studentische Mitarbeiter*in (m/w/d) im Bereich Studiengangsmanagement
Der berufsbegleitende Weiterbildungsmaster Digital Media Law and Management LL.M. | MBA ist ein Studienangebot der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF und der Universität Potsdam. Wir als EPI fungieren in dieser Konstellation als verwaltendes Organ. Dies beinhaltet die Planung, Vor- und Nachbereitung sowie Durchführung der Block-Lehrveranstaltungen sowie das Begleiten der Studierenden von der Einschreibung bis hin zu ihrem Abschluss.
Zur Verstärkung unseres Teams suchen wir ab sofort eine*n studentische*n Mitarbeitenden (m/w/d) im Studiengangsmanagement für 15-20 Stunden pro Woche, zunächst befristet auf ein Jahr. Eine Verlängerung wird angestrebt.
Sende uns Deine schriftliche und aussagekräftige Bewerbung bitte mit dem möglichen Starttermin bis zum 15.03.2024 zu.
Das Bewerbungsformular gibt es hier
Bei Fragen erreichst Du Maleen Harten unter +49 (0) 331-76 99 15-08 oder über jobs@epi.media.
Ulrikes Filmkritik:
Jonathan Glazer zeigt den spießigen Familienalltag des Auschwitz-Kommandeurs Rudolf Höß, einem Mörder und Familienvater und seiner Frau Hedwig.
Glazers Film ist ein besonders eindrückliches Werk, vom ersten Augenblick an. Die Leinwand ist schwarz, dunkle wummernde Klänge füllen das Kino, in weißer Schrift erscheint der Titel. Langsam wehen die Buchstaben davon. Es ist wieder stockdunkel und das Wummern ist wieder laut.
Raum und Zeit verschwimmen miteinander. Eine endlose Treppe, Höß versucht im Treppenhaus zu kotzen. Er ist betrunken. Cut.
Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau reinigen eines der Krematorien. Hinter Glas sieht man einen Riesenberg von Schuhen. Der Film führt in das Interessengebiet des KZ Auschwitz, so nannte die SS das Sperrgebiet um das Vernichtungslager im deutsch besetzten Polen.
Vogelgezwitscher, eine Familie beim Bad im Fluss. Es sind Rudolf Höß (Christian Friedel) und seine Frau Hedwig (Sandra Hüller) und ihre fünf Kinder. Als ein Gewitter naht, begeben sie sich zum Auto und fahren nach Hause in ihr privates Reich, eine schmucke Villa mit einem großen Garten voller Blumen und Gemüse, Hedwigs ganzer Stolz.
Die Gartenmauer, an der die Pflanzen hochranken grenzt ihr Paradies von der Hölle des Konzentrationslagers Auschwitz, wo ihr Mann jeden Tag die Vernichtung Tausender Menschen beaufsichtigt. Der Wachturm, der hinter dem Grundstück emporragt, die unsichtbaren Deportationszüge, deren Rauch in die Luft steigt, der nächtliche Feuerschein der Öfen, überhaupt das Grauen von nebenan, wird nicht wahrgenommen, zumindest tut man so, denn man ja lebt ja nicht schlecht und ist wer.
Die Schüsse, die Schreien und das ständige dumpfe Brodeln der Leichenverbrennungen vernimmt nur das Publikum im Kino. Die Familie führt ungeniert ein bürgerliches Leben, während einen Steinwurf weiter gemordet wird. In der Ferne undefinierbare Geräusche, die nur mit einem gewissen Vorwissen zu entschlüsseln sind. Da die Kamera von Lukas Zial auf Distanz von den Figuren geht ist das Ganze besonders unerträglich und erfüllt einen mit Schaudern. Es gibt eine Szene, in der die Kamera einem Häftling seitlich folgt, als der KZ-Insasse mit einer Schublade voller Kleidungsstücke Ermordeter über den Gartenweg rollt.
Hedwig verschenkt etwas Unterwäsche an das polnische Hauspersonal, sie selbst schlüpft vorm Spiegel in einen Pelzmantel aus der Fuhre, dreht und wendet sich, bemerkt, dass der Mantel noch gereinigt werden muss. Besonders perfide, denn sie weiß nicht, ob die Person, der der Mantel gehörte, gerade verbrannt wird oder kurz davorsteht oder schon in einem Massengrab liegt. Hygiene und Sauberkeit werden im Hause Höß ganz großgeschrieben.
Rudolf nennt mich die Königin von Auschwitz erzählt Hedwig ihrer Mutter, die aus Berlin angereist ist und über den „Paradiesgarten“ ihrer Tochter staunt. Rudolf regt sich darüber auf, wenn Leute Blüten abrupfen, weil dann die armen Pflanzen ausbluten, sagt der, der sich das Blut von seinen Stiefeln von einem Angestellten abwischen lässt. In einigen Szenen wird über das Morden gesprochen. Als ein Ingenieur Höß die Funktionsweise eines neuen Krematoriums erklärt, spricht er nicht von Menschen, sondern von Brennmaterial.
Offene Gewalt wird hier nicht gezeigt, was Glazers Film noch unerträglicher macht. Die Höß', ein ungerührtes Paar zum absoluten Fremdschämen. Zwei entmenschlichte Wesen. Spießig bürgerlich mit einem pervers freundlichen Familienvater.
Glazers Meisterwerk zeigt einen Zeitlupenblick in den Abgrund. Eine Familie deren Wohlstand auf dem Mord an Juden beruht. Durch Schreie und Geräusche ist das Grauen präsent.
VÖLKISCHES GEDANKENGUT DARF NIEMALS WIEDER ZU EINER REALEN MACHT FÜHREN.
Ulrike Schirm
Dune 2 setzt die Geschichte von Paul Atreides nahtlos fort, die Denis Villeneuve 2021 mit der Verfilmung von Frank Herberts Roman begann. Im Bündnis mit den einheimischen Fremen versucht der junge Herzog Paul Atreides (Timothée Chalamet) die Harkonnen-Herrschaft auf dem Wüstenplaneten zu beenden. Der Film endet nach einem Zweikampf mit einem großen Schlachtengemälde, deutet aber unmissverständlich an, dass die Saga mit „Dune Messiah“ demnächst weiter fortgesetzt wird.
Technisch hat sich im Vergleich zu George Lucas' Kino-Franchise "Star Wars", zu deutsch "Krieg der Sterne", inzwischen viel getan. Zwar wird im Gegensatz zu "Avatar" - außer in IMAX-Kinos - auf 3D verzichtet, aber mit einem perfektioniertem Dolby Atmos System in ausgesuchten Filmtheatern - wie dem Zoo Palast in Berlin - ist das räumliche Kinogefühl des Blockbusters dennoch vorhanden.
Paul will seinen Vater rächen und die Harkonnen um Baron Vladimir (Stellan Skarsgård) sowie den im Hintergrund die Strippen ziehenden Imperator (Christopher Walken) zu Fall bringen. Er und seine Mutter Jessica (Rebecca Ferguson) haben inzwischen Zuflucht bei dem Volk der Fremen Zuflucht gefunden. Verliebt in Chani (Zendaya) teilt Pauls deren Ansicht, dass es sich bei der Prophezeiung, er sei der erhoffte Messias, der das Volk vor den Harkonnen retten wird, um eine konstruierte Geschichte handelt, die nur erzählt wird, um ihr freiheitsliebendes Volk zu kontrollieren.
Dennoch wird er sich nicht dem ihm vorgezeichneten Schicksal widersetzen, sondern tut er alles, um als siegreicher Held dazustehen. Dazu gehört mit dem Ritt auf einem der gefährlichen Sandwürmer des Wüstenplaneten Arraki, ein festes Ritual, das auch er - ebenso wie den Trank des giftigen Spice - meistern muss, bevor der Heilige Krieg beginnen kann.
W.F.
Ulrikes ausführliche Filmkritik:
Als Vorlage dient ein Buch, das immer als unverfilmbar galt. Anfänglich fällt es schwer, alles unter einen Hut zu kriegen. “Dune 2“ zeigt eine komplexe Welt. Regisseur Denis Villeneuve sagt in einem Interview, dass er es genossen hat, ein eigenes Universum zu erschaffen und so musste er unbedingt einen zweiten Teil drehen, der komplexer ist als „Dune 1“. Ein interessantes System eines fiktiven Planeten, der sich trotzdem real anfühlt
Die Fans von Timothée Chalamet werden ihre Freude daran haben ihn in der Rolle als Prinz Paul Atreides wiederzusehen. War er im ersten Teil noch leicht verspielt, ist er nun erwachsener geworden. Der Verlust seines Vaters und Freunden haben ihm zugesetzt. Einmal ist da die Liebe zu der Kriegerin Chani (Zendaya), dann die Ränkespiele seiner Mutter Lady Jessica (Rebecca Ferguson), die unbedingt will, dass er Imperator wird und seine Bestimmung als Erlöser. „Part Two“ geht da weiter, wo „Part One“ aufgehört hat. Er hat jetzt mehr Rache und Vernichtung im Kopf.
Er sucht ein neues Zuhause bei dem Wüstenvolk der Fremen, wo Paul und seine Mutter hingeflohen sind, nach der Eroberung ihrer Heimat durch Vladimir Harkonnen, der Paul endlich töten will (Stellan Sskarsgard), deren Anführer Stilgar (Javier Bardem ) ist und der sich an die Seite von Paul stellt und mit ihm gegen die Harkonnen kämpft, und dann ist auch noch sein tot geglaubter Mentor und Kampftrainer Guerey Halleck (Josh Brolin) dabei.
Zur Erinnerung: (Für die Fremen ist Paul ihr Messias). Was sie nicht wissen, ist, dass dieser Mythos vom weiblichen Orden der Bene Gesserit, zu denen Jessica gehört, erfunden wurde, um Macht im Universum zu erlangen.
Paul ist geplagt von Visionen einer schrecklichen Zukunft, macht aber mit, um Arrakis zurückzuerobern. Mit allen Mitteln muss er versuchen, eine schreckliche Zukunft zu verhindern, die nur er vorhersehen kann. Das bedeutet, dass er sich dem Herrscher des Universums (Christopher Walken), der die Macht behalten will und dessen Schergen, zu denen ein glatzköpfiger Psychopath gehört, der sich nimmt, was er will, angesiedelt in einer kalten Szenerie und von Austin Butler wunderbar abstoßend interpretiert wird. Man kann es so sagen, jede Figur hat eine wichtige Bedeutung. Aus Paul Atreides wird Paul Muad`Dib, dieselbe Person aber erwachsener.
Hinzugekommen sind neue Charaktere, wie Prinzessin Irulan Corrino ( Florence Pugh), wird Teil der Ränkespiele um die Macht, Lady Margot Feuring Léa Seydoux), ist als Spionin unterwegs, man weiß aber nicht genau gegen wen, beide etwas oberflächlich und dann der Knaller Feyd Routha-Harkonnen (Austin Butler) der Elvis gespielt hat.
Am eindrucksvollsten sind natürlich die gigantischen Bilder. Die Wüste mit ihrem gleißenden Licht, die Sandwürmer, kleine, große, dicke und lange, überwältigende Kostüme, das unterschiedliche Raumschiffdesign, große Schaukämpfe, sowie die grandiose Innenarchitektur und die Musik von Hans Zimmer, die ihr Übriges tut.
Besonders berührend, der verantwortungsvolle Umgang mit jedem Tropfen Wasser und dem wichtigen Spice, der Droge im Sand von Arrakis.
Die Dreharbeiten fanden teilweise bei Temperaturen in Jordanien und Abu Dhabi bei über 40 Grad statt. Eine Tortur für alle Beteiligten.
Ulrike Schirm
Unsere queere Filmempfehlung:
Joe (Khalil Ben Gharbia) ist 17 Jahre alt und müsste nur noch für kurze Zeit eine Strafe in einer Jugendstrafanstalt absitzen. Bald kann er dem Knast den Rücken kehren. Gleichzeitig ist er jedoch nervös, denn er weiß nicht genau, welches Leben er außerhalb der Gefängnismauern eigentlich führen soll.
Doch als Neuzugang William (Julien de Saint Jean) die Nachbarzelle bezieht, wird Joes Sehnsucht nach Freiheit durch ein anderes Begehren abgelöst, das bisher unbekannte Gefühle zutage bringt. Mit wachsender Begierde umkreisen sich die beiden jungen Sträflinge – bis sich die Chance auf eine gemeinsame Flucht bietet …
Freiheit heißt in diesem Drama vor allem Freiheit der Leidenschaft! In den Hauptrollen sind mit Khalil Gharbia („Peter von Kant“) und Julien de Saint Jean (aus „Hör auf zu lügen“) zwei Shooting Stars des französischen Kinos zu sehen.
Der Debütfilm des belgischen Regisseurs Zeno Graton verfolgt die Irrungen und Wirrungen einer Leidenschaft zwischen zwei jungen Männern, die für ihre Liebe im wahrsten Sinne des Wortes Mauern sprengen müssen, um auch seelische Freiheit von der abgeriegelten Welt hinter Gitterstäben zu erlangen.
Nach seinem Ausbruchsversuch steht für den 17-Jährigen Joe fest, sein eigenes Leben führen zu wollen und keinesfalls zu seiner Mutter zurückzukehren.
W.F.
"Unabhängig von unseren eigenen politischen Ansichten und Überzeugungen sollten wir alle bedenken, dass die Meinungsfreiheit ein entscheidender Teil davon ist, was Demokratie ausmacht", schrieben Chatrian und Berlinale-Programmchef Mark Peranson auf Instagram.
"Da hätte es eine ganz andere und bessere Vorbereitung geben müssen", sagte Roth gegenüber "Spiegel online". Das betreffe den Umgang mit entsprechenden Aussagen der Filmschaffenden.
Angelikas Filmkritik:
Ungewöhnlich: Der »Goldene Bär« ging in diesem Jahr erneut an einen Dokumentarfilm, nachdem bereits im letzten Jahr mit „Sur l’Adamant“ ('Auf der Adamant') von Nicolas Philibert eine französische Dokumentation über eine schwimmende Tagesklinik für Erwachsene mit psychischen Störungen als bester Film ausgezeichnet worden war.
Als am letzten Sonnabend, den 24. Februar 2024, die „Berliner Bären“ im Berlinale Palast verliehen wurden, ging der »Goldene Bär« erstaunlicherweise an den nur 67 Minuten langen Dokumentarfilm mit dem Titel „Dahomey“, ein Film, der allerdings Hoffnungen macht.
Dieser relativ kurze Film, den die 41-jährige afro-französische Regisseurin Mati Diop gedreht hat, handelt von einem bedeutsamen Problem, das in Berlin auch schon jahrelang diskutiert wird. Es geht nämlich um die Rückgabe von Benin-Bronzen: Um sogenannte „Beutekunst“, die im Zeitalter der Kolonisation Afrikas damals nach Europa und in die USA verkauft wurde. — Allein in Deutschland gibt es mehr als 1000 Objekte in diversen Museen. Und die meisten davon in Berlin.
Die Benin-Bronzen sind eine Ansammlung von mehreren tausend Kunstwerken, überwiegend Reliefs und Skulpturen aus Bronze oder Messing, aber auch Werke aus Elfenbein, Koralle und Holz, die seit dem 16. Jahrhundert den Königspalast des Königreichs Benin schmückten und zeitweise, beziehungsweise teilweise, auch eine wichtige zeremonielle Bedeutung hatten. Sie gelten als einer der bedeutendsten Kunstschätze Afrikas und beeinflussten in Europa auch die Malerei der klassischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Neben ihrer großen kunsthistorischen Bedeutung spielen die Benin-Bronzen aber auch eine wichtige Rolle in der internationalen Diskussion…
Die Artefakte, darunter Statuen, Schmuck, Zepter und ein Thron, hat die französische Armee nach den blutigen Kämpfen im Jahr 1892 in Zuge der Eroberung des westafrikanischen Landes nach Frankreich gebracht.
Der westafrikanische Staat, der 1960 unabhängig wurde, kämpft seit Jahren für die Rückgabe der Werke. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron löste jüngst ein Versprechen aus dem Jahr 2018 ein, die geraubten Objekte zurückzugeben.
In Mati Diops Film, der dieses Versprechen illustriert, sind es 26 übermenschlich groß wirkenden königliche Statuen des Königreichs DAHOMEY aus den Jahren 1890 — 1892, die den Zuschauer verblüffen, weil sie erstaunlicherweise weitaus größer erscheinen als der Durchschnitt der Menschen.
Sie wurden vor der Rückkehr in ihr Herkunftsland Benin durch das Pariser Museum für außereuropäische Kunst „Quai Branly — Jacques Chirac“ noch ein letztes Mal ausgestellt.
Danach werden sie im Film für die Rückreise von Paris nach Afrika sehr sorgfältig in mehrere durchsichtige luftgefüllte Plastik-Hüllen verpackt und dann übervorsichtig mit Hilfe von Kränen in Flugzeuge verladen. Die von der künstlichen Beleuchtung angestrahlten Verhüllungen geben den Figuren seltsamerweise den Anschein von noch mehr übermenschlicher Kraft und Großmächtigkeit.
Laut Schätzungen befinden sich aber immer noch 85% bis 90% des afrikanischen Kultur-Erbes weiterhin in Europa. Auch wenn schon im Dezember 2022 weitere Bronzen, ebenfalls in einem feierlichen Staatsakt von Außenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth in der nigerianischen Hauptstadt Abuja an Nigeria übergeben wurden.
Im Mai 2023 wurde bekannt, dass (leider ?) das Eigentumsrecht an den bereits von Präsident Buhari übergebenen Bronzen genau an das jetzige Oberhaupt der damals für Sklavenjagd verantwortlichen königlichen Familie übereignet worden war.
Dennoch macht „Dahomey“, dieser relativ kurze Film, der 41-jährigen französischen Regisseurin Mati Diop dennoch die Hoffnung, dass die Vorherrschaft von Europa sich dem Ende zuneigt.
Angelika Kettelhack
Angelikas Filmkritik:
Was selten passiert: Publikum und Kritiker konnten sich ausnahmsweise mal einigen auf den zu Herzen gehenden Film aus dem Iran: "KEYKE MAHBOOBE MAN" (My Favorite Cake - Mein liebster Kuchen). Bei einem Glas Weißwein integrierten sich die beiden Haupt-Darsteller Lily Farhadpour und Esmail Mehrabi aus dem Iran wie zwei alte Bekannte ins Publikum und ließen sich wie selten selbstverständlich von vielen der im Saal anwesenden Menschen kurz umarmen. Die Preisverleihung machte so den Eindruck einer gelungenen Familien-Feier.
Mit diesem Film wagen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha einen erstaunlichen Film gegen die gängigen Verhaltensmaßregeln der iranischen Regierung. Die im Film alleinlebende 70-jährige Mahin, die sich auf Kaffe-Kränzchen mit gleichaltrigen und ebenfalls alleinstehenden Freundinnen immer wieder die angeberischen und selbstverständlich erfundenen und erlogenen Liebes-Erlebnisse mit den Herren der Schöpfung anhören muss, beschließt ihren einsamen Alltag zu verändern.
Nämlich ihre langweiligen Alters-Spaziergänge und Alters-Beschäftigungen aufzugeben und allein etwas zu unternehmen — und somit für Frauen im Iran ungewöhnliche und eigentlich verbotene Initiativen zu wagen.
So geht sie allein in ein Restaurant essen, in dem zum Beispiel viele Taxifahrer kurz Ihre Mittagspause verbringen, weil es sich nicht lohnt über Mittag zum Essen nach Hause zu fahren.
Dort sucht sie sich einen der Anwesenden aus von dem sie aus den lauten Gesprächen über die Tische hinweg erfahren hat, dass er alleinstehend ist. Natürlich bucht sie für sich genau dessen Taxe und verwickelt den ziemlich scheuen, aber freundlichen Mann in Gespräche, die für Frauen im Iran sich eigentlich nicht ziemen. Sie schafft es, diesen einsamen Mann in ihr Zuhause mitzunehmen. Dort verwöhnt sie ihn stundenlang durch immer neu gebackenen Kuchen-Kreationen… und durch unmäßig viele Gläser des im Iran verbotenen Alkohols.
Die beiden einsamen alten Leute verstehen sich prächtig… Nur leider ist der Taxifahrer überhaupt keinen Alkohol-Genuss gewöhnt. Das Ende der Geschichte wird hier in dieser Film-Besprechung absichtlich nicht erwähnt. Auf jeden Fall geht es in „My Favorite Cake“ um einen herzerwärmenden Film, der im Iran ganz sicherlich verboten sein wird — es sei denn man geht dort mit alten Frauen vorsichtiger und zaghafter um als mit den jungen Frauen, die sich gegen Regeln auflehnen und zum Beispiel nicht auf den Sitz ihrer Haare aufpassen.
Angelika Kettelhack
Reginas Filmkritik:
Der Dokumentarfilm "DAHOMEY" der franco-senegalesischen Regisseurin Mata Diop thematisiert die Rückgabe der von Frankreich geraubten Kunstschätze an Westafrika, 26 Statuen kehren zurück nach Benin. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Statue des König Gezo, dem Oberhaupt des einstigen Königreiches Benin. Ein wichtiger Film, der thematisiert, dass der Kunstraub bis heute tiefe Lücken in das kulturelle Gedächtnis des Landes gerissen hat.
Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)
Reginas Filmkritik:
Regisseur Abderrahmane Sissako erzählt die transkulturelle Liebesgeschichte zwischen einer ivorischen Frau (Nina Melo‘) von der Elfenbeinküste und einem chinesischen Teehausbesitzer – ein faszinierendes, fast futuristisches Filmgemälde über ein friedliches und tolerantes Miteinander der Menschen
Am Anfang steht eine Hochzeit, viele Paare warten darauf, sich das Jawort zu geben. So auch Aya und ihr Verlobter, doch im entscheidenden Augenblick sagt Aya „Nein“! Cut.
Sprung in eine andere Welt: wir sehen die Protagonistin Aya (faszinierend gespielt von Nina Velo‘) in einem neuen Leben in der chinesischen Hafenstadt Guangzhou.
Der in Mauretanien geborene Regisseur Abderrahmane Sissako gilt als einer der bekanntesten Filmschaffenden aus dem subsaharischen Afrika. Migration und die Folgen der Kolonialisierung – das sind seine Themen. Er ist zum ersten Mal auf der Berlinale, seine Filme REISE INS GLÜCK (2002) und TIMBUKTU (2014) liefen in Cannes.
Sissakos Erzählperspektive unterscheidet sich von vielen seiner afrikanischen Regiekollegen durch die Art, wie er auf die Welt schaut. Es geht ihm um Begegnung und Austausch der Kulturen untereinander und um Annäherung, weniger um die konkrete Darstellung von Migration und ihren Gründen. Sein Film BLACK TEA ist ein Plädoyer für ein friedliches Miteinander.
Seine Aya lebt im sogenannten Chocolate City, einem Stadtteil Guangzhous, in dem sich viele afrikanische Einwanderer niedergelassen haben. Dort arbeitet sie in einem Teeladen bei dem chinesischen Besitzer Cai. (Chang Han).
Sehr vorsichtig nähern sich die beiden an, er weiht sie ein in die Kunst der Teezeremonie, nimmt sie mit auf die Teeplantagen, die Begegnung der beiden ist getragen von Respekt, Behutsamkeit und viel Sinnlichkeit. Sanfte, oft wie zufällige Berührungen, mehr passiert nicht und drückt in seiner Intensität doch so viel mehr aus als viele gängige Liebesszenen. Diese geheimnisvolle Sinnlichkeit erinnert an das Kino von Wong Kar- Wai, an Filme wie IN THE MOOD FOR LOVE.(2000)
Viele Szenen spielen am Abend, eine fast unwirkliche Welt in warmes Licht getaucht, langsame, bisweilen fast zeitlupenartige Bewegungen – ein verträumter, märchenhafter Kosmos, den Sissako entwirft.
Diese Welt hat etwas Magisches, die schwarzen Bewohner von Chocolate City sprechen perfekt chinesisch, untereinander verständigen sie sich in ihren Heimatsprachen. Es gibt Bekanntschaften, ja Freundschaften zwischen Chinesen und Afrikanern. Diskriminierung und Rassismus, die natürlich existent sind, thematisiert der Film nur gelegentlich in den Gesprächen der afrikanischen Einwanderer untereinander. Doch im Vordergrund steht der gemeinsame Wille, friedlich und harmonisch miteinander zu leben. Nur in einer Szene äußert der Vater von Cai bittere Vorurteile gegenüber den schwarzen Mitbewohnern und wird sofort von seinem Enkel zurechtgewiesen.
Den Film konnte Sissako vor allem mit finanzieller Unterstützung aus Luxemburg und Frankreich verwirklichen, weitere Partner sind Mauretanien und Taiwan. Das erklärt auch, warum Sissako zwar in Chocolate-City recherchiert hat, der Film aber in Taiwan gedreht wurde.
„Afrikanische Filmemacher müssen weitaus größere Klippen überwinden als ihre Kollegen aus den USA, Europa und Asien“ sagt Sissako beim Panel des WCF zum Thema Afrika.
„Es gibt keine Filmindustrie, folglich haben wir weniger Techniker“. Auch das schwache Vertriebsnetz in Afrika ist ein großes Problem, in den meisten afrikanischen Ländern gibt es kaum Kinos, weil viele verkauft wurden, um Einkaufszentren zu errichten. Viele Filmemacher wenden sich Serien zu, die wirtschaftlich leichter zu realisieren sind und die die Menschen auf ihrem Fernsehbildschirmen sehen können“, sagt Sissako. Er hat nach dem Erfolg seines Films TIMBUKTU, der 2015 mit dem Cäsar für die beste Regie ausgezeichnet wurde, lange keinen Film gemacht.
Nach fast 10 Jahren Pause erblickt jetzt sein neues Werk BLACK TEA auf der Berlinale das Licht der Leinwand. Die Meinungen über den Film sind erstaunlich divergent. Was einige als unrealistische, kitschige Romanze bezeichnen, ist für andere ein visionäres und wichtiges Filmwerk und ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit. Die Schauspieler im Film spielen auf Mandarin, französisch, englisch und portugiesisch. Sissakos Anliegen war es, so sagte er auf der Pressekonferenz, die „Realität der Welt zu zeigen. Wenn Afrikaner nach China gehen, lernen sie chinesisch und wenn Chinesen in Afrika Handel treiben, lernen sie Woolf oder Swahili.
Für mich ist BLACK TEA ein herausragendes Werk mit einer globalen Botschaft: wenn Menschen aus verschiedenen Kulturen aufeinander zugehen, Unterschiede zur Bereicherung werden, Toleranz an erster Stelle steht, gibt es dann eine Chance die globalen Konflikte zu mildern? Was bleibt uns sonst in dieser durch Kriege und Krisen gezeichneten Welt.
Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)
Reginas Fikmkritik:
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, den eigenen Weg finden, trotz einer unsicheren Gegenwart – das sind die Themen vieler Jugendfilme auf der Berlinale in der Reihe Generation 14plus.
Auch in DISCO AFRIKA: une histoire Malagache (DISCO AFRIKA: eine malagassische Geschichte) geht es um die Suche nach Antworten und die Kraft, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Der Film von Luck Razanajaona spielt in Madagaskar, der zweitgrößten Insel der Welt an der Ostküste des afrikanischen Kontinents – eines der ärmsten Länder der Erde.
Durch die Augen des 20jährigen Kwame (Parista Sambo) wirft das Werk einen Blick auf die madagassische Gesellschaft, auf ein korruptes Land, gezeichnet durch jahrzehntelange Krisen und Perspektivlosigkeit.
Kwame schürft in geheimen Minen auf Madagaskar Saphire, ein mühsames und gefährliches Geschäft. Bei einem illegalen Einsatz verliert er seinen Freund. Kurz danach wird das Land verkauft, alle Minenarbeiter entlassen und vertrieben.
Zurück in seiner Heimatstadt erlebt er, wie die zügellose Korruption den Alltag beherrscht und die Menschen müde und mürbe gemacht hat. Die Hoffnungen auf einen Neuanfangs während des Befreiungskrieges in den 70iger Jahren sind weit weg.
Kwame lebt wieder bei seiner Mutter, nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters ist sie allein.
Der Film spielt in der Gegenwart, doch über die Geschichte des Vaters führt uns Regisseur Luck Razanajaona in die panafrikanische Freiheitsbewegung der 70iger, einer Zeit, in der sich der Kampf um Unabhängigkeit auch kulturell formierte und sich in der Kunst und der Musik fortsetzte.
Als Kwame vier Jahre alt war, wurde sein Vater bei einem der politischen Aufstände gegen die korrupte Regierung erschossen und in einem Massengrab verscharrt. Es gibt keine letzte Ruhestätte zur Erinnerung für die Nachfahren. Kwames Vater war Musiker in einer erfolgreichen madagassischen Disco Musik Band. Als Kwame eine Platte seines Vaters aus den 70iger Jahren hört, taucht er über die Musik in die Vergangenheit ein und kommt seinem Vater näher.
Mit Kwames persönlicher Geschichte verhandelt DISCO AFRIKA auch das Erbe des Kolonialismus und die Geschichte des Widerstands.
Er wolle die zyklischen Krisen Madagaskars zeigen, sagt Razanajaona.
„Alle 10 Jahre passieren die gleichen Dinge Die Aufstände führen zum Scheitern, die Armut wird immer greifbarer. Die Jahre der Unabhängigkeit, der Hoffnungen auf Veränderung waren gescheitert, vielleicht liegt es also an den jungen Menschen, ein wenig Hoffnung auf Veränderung zurückzuholen.“
In seiner Heimatstadt trifft Kwame alte Bekannte wieder, unter ihnen einen Schulfreund, der tief in illegale Machenschaften verwickelt ist und ihm anbietet, bei ihm einzusteigen.
DISCO AFRIKA zeigt seinen Protagonisten als einen Suchenden. Ein junger Mann, im Zwiespalt zwischen Kriminalität und der Loyalität sich selbst und der Gesellschaft gegenüber – im Konflikt zwischen leicht verdientem Geld und seinem erwachenden politischen Bewusstsein, dem Wunsch, etwas zu ändern. Im Laufe der Zeit beginnt Kwame sich immer mehr mit der Vergangenheit seines Landes auseinanderzusetzen und reift darüber zu einem politisch denkenden Menschen.
Veränderung nicht durch erneute Kämpfe, sondern durch die Rückbesinnung auf das nationale Gedächtnis verbunden mit der Musik – das ist die Botschaft es Films.
Eine entscheidende Rolle im Film spielt auch der Totenkult in Madagaskar. Mehrmals erscheinen Kwame die Geister der Verstorbenen, sein toter Freund, sein Vater – nicht als beängstigende Gespenster, sondern als Mahnende, Botschaftsbringer. Die Message des Films: solange die Vergangenheit, die blutige Geschichte der Insel, die politischen Kämpfe und Morde nicht aufgearbeitet sind, wird es keine Zukunft für das Land geben.
Luck Razanajaona machte 2011 seinen Abschluss an der ESAV Filmschule in Marrakesch und entwickelte dann mehrere erfolgreiche, teils preisgekrönte Kurzfilme.
DISKO AFRIKA ist sein erster großer Spielfilm, der Stoff bewegte ihn schon lange. Er wollte einen Film machen über sein Land und über die Menschen, über die Rufe nach Reformen in den 70igern und die enttäuschten Hoffnungen, die Rückschläge, die Armut und die schwierige Situation der Jugend.
Ein gelungenes Debüt, mit einer intensiven, meist statischen Kamera in einem ruhigen Ton erzählt, so kann sich das Publikum gut auf den Film und die Erzählung einlassen. Die Darsteller sind fast alle Laienschauspieler.
Der Film besticht durch seine authentische Innenschau, er bringt uns die Menschen und das Land nah. Ein Werk, das so nur von einem Regisseur realisiert werden konnte, der von seinen eigenen Erfahrungen und seinem Heimatland erzählt.
Auf der Berlinale Premiere berichtet der Luck Razanajaona, dass es nur drei Kinos auf Madagaskar gibt, alle in der gleichnamigen Hauptstadt. Sie zeigen hauptsächlich Blockbuster aus den USA und einige Filme aus Frankreich. Sein Wunsch sei es, DISCO AFRIKA auch in seinem Heimatland zu zeigen, nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch auf dem Land, dort wo der Film entstand. DISCO AFRIKA wäre dann der erste Film in madagassicher Sprache, der in diesem Land gezeigt wird. Ich wünsche Luck Razanajaona, dass sein Wunsch Wirklichkeit wird.
Regina Roland (filmkritik-regina-roland.de)
Reginas Filmkritik:
Beim Anschauen mehrerer afrikanischer Filme ist mir eines klar geworden: man sollte sich verabschieden von der oftmals chronologischen, stringenten Erzählweise des europäischen Kinos und sich einlassen auf eine Filmwelt der assoziativen Bilder, der Traumsequenzen, der spontanen Rückblenden, auf visuelle Reisen in die Innenwelt der Protagonisten.
Viele Filme sind ein expressives Zusammenspiel von Erzählung, Stil, Bildausschnitt und Sound. Und das kann berauschend sein oder auch verwirren, ein Beispiel dafür ist DEMBA.
Nach seinem erfolgreichen Debüt BAAMUM NAFI, das beim Filmfest Locarno 2019 den Preis für den besten Erstlingsfilm bekam, präsentiert Regisseur Mamadou Dia auf der Berlinale seinen neuen Film aus seiner Heimat dem Senegal: DEMBA.
Diesmal erzählt er von einem Mann, der vor zwei Jahren seine geliebte Frau verlor und zudem feststellen muss, dass er auch auf seiner Arbeit nicht mehr gebraucht wird. Nach 30 Jahren als Registrator in der Aktenabteilung des Rathauses steht Demba kurz vor der Pensionierung. Sein Schreibtisch wurde schon einmal auf den Flur geschoben, ein junger Nachfolger steht parat, ein Kenner der digitalen Welt.
Demba ist ein Film über Trauer und Verlust – und es ist ein Film über den Mikrokosmos Matam, einer kleinen Stadt am Ufer des Flusses Senegal, der das westafrikanische Land vom benachbarten Mauretanien trennt. Es ist auch die Geschichte von Vater und Sohn, die sich wiederfinden, und eine Geschichte über die Bürokratie in Senegal.
In losen, bisweilen sprunghaften Episoden erzählt Mamadou die Story. Als sich der zweite Todestag seiner Frau Awa jährt, wird Demba immer seltsamer. Stur und jähzornig verschließt er sich gegenüber der Gemeinschaft des kleinen Dorfes und den Freunden, die ihn dazu drängen, Hilfe zu suchen und loszulassen. Das Verhältnis zu seinem fast erwachsenen Sohn ist auf null.
Mit seinem neuen Film kehrt Regisseur Mamadou Dia an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurück, in seine Heimatstadt Matam im Senegal. DEMBA, so sagt Dia, der inzwischen in den USA lebt und an der University oft Virginia Filmemachen unterrichtet, sei für ihn ein höchst persönlicher Film. Der frühe Tod seiner Mutter, ein Trauma, das er viele Jahre nicht aufgearbeitet hatte, habe ihn zu diesem Film inspiriert, ein Auslöser, sich mit dem Thema Trauer und Verlust zu beschäftigen. Er erinnere sich, wie die Gemeinschaft zu ihm, seinen Geschwistern und seiner Großmutter gekommen sei, als sie ihre Mutter verloren.
Mamadou Dia führt aus:
„Der Tod ist in der senegalesischen Kultur kein Tabu. Die Menschen reden darüber, erkennen ihn an und stellen sich ihm. Wenn wir über psychische Gesundheit sprechen, sprechen wir meistens über die westliche Sichtweise der Behandlung. Und wir vergessen, dass es Gemeinschaften auf der Welt gibt, die tausende und abertausende von Jahren Erfahrung damit haben, psychische Labilität und Depressionen zu heilen“.
Dia zeichnet das Porträt einer Gesellschaft und einer Gemeinschaft, die sich um den Trauernden kümmert und versucht, ihn aufzufangen, auch wenn Demba das zunächst unwillig ablehnt.
DEMBA erklärt die Spannung zwischen Kummer und Heilung, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung, Gesundheit und psychischen Problemen anhand der Figur eines Mannes im mittleren Alter.
„Die Idee entstand bei mir durch die grundsätzliche Frage: Wie kann eine Gesellschaft, die kein Wort für ,Depression', hat mit dem Phänomen umgehen?“, sagt Dia.
Das zeigt Mamadou Dia in seinem Film. Freunde ermutigen Demba, raten ihm, Hilfe zu suchen, man schickt ihn zu einer Art lokalem Therapeuten und Heiler. Nach einigen Irr – und Umwegen nimmt er wieder vorsichtig Verbindung zu den Menschen auf und öffnet sich, ein langsamer und mühevoller Weg. Allmählich kann er seine Trauer bewältigen, auch Vater und Sohn nähern sich wieder an.
Bei den Dreharbeiten bezog Mamadou Dia sein ganzes Heimatdorf mit ein: das baufällig wirkende Rathaus, das gleichzeitig als Versammlungsort dient, genauso wie die Häuser der Nachbarn und die Umgebung. Die meisten Schauspieler sind Laiendarsteller, Bewohner des Dorfes, die Hauptrolle des Demba spielt der ausdrucksstarke Ben Mahmoud Mbow, der auch schon im ersten Film von Dia mitwirkte.
In einer Filmsprache, die dicht bei den Menschen verweilt, aber genauso surreal die inneren Zustände verdeutlicht, erschließt sich ein Bild des Lebens im Dorf.
Am Ende steht ein großes Fest „Tajabone“. In farbenprächtigen Kostümen, Aufzügen und Tänzen wird der „Engel des Todes“ getäuscht, indem sich Frauen als Männer und Männer als Frauen verkleiden. Nach langem Zögern setzt sich auch Demba eine Frauenperücke auf, verlässt sein Haus und macht mit bei dem Festzug des Lebens.
Ein hoffnungsvolles Ende für Demba – ein Rausch der Bilder, Klänge und Farben und ein Ereignis für all diejenigen, die sich auf den assoziativen Bilderreigen des Films einlassen können.
Regina Roland: (filmkritik-regina-roland.de)